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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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rung des Innern in ihren Gewölbefeldern und besonders den polygonen
Theil des Grundriffes; aber auch in dieser Anwendung hat sie wesentlich
zusammenfassenden Charakter.

§. 570.

1.

Das einheitliche Leben des Ganzen als Rhythmus (§. 500) muß sich,
da es sich nicht in dem freien Flusse der individuellen Linie bewegen kann,
zunächst in einer um so strengeren Durchführung jener allgemeinen Grundlagen
alles individuellen Lebens (§. 558), erhoben zum bindenden Gesetze der Sym-
metrie
, geltend machen. Dieselbe ist als Gleichseitigkeit bei nur gedachtem
Mittelpuncte bloße Regelmäßigkeit; in ihrer wahren Bedeutung tritt sie
auf, wenn der Mittelpunct als ausgebildeter Körper zwei oder mehrere
gleiche Seiten beherrscht, und ihre reichste Form ist die gruppirte Symmetrie,
wo die sich gegenüberstehenden Seiten selbst wieder solche Mittelpuncte haben
2.(vergl. §. 265). Die Symmetrie entwichelt sich nothwendig in der Zwei- und
Dreizahl mit den aus ihr hervorgehenden Zahlfortschritten (vergl. §. 500, 2.);
dasselbe Zahlengesetz greift aber als Ausdruck des in der Symmetrie nicht er-
schöpften rhythmischen Lebens durch die Hauptmomente des Ganzen.

1. Die Gliederung (§. 569) ist noch nicht der Rhythmus, wie er
in §. 500 dargestellt ist. Er verhält sich zu ihr, wie der allgemeine
Lebensstrom zu den festen Formen im organischen Leibe: diese sind zwar
die Röhren, durch die er fließt, die Knotenpuncte, in denen er sich takt-
fest sammelt, allein die Bahn seiner Bewegung, sein Aushohlen, Aus-
athmen, sich Ansammeln, neues Ausströmen bis zum Schlußpuncte kann
und muß in der Betrachtung getrennt werden von den Fügungen der
Theile, durch die er sich bewegt. Wir haben erst ganz allgemein einen
Rhythmus der Verhältnisse und Linien in §. 557 gefordert und in §. 566
die ganze Composition als Rhythmusbildend gefaßt; der Begriff erhält aber
jetzt engern Sinn und bestimmt sich vorerst zum Gesetze der Symmetrie. In
den Künsten, die das individuelle Leben nachbilden, wird die rhythmische
Bewegung als ein Geist der Einheit auftreten, der als eine unberechen-
bare, freie Strömung Theile beherrscht, die entweder, wie im vorhin
gebrauchten Beispiele, zwar als Glieder an Form einander gleich sind,
doch nicht in abstract geometrischem Sinne und zudem durch ungleiche
Stellung unterschieden, oder überhaupt ungleich, wie in einer Landschaft,
einem Drama. Die Baukunst aber bildet ja nicht das individuelle Leben
im freien Spiele seiner Linien nach, sondern sie nimmt, wie dieß in
§. 558 gezeigt ist, nur die allgemeinen Grundlagen, welche als ver-
borgene Regel alles Leben binden, gleichsam das Knochengerüste aus dem
Fleische des Lebens oder aus dem wechselnden Geiste die zeitrechnenden

rung des Innern in ihren Gewölbefeldern und beſonders den polygonen
Theil des Grundriffes; aber auch in dieſer Anwendung hat ſie weſentlich
zuſammenfaſſenden Charakter.

§. 570.

1.

Das einheitliche Leben des Ganzen als Rhythmus (§. 500) muß ſich,
da es ſich nicht in dem freien Fluſſe der individuellen Linie bewegen kann,
zunächſt in einer um ſo ſtrengeren Durchführung jener allgemeinen Grundlagen
alles individuellen Lebens (§. 558), erhoben zum bindenden Geſetze der Sym-
metrie
, geltend machen. Dieſelbe iſt als Gleichſeitigkeit bei nur gedachtem
Mittelpuncte bloße Regelmäßigkeit; in ihrer wahren Bedeutung tritt ſie
auf, wenn der Mittelpunct als ausgebildeter Körper zwei oder mehrere
gleiche Seiten beherrſcht, und ihre reichſte Form iſt die gruppirte Symmetrie,
wo die ſich gegenüberſtehenden Seiten ſelbſt wieder ſolche Mittelpuncte haben
2.(vergl. §. 265). Die Symmetrie entwichelt ſich nothwendig in der Zwei- und
Dreizahl mit den aus ihr hervorgehenden Zahlfortſchritten (vergl. §. 500, 2.);
daſſelbe Zahlengeſetz greift aber als Ausdruck des in der Symmetrie nicht er-
ſchöpften rhythmiſchen Lebens durch die Hauptmomente des Ganzen.

