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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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der Natur dieser Anlagen begründet. Der weitere Raum, auf den wir
so eben hingewiesen, ist nun die Vorhalle: ein bedeckter, nur durch
kleine Oeffnungen beleuchteter vielsäuliger Saal (Oikos hypostylos oder
polystylos), vom Vorhofe aus durch eine Pforte zu betreten, denn er ist
nach dieser Seite zwar durch keine Wand, aber in den Zwischenweiten
der Säulen durch Brüstungen geschlossen. Die Formen der Säulen in
diesem dunkel majestätischen, ahnungsvoll spannenden Raume pflegen nach
Reihen abzuwechseln, auch ist die mittlere höher: eine perspectivisch ma-
lerische Neigung (vergl. Schnaase a. a. O. S. 402), die merkwürdig auf
das Mittelalter hinweist. Eigentlich wäre denn dieser Raum der Pronaos,
wenn auf ihn unmittelbar das Heiligthum folgte, aber dazwischen treten
nun noch weitere Räume: nämlich abermals eine, zuweilen vorhofähn-
liche, zuweilen ein weiteres hypostyles Gemach darstellende Vorhalle, dann
ein oder zwei Vorsäle ohne Säulen, und dann erst das Heiligthum.
Wenden wir nun auf diese Anlage den Begriff des Innen- oder Außen-
baus an, so scheint sie zunächst jenes, ist es auch in gewissem Sinne,
denn ganz durch eine Mauer eingefaßt, die andächtige Menge in ihre
Räume aufnehmend, schließt sie sich gegen das Aeußere ab und verkün-
digt ihre innere Schönheit nur durch die Facade der Pylonen. So ist
das orientalische, griechische, römische Wohnhaus ja ein Innenbau, weil
es alle seine Gemächer nach innen um einen Hof umherlegt, wo sich alle
architektonische Schönheit versammelt. Ueberdieß ist die bedeckte vielsäulige
Halle ein Haupttheil; dieser aber ist eben ganz Innenbau, er erinnert
auch durch die höhere Säulenreihe der Mitte an die gothische Kirche.
Allein dieß Alles ist ja nicht das Heiligthum selbst, die in diesen Vor-
räumen andächtig versammelte Gemeinde ist nicht im Tempel, kann und
darf nicht in dieß unverhältnißmäßig kleine Allerheiligste eintreten, sie ist
draußen. Also fast lauter Aeußeres mit wenig Innerem; dieß Aeußere
ist aber nicht das umgezogene Gewand, in dessen Formen das Innere
sich nach außen ausdrückt, es ist nicht umgelegt, sondern vorgelegt, neben
das Innere gesondert hingestellt, dem oberflächlich gegliederten Thiere
gleich, das seinen Magen an einem fadenartigen Darm nachschleppt.
Dieß nennen wir unentschiedenen Außenbau. Was übrigens das Unge-
messene betrifft, so ist es auch in der obigen Darstellung eines unbe-
stimmten Anreihungssystems noch nicht erschöpft: Sphinx-Alleen, Vorhöfe
können auch ganz fehlen, zwischen zwei Vorhöfe noch ein schmälerer,
alleenartiger sich fügen (wie im Tempel von Luxor), die Alleen und
Vorhöfe stehen auch, ein weiterer Ausdruck der Zusammenhangslosigkeit,
nicht nothwendig in gerader Linie.


der Natur dieſer Anlagen begründet. Der weitere Raum, auf den wir
ſo eben hingewieſen, iſt nun die Vorhalle: ein bedeckter, nur durch
kleine Oeffnungen beleuchteter vielſäuliger Saal (Oikos hypoſtylos oder
polyſtylos), vom Vorhofe aus durch eine Pforte zu betreten, denn er iſt
nach dieſer Seite zwar durch keine Wand, aber in den Zwiſchenweiten
der Säulen durch Brüſtungen geſchloſſen. Die Formen der Säulen in
dieſem dunkel majeſtätiſchen, ahnungsvoll ſpannenden Raume pflegen nach
Reihen abzuwechſeln, auch iſt die mittlere höher: eine perſpectiviſch ma-
leriſche Neigung (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 402), die merkwürdig auf
das Mittelalter hinweist. Eigentlich wäre denn dieſer Raum der Pronaos,
wenn auf ihn unmittelbar das Heiligthum folgte, aber dazwiſchen treten
nun noch weitere Räume: nämlich abermals eine, zuweilen vorhofähn-
liche, zuweilen ein weiteres hypoſtyles Gemach darſtellende Vorhalle, dann
ein oder zwei Vorſäle ohne Säulen, und dann erſt das Heiligthum.
Wenden wir nun auf dieſe Anlage den Begriff des Innen- oder Außen-
baus an, ſo ſcheint ſie zunächſt jenes, iſt es auch in gewiſſem Sinne,
denn ganz durch eine Mauer eingefaßt, die andächtige Menge in ihre
Räume aufnehmend, ſchließt ſie ſich gegen das Aeußere ab und verkün-
digt ihre innere Schönheit nur durch die Façade der Pylonen. So iſt
das orientaliſche, griechiſche, römiſche Wohnhaus ja ein Innenbau, weil
es alle ſeine Gemächer nach innen um einen Hof umherlegt, wo ſich alle
architektoniſche Schönheit verſammelt. Ueberdieß iſt die bedeckte vielſäulige
Halle ein Haupttheil; dieſer aber iſt eben ganz Innenbau, er erinnert
auch durch die höhere Säulenreihe der Mitte an die gothiſche Kirche.
