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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Anderes aber war bei den Alten mit dem Unterrichts-Gebäude vereinigt,
was nun in der Abstraction unsres Lebens davon getrennt oder gar nicht
vorhanden ist, indem unserem Geschlecht und verknöcherten Staate kaum
die Erinnerung mehr geblieben ist, daß das Gymnasium und die Gymnastik
zusammenfallen: die Bau-Anlagen für die leibliche Erziehung, die Pa-
lästra, die Ring-, Lauf-, Schwimm-, Reitschule. Die Thermen können
wir damit zusammenfassen, die großen, umfassenden Bad-Anstalten, die
als arme Einzelheiten bei uns der Privatunternehmung anheimfallen,
während im Alterthum die gründliche reinigende Erfrischung und Durch-
knetung des Körpers Menschen- und Bürgerpflicht war, ein Edles, Ehr-
würdiges, dem Götter vorstanden. Selbst im Mittelalter hatte die geringste
Ortschaft ihre Badstube und es war nicht als möglich erkannt, daß der
Mensch seinen Körper zur dumpfen, rohen Maschine geistloser Zwecke
herabsinken lasse und in diesem Schmutze noch meine, seinem Gotte zu
gefallen. Zur geistigen. Erziehung und Bildung, zur Schule gehören
noch die Bibliotheken, die Räume für naturhistorische, technologische Samm-
lungen und die schon oben genannten Krankenhäuser, sofern sie wesentlich
dem Lehrzwecke bestimmt sind. -- An diese ganze Gebäude-Klasse reihen
sich nun die Räume für die Kunst, zunächst für den Kunstunterricht: die
Kunst-Akademie; an diese schließt sich der Bäu für die Sammlungen der
Werke bildender Kunst, alter und neuer: das Museum, die Pinakothek,
Glyptothek. Es versteht sich, daß die Kunst ihre eigene Würde durch die
Architektur feiern wird (Gebäude in München, Museum in Berlin). Nun
fehlen noch Bauwerke für die festliche Ausübung der Musik und die Dar-
stellung des dramatischen Kunstwerks: Odeen und Theater. In diesen
Räumen, wo die Grundempfindungen des nationalen und menschlichen
Lebens in Tönen erklingen, das erhöhte Bild der Welt durch die Mimik,
unterstützt durch Malerei und Musik, vor Auge und Ohr sich entfalten soll,
ist dem Architekten eine Aufgabe von um so größerer Bedeutung gestellt,
als hier offenbar ein neuer, höherer Kreis sich öffnet, zu dem wir im
nächsten §. übergehen: der Kreis der Gebäude für reinen ästhetischen Selbst-
genuß der innersten Seele des Nationallebens. Das Theater insbesondere
ist ein idealer Raum: das Ganze der Bühne und des Zuschauer-Raums
soll die Stimmung erregen, daß hier der reinste Auszug des Lebens in
einer Handlung sich aufrollt, und die Architektur hat dem entsprechend
einen Boden, eine Umschließung zu schaffen, wie wir sie uns vor-
stellen, wenn wir reine Menschheit, frei von allem Druck des gemeinen
Zufalls und Bedürfnisses uns in der edelsten äußern Umgebung denken.
Das moderne Theater ist wesentlich Innenbau, das antike zog als Außen-
bau die wirkliche Natur hinzu und suchte die herrlichsten Aussichten (Segest,
Taormina und andere). Das römische Amphitheater, für die roheren Spiele

Anderes aber war bei den Alten mit dem Unterrichts-Gebäude vereinigt,
was nun in der Abſtraction unſres Lebens davon getrennt oder gar nicht
vorhanden iſt, indem unſerem Geſchlecht und verknöcherten Staate kaum
die Erinnerung mehr geblieben iſt, daß das Gymnaſium und die Gymnaſtik
zuſammenfallen: die Bau-Anlagen für die leibliche Erziehung, die Pa-
läſtra, die Ring-, Lauf-, Schwimm-, Reitſchule. Die Thermen können
wir damit zuſammenfaſſen, die großen, umfaſſenden Bad-Anſtalten, die
als arme Einzelheiten bei uns der Privatunternehmung anheimfallen,
während im Alterthum die gründliche reinigende Erfriſchung und Durch-
knetung des Körpers Menſchen- und Bürgerpflicht war, ein Edles, Ehr-
würdiges, dem Götter vorſtanden. Selbſt im Mittelalter hatte die geringſte
Ortſchaft ihre Badſtube und es war nicht als möglich erkannt, daß der
Menſch ſeinen Körper zur dumpfen, rohen Maſchine geiſtloſer Zwecke
herabſinken laſſe und in dieſem Schmutze noch meine, ſeinem Gotte zu
gefallen. Zur geiſtigen. Erziehung und Bildung, zur Schule gehören
noch die Bibliotheken, die Räume für naturhiſtoriſche, technologiſche Samm-
lungen und die ſchon oben genannten Krankenhäuſer, ſofern ſie weſentlich
dem Lehrzwecke beſtimmt ſind. — An dieſe ganze Gebäude-Klaſſe reihen
ſich nun die Räume für die Kunſt, zunächſt für den Kunſtunterricht: die
Kunſt-Akademie; an dieſe ſchließt ſich der Bäu für die Sammlungen der
Werke bildender Kunſt, alter und neuer: das Muſeum, die Pinakothek,
Glyptothek. Es verſteht ſich, daß die Kunſt ihre eigene Würde durch die
Architektur feiern wird (Gebäude in München, Muſeum in Berlin). Nun
fehlen noch Bauwerke für die feſtliche Ausübung der Muſik und die Dar-
ſtellung des dramatiſchen Kunſtwerks: Odeen und Theater. In dieſen
Räumen, wo die Grundempfindungen des nationalen und menſchlichen
Lebens in Tönen erklingen, das erhöhte Bild der Welt durch die Mimik,
unterſtützt durch Malerei und Muſik, vor Auge und Ohr ſich entfalten ſoll,
iſt dem Architekten eine Aufgabe von um ſo größerer Bedeutung geſtellt,
als hier offenbar ein neuer, höherer Kreis ſich öffnet, zu dem wir im
nächſten §. übergehen: der Kreis der Gebäude für reinen äſthetiſchen Selbſt-
genuß der innerſten Seele des Nationallebens. Das Theater insbeſondere
iſt ein idealer Raum: das Ganze der Bühne und des Zuſchauer-Raums
ſoll die Stimmung erregen, daß hier der reinſte Auszug des Lebens in
einer Handlung ſich aufrollt, und die Architektur hat dem entſprechend
einen Boden, eine Umſchließung zu ſchaffen, wie wir ſie uns vor-
ſtellen, wenn wir reine Menſchheit, frei von allem Druck des gemeinen
Zufalls und Bedürfniſſes uns in der edelſten äußern Umgebung denken.
Das moderne Theater iſt weſentlich Innenbau, das antike zog als Außen-
bau die wirkliche Natur hinzu und ſuchte die herrlichſten Ausſichten (Segeſt,
Taormina und andere). Das römiſche Amphitheater, für die roheren Spiele