1. Die Gliederung (§. 569) iſt noch nicht der Rhythmus, wie er
in §. 500 dargeſtellt iſt. Er verhält ſich zu ihr, wie der allgemeine
Lebensſtrom zu den feſten Formen im organiſchen Leibe: dieſe ſind zwar
die Röhren, durch die er fließt, die Knotenpuncte, in denen er ſich takt-
feſt ſammelt, allein die Bahn ſeiner Bewegung, ſein Aushohlen, Aus-
athmen, ſich Anſammeln, neues Ausſtrömen bis zum Schlußpuncte kann
und muß in der Betrachtung getrennt werden von den Fügungen der
Theile, durch die er ſich bewegt. Wir haben erſt ganz allgemein einen
Rhythmus der Verhältniſſe und Linien in §. 557 gefordert und in §. 566
die ganze Compoſition als Rhythmusbildend gefaßt; der Begriff erhält aber
jetzt engern Sinn und beſtimmt ſich vorerſt zum Geſetze der Symmetrie. In
den Künſten, die das individuelle Leben nachbilden, wird die rhythmiſche
Bewegung als ein Geiſt der Einheit auftreten, der als eine unberechen-
bare, freie Strömung Theile beherrſcht, die entweder, wie im vorhin
gebrauchten Beiſpiele, zwar als Glieder an Form einander gleich ſind,
doch nicht in abſtract geometriſchem Sinne und zudem durch ungleiche
Stellung unterſchieden, oder überhaupt ungleich, wie in einer Landſchaft,
einem Drama. Die Baukunſt aber bildet ja nicht das individuelle Leben
im freien Spiele ſeiner Linien nach, ſondern ſie nimmt, wie dieß in
§. 558 gezeigt iſt, nur die allgemeinen Grundlagen, welche als ver-
borgene Regel alles Leben binden, gleichſam das Knochengerüſte aus dem
Fleiſche des Lebens oder aus dem wechſelnden Geiſte die zeitrechnenden

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[232/0072] rung des Innern in ihren Gewölbefeldern und beſonders den polygonen Theil des Grundriffes; aber auch in dieſer Anwendung hat ſie weſentlich zuſammenfaſſenden Charakter. §. 570. Das einheitliche Leben des Ganzen als Rhythmus (§. 500) muß ſich, da es ſich nicht in dem freien Fluſſe der individuellen Linie bewegen kann, zunächſt in einer um ſo ſtrengeren Durchführung jener allgemeinen Grundlagen alles individuellen Lebens (§. 558), erhoben zum bindenden Geſetze der Sym- metrie, geltend machen. Dieſelbe iſt als Gleichſeitigkeit bei nur gedachtem Mittelpuncte bloße Regelmäßigkeit; in ihrer wahren Bedeutung tritt ſie auf, wenn der Mittelpunct als ausgebildeter Körper zwei oder mehrere gleiche Seiten beherrſcht, und ihre reichſte Form iſt die gruppirte Symmetrie, wo die ſich gegenüberſtehenden Seiten ſelbſt wieder ſolche Mittelpuncte haben (vergl. §. 265). Die Symmetrie entwichelt ſich nothwendig in der Zwei- und Dreizahl mit den aus ihr hervorgehenden Zahlfortſchritten (vergl. §. 500, 2.); daſſelbe Zahlengeſetz greift aber als Ausdruck des in der Symmetrie nicht er- ſchöpften rhythmiſchen Lebens durch die Hauptmomente des Ganzen. 1. Die Gliederung (§. 569) iſt noch nicht der Rhythmus, wie er in §. 500 dargeſtellt iſt. Er verhält ſich zu ihr, wie der allgemeine Lebensſtrom zu den feſten Formen im organiſchen Leibe: dieſe ſind zwar die Röhren, durch die er fließt, die Knotenpuncte, in denen er ſich takt- feſt ſammelt, allein die Bahn ſeiner Bewegung, ſein Aushohlen, Aus- athmen, ſich Anſammeln, neues Ausſtrömen bis zum Schlußpuncte kann und muß in der Betrachtung getrennt werden von den Fügungen der Theile, durch die er ſich bewegt. Wir haben erſt ganz allgemein einen Rhythmus der Verhältniſſe und Linien in §. 557 gefordert und in §. 566 die ganze Compoſition als Rhythmusbildend gefaßt; der Begriff erhält aber jetzt engern Sinn und beſtimmt ſich vorerſt zum Geſetze der Symmetrie. In den Künſten, die das individuelle Leben nachbilden, wird die rhythmiſche Bewegung als ein Geiſt der Einheit auftreten, der als eine unberechen- bare, freie Strömung Theile beherrſcht, die entweder, wie im vorhin gebrauchten Beiſpiele, zwar als Glieder an Form einander gleich ſind, doch nicht in abſtract geometriſchem Sinne und zudem durch ungleiche Stellung unterſchieden, oder überhaupt ungleich, wie in einer Landſchaft, einem Drama. Die Baukunſt aber bildet ja nicht das individuelle Leben im freien Spiele ſeiner Linien nach, ſondern ſie nimmt, wie dieß in §. 558 gezeigt iſt, nur die allgemeinen Grundlagen, welche als ver- borgene Regel alles Leben binden, gleichſam das Knochengerüſte aus dem Fleiſche des Lebens oder aus dem wechſelnden Geiſte die zeitrechnenden

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/72>, abgerufen am 28.03.2024.