Allein dieß Alles iſt ja nicht das Heiligthum ſelbſt, die in dieſen Vor-
räumen andächtig verſammelte Gemeinde iſt nicht im Tempel, kann und
darf nicht in dieß unverhältnißmäßig kleine Allerheiligſte eintreten, ſie iſt
draußen. Alſo faſt lauter Aeußeres mit wenig Innerem; dieß Aeußere
iſt aber nicht das umgezogene Gewand, in deſſen Formen das Innere
ſich nach außen ausdrückt, es iſt nicht umgelegt, ſondern vorgelegt, neben
das Innere geſondert hingeſtellt, dem oberflächlich gegliederten Thiere
gleich, das ſeinen Magen an einem fadenartigen Darm nachſchleppt.
Dieß nennen wir unentſchiedenen Außenbau. Was übrigens das Unge-
meſſene betrifft, ſo iſt es auch in der obigen Darſtellung eines unbe-
ſtimmten Anreihungsſyſtems noch nicht erſchöpft: Sphinx-Alleen, Vorhöfe
können auch ganz fehlen, zwiſchen zwei Vorhöfe noch ein ſchmälerer,
alleenartiger ſich fügen (wie im Tempel von Luxor), die Alleen und
Vorhöfe ſtehen auch, ein weiterer Ausdruck der Zuſammenhangsloſigkeit,
nicht nothwendig in gerader Linie.


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[283/0123] der Natur dieſer Anlagen begründet. Der weitere Raum, auf den wir ſo eben hingewieſen, iſt nun die Vorhalle: ein bedeckter, nur durch kleine Oeffnungen beleuchteter vielſäuliger Saal (Oikos hypoſtylos oder polyſtylos), vom Vorhofe aus durch eine Pforte zu betreten, denn er iſt nach dieſer Seite zwar durch keine Wand, aber in den Zwiſchenweiten der Säulen durch Brüſtungen geſchloſſen. Die Formen der Säulen in dieſem dunkel majeſtätiſchen, ahnungsvoll ſpannenden Raume pflegen nach Reihen abzuwechſeln, auch iſt die mittlere höher: eine perſpectiviſch ma- leriſche Neigung (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 402), die merkwürdig auf das Mittelalter hinweist. Eigentlich wäre denn dieſer Raum der Pronaos, wenn auf ihn unmittelbar das Heiligthum folgte, aber dazwiſchen treten nun noch weitere Räume: nämlich abermals eine, zuweilen vorhofähn- liche, zuweilen ein weiteres hypoſtyles Gemach darſtellende Vorhalle, dann ein oder zwei Vorſäle ohne Säulen, und dann erſt das Heiligthum. Wenden wir nun auf dieſe Anlage den Begriff des Innen- oder Außen- baus an, ſo ſcheint ſie zunächſt jenes, iſt es auch in gewiſſem Sinne, denn ganz durch eine Mauer eingefaßt, die andächtige Menge in ihre Räume aufnehmend, ſchließt ſie ſich gegen das Aeußere ab und verkün- digt ihre innere Schönheit nur durch die Façade der Pylonen. So iſt das orientaliſche, griechiſche, römiſche Wohnhaus ja ein Innenbau, weil es alle ſeine Gemächer nach innen um einen Hof umherlegt, wo ſich alle architektoniſche Schönheit verſammelt. Ueberdieß iſt die bedeckte vielſäulige Halle ein Haupttheil; dieſer aber iſt eben ganz Innenbau, er erinnert auch durch die höhere Säulenreihe der Mitte an die gothiſche Kirche. Allein dieß Alles iſt ja nicht das Heiligthum ſelbſt, die in dieſen Vor- räumen andächtig verſammelte Gemeinde iſt nicht im Tempel, kann und darf nicht in dieß unverhältnißmäßig kleine Allerheiligſte eintreten, ſie iſt draußen. Alſo faſt lauter Aeußeres mit wenig Innerem; dieß Aeußere iſt aber nicht das umgezogene Gewand, in deſſen Formen das Innere ſich nach außen ausdrückt, es iſt nicht umgelegt, ſondern vorgelegt, neben das Innere geſondert hingeſtellt, dem oberflächlich gegliederten Thiere gleich, das ſeinen Magen an einem fadenartigen Darm nachſchleppt. Dieß nennen wir unentſchiedenen Außenbau. Was übrigens das Unge- meſſene betrifft, ſo iſt es auch in der obigen Darſtellung eines unbe- ſtimmten Anreihungsſyſtems noch nicht erſchöpft: Sphinx-Alleen, Vorhöfe können auch ganz fehlen, zwiſchen zwei Vorhöfe noch ein ſchmälerer, alleenartiger ſich fügen (wie im Tempel von Luxor), die Alleen und Vorhöfe ſtehen auch, ein weiterer Ausdruck der Zuſammenhangsloſigkeit, nicht nothwendig in gerader Linie.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/123>, abgerufen am 19.04.2024.