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[261/0101] Anderes aber war bei den Alten mit dem Unterrichts-Gebäude vereinigt, was nun in der Abſtraction unſres Lebens davon getrennt oder gar nicht vorhanden iſt, indem unſerem Geſchlecht und verknöcherten Staate kaum die Erinnerung mehr geblieben iſt, daß das Gymnaſium und die Gymnaſtik zuſammenfallen: die Bau-Anlagen für die leibliche Erziehung, die Pa- läſtra, die Ring-, Lauf-, Schwimm-, Reitſchule. Die Thermen können wir damit zuſammenfaſſen, die großen, umfaſſenden Bad-Anſtalten, die als arme Einzelheiten bei uns der Privatunternehmung anheimfallen, während im Alterthum die gründliche reinigende Erfriſchung und Durch- knetung des Körpers Menſchen- und Bürgerpflicht war, ein Edles, Ehr- würdiges, dem Götter vorſtanden. Selbſt im Mittelalter hatte die geringſte Ortſchaft ihre Badſtube und es war nicht als möglich erkannt, daß der Menſch ſeinen Körper zur dumpfen, rohen Maſchine geiſtloſer Zwecke herabſinken laſſe und in dieſem Schmutze noch meine, ſeinem Gotte zu gefallen. Zur geiſtigen. Erziehung und Bildung, zur Schule gehören noch die Bibliotheken, die Räume für naturhiſtoriſche, technologiſche Samm- lungen und die ſchon oben genannten Krankenhäuſer, ſofern ſie weſentlich dem Lehrzwecke beſtimmt ſind. — An dieſe ganze Gebäude-Klaſſe reihen ſich nun die Räume für die Kunſt, zunächſt für den Kunſtunterricht: die Kunſt-Akademie; an dieſe ſchließt ſich der Bäu für die Sammlungen der Werke bildender Kunſt, alter und neuer: das Muſeum, die Pinakothek, Glyptothek. Es verſteht ſich, daß die Kunſt ihre eigene Würde durch die Architektur feiern wird (Gebäude in München, Muſeum in Berlin). Nun fehlen noch Bauwerke für die feſtliche Ausübung der Muſik und die Dar- ſtellung des dramatiſchen Kunſtwerks: Odeen und Theater. In dieſen Räumen, wo die Grundempfindungen des nationalen und menſchlichen Lebens in Tönen erklingen, das erhöhte Bild der Welt durch die Mimik, unterſtützt durch Malerei und Muſik, vor Auge und Ohr ſich entfalten ſoll, iſt dem Architekten eine Aufgabe von um ſo größerer Bedeutung geſtellt, als hier offenbar ein neuer, höherer Kreis ſich öffnet, zu dem wir im nächſten §. übergehen: der Kreis der Gebäude für reinen äſthetiſchen Selbſt- genuß der innerſten Seele des Nationallebens. Das Theater insbeſondere iſt ein idealer Raum: das Ganze der Bühne und des Zuſchauer-Raums ſoll die Stimmung erregen, daß hier der reinſte Auszug des Lebens in einer Handlung ſich aufrollt, und die Architektur hat dem entſprechend einen Boden, eine Umſchließung zu ſchaffen, wie wir ſie uns vor- ſtellen, wenn wir reine Menſchheit, frei von allem Druck des gemeinen Zufalls und Bedürfniſſes uns in der edelſten äußern Umgebung denken. Das moderne Theater iſt weſentlich Innenbau, das antike zog als Außen- bau die wirkliche Natur hinzu und ſuchte die herrlichſten Ausſichten (Segeſt, Taormina und andere). Das römiſche Amphitheater, für die roheren Spiele

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/101>, abgerufen am 28.03.2024.