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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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§. 573.

In unmerhlichem Uebergang setzen sich diese Formen in das eigentliche
Ornament fort, das mit dem Scheine structiver Dienstleistung, der den Glie-
dern eigen ist, nur in näherer oder entfernterer Erinnerung zusammenhängt und
im Wesentlichen ein spielendes Ausathmen dieser Scheinfunction darstellt. Be-
stimmter treten hier neben geometrischen, technischen vegetabilische, ja thierische
und menschliche Bildungen hervor und in ihnen liegt die tiefere Bedeutung, daß
die abstracten Formen der Baukunst auch die Grundlagen des organischen Le-
bensgeheimnisses enthalten (vergl. §. 558). Endlich blüht das innere Leben
in den Schmuch der Farbe aus. Das architektonische Gesetz verlangt aber für
jene organischen Formen strenggemessene Stylistrung, für die Farbe, daß sie die
reine Wirkung der Gliederung im Großen und Kleinen nicht verdecke, sondern
ausspreche; sonst entstehen unstatthafte Uebertragungen der einen Art der Phan-
taste in die andere (vergl. §. 532--541).

Wir haben gesehen, daß die Formen, die wir in und mit den Glie-
dern zusammenfaßten, zum Theil noch wirklich fungiren, insgesammt aber
wenigstens noch den Schein tragen, als seien sie durch eine structive
Kraftwirkung motivirt. Bötticher nun bestimmt das Ornament dahin, daß
es die Function der Kernform durch ein analoges, aus der Natur (oder
mechanischen Welt) entlehntes Schema symbolisch charakterisire; da er aber
bei sämmtlichen Gliedern ein solches Analogon (Blätter, Stickereien u. s. w.)
als ursprüngliches Motiv ihrer ganzen Gestalt annimmt, so fällt hier
der Unterschied von Glied und Ornament weg und kann Solches, was
wir entschieden bloßes Ornament nennen, wie die Blumenformen der
Akroterien, in Einem Zuge mit jenen Formen, die wir Glieder nennen,
aufgeführt werden; jene Akroterien wie die First- und Stirn-Ziegel mit
ihren Blumen erscheinen dann einfach als frei beendende decorative Glie-
der. Wir dagegen glauben solche Formen, wie die letzteren, von jenen
Ausschwellungen und Bändern, welche, obwohl nur in freiem Scheine,
noch als Wirkungen structiver Nothwendigkeit sich darstellen, unterscheiden
zu müssen; aber auch so bleibt die Grenze allerdings schwankend. Wohin
ist z. B. am dorischen Gebälke die regula und via mit den Tropfen zu
stellen? Kündigt jene das Triglyphon als Stütze des Regenableitenden
Geison (Dachgesimses) an, charakterisirt dieses nur die vorspringende
Richtung des letztern, wie Bötticher annimmt, so dienen doch beide weit
nicht ebenso dem ästhetischen Ausdrucke des Scheins einer wirklichen Function,
wie die Welle, der Wulst, die Bänder, und nicht anders verhält es sich
bei der Deutung aus Reminiscenzen des Holzbaus (Dielenköpfe, Ver-
zahnung des Deckbalkens), denn dieser Nachklang wäre ja bloßes Spiel

§. 573.

In unmerhlichem Uebergang ſetzen ſich dieſe Formen in das eigentliche
Ornament fort, das mit dem Scheine ſtructiver Dienſtleiſtung, der den Glie-
dern eigen iſt, nur in näherer oder entfernterer Erinnerung zuſammenhängt und
im Weſentlichen ein ſpielendes Ausathmen dieſer Scheinfunction darſtellt. Be-
ſtimmter treten hier neben geometriſchen, techniſchen vegetabiliſche, ja thieriſche
und menſchliche Bildungen hervor und in ihnen liegt die tiefere Bedeutung, daß
die abſtracten Formen der Baukunſt auch die Grundlagen des organiſchen Le-
bensgeheimniſſes enthalten (vergl. §. 558). Endlich blüht das innere Leben
in den Schmuch der Farbe aus. Das architektoniſche Geſetz verlangt aber für
jene organiſchen Formen ſtrenggemeſſene Styliſtrung, für die Farbe, daß ſie die
reine Wirkung der Gliederung im Großen und Kleinen nicht verdecke, ſondern
ausſpreche; ſonſt entſtehen unſtatthafte Uebertragungen der einen Art der Phan-
taſte in die andere (vergl. §. 532—541).

Wir haben geſehen, daß die Formen, die wir in und mit den Glie-
dern zuſammenfaßten, zum Theil noch wirklich fungiren, insgeſammt aber
wenigſtens noch den Schein tragen, als ſeien ſie durch eine ſtructive
Kraftwirkung motivirt. Bötticher nun beſtimmt das Ornament dahin, daß
es die Function der Kernform durch ein analoges, aus der Natur (oder
mechaniſchen Welt) entlehntes Schema ſymboliſch charakteriſire; da er aber
bei ſämmtlichen Gliedern ein ſolches Analogon (Blätter, Stickereien u. ſ. w.)
als urſprüngliches Motiv ihrer ganzen Geſtalt annimmt, ſo fällt hier
der Unterſchied von Glied und Ornament weg und kann Solches, was
wir entſchieden bloßes Ornament nennen, wie die Blumenformen der
Akroterien, in Einem Zuge mit jenen Formen, die wir Glieder nennen,
aufgeführt werden; jene Akroterien wie die Firſt- und Stirn-Ziegel mit
ihren Blumen erſcheinen dann einfach als frei beendende decorative Glie-
der. Wir dagegen glauben ſolche Formen, wie die letzteren, von jenen
Ausſchwellungen und Bändern, welche, obwohl nur in freiem Scheine,
noch als Wirkungen ſtructiver Nothwendigkeit ſich darſtellen, unterſcheiden
zu müſſen; aber auch ſo bleibt die Grenze allerdings ſchwankend. Wohin
iſt z. B. am doriſchen Gebälke die regula und via mit den Tropfen zu
ſtellen? Kündigt jene das Triglyphon als Stütze des Regenableitenden
Geiſon (Dachgeſimſes) an, charakteriſirt dieſes nur die vorſpringende
Richtung des letztern, wie Bötticher annimmt, ſo dienen doch beide weit
nicht ebenſo dem äſthetiſchen Ausdrucke des Scheins einer wirklichen Function,
wie die Welle, der Wulſt, die Bänder, und nicht anders verhält es ſich
bei der Deutung aus Reminiſcenzen des Holzbaus (Dielenköpfe, Ver-
zahnung des Deckbalkens), denn dieſer Nachklang wäre ja bloßes Spiel

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[245/0085] §. 573. In unmerhlichem Uebergang ſetzen ſich dieſe Formen in das eigentliche Ornament fort, das mit dem Scheine ſtructiver Dienſtleiſtung, der den Glie- dern eigen iſt, nur in näherer oder entfernterer Erinnerung zuſammenhängt und im Weſentlichen ein ſpielendes Ausathmen dieſer Scheinfunction darſtellt. Be- ſtimmter treten hier neben geometriſchen, techniſchen vegetabiliſche, ja thieriſche und menſchliche Bildungen hervor und in ihnen liegt die tiefere Bedeutung, daß die abſtracten Formen der Baukunſt auch die Grundlagen des organiſchen Le- bensgeheimniſſes enthalten (vergl. §. 558). Endlich blüht das innere Leben in den Schmuch der Farbe aus. Das architektoniſche Geſetz verlangt aber für jene organiſchen Formen ſtrenggemeſſene Styliſtrung, für die Farbe, daß ſie die reine Wirkung der Gliederung im Großen und Kleinen nicht verdecke, ſondern ausſpreche; ſonſt entſtehen unſtatthafte Uebertragungen der einen Art der Phan- taſte in die andere (vergl. §. 532—541). Wir haben geſehen, daß die Formen, die wir in und mit den Glie- dern zuſammenfaßten, zum Theil noch wirklich fungiren, insgeſammt aber wenigſtens noch den Schein tragen, als ſeien ſie durch eine ſtructive Kraftwirkung motivirt. Bötticher nun beſtimmt das Ornament dahin, daß es die Function der Kernform durch ein analoges, aus der Natur (oder mechaniſchen Welt) entlehntes Schema ſymboliſch charakteriſire; da er aber bei ſämmtlichen Gliedern ein ſolches Analogon (Blätter, Stickereien u. ſ. w.) als urſprüngliches Motiv ihrer ganzen Geſtalt annimmt, ſo fällt hier der Unterſchied von Glied und Ornament weg und kann Solches, was wir entſchieden bloßes Ornament nennen, wie die Blumenformen der Akroterien, in Einem Zuge mit jenen Formen, die wir Glieder nennen, aufgeführt werden; jene Akroterien wie die Firſt- und Stirn-Ziegel mit ihren Blumen erſcheinen dann einfach als frei beendende decorative Glie- der. Wir dagegen glauben ſolche Formen, wie die letzteren, von jenen Ausſchwellungen und Bändern, welche, obwohl nur in freiem Scheine, noch als Wirkungen ſtructiver Nothwendigkeit ſich darſtellen, unterſcheiden zu müſſen; aber auch ſo bleibt die Grenze allerdings ſchwankend. Wohin iſt z. B. am doriſchen Gebälke die regula und via mit den Tropfen zu ſtellen? Kündigt jene das Triglyphon als Stütze des Regenableitenden Geiſon (Dachgeſimſes) an, charakteriſirt dieſes nur die vorſpringende Richtung des letztern, wie Bötticher annimmt, ſo dienen doch beide weit nicht ebenſo dem äſthetiſchen Ausdrucke des Scheins einer wirklichen Function, wie die Welle, der Wulſt, die Bänder, und nicht anders verhält es ſich bei der Deutung aus Reminiſcenzen des Holzbaus (Dielenköpfe, Ver- zahnung des Deckbalkens), denn dieſer Nachklang wäre ja bloßes Spiel

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/85>, abgerufen am 29.03.2024.