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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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2. Die griechische Baukunst.
§. 583.

1.

Die griechische Phantasie (vgl. §. 434--441) macht zugleich mit der Sym-
bolik der falschen Selbständigkeit der Baukunst, dem Colossalen, dem Schwanken
zwischen Gemessenem und Ungemessenem, ebenso der Einseitigkeit in Beziehung
auf die Hauptrichtungen und Gegensätze, die zugleich Unentschiedenheit war,
ein Ende, und errichtet dem lichten Gotte sein mäßig großes, schön erhabenes
2.Haus. Diese Erzeugung des Schönen ist zugleich organische Umbildung der
orientalischen Elemente: der hohe Terrassenbau wird zu einem Unterbau von
wenigen Stufen herabgesetzt, die pyramidale Linie tritt als Giebeldach ab-
schließend über den, ebendarum nicht mehr einseitigen, Langbau der vier-
eckigen Tempelhalle, der Säulenhof wird, während die Prachtthare gesondert
vor den Hauptbau treten, von ihr als seinem Centrum an sich gezogen. Dieß
Säulenhaus mit Vor- und Hinterhalle ist ein klarer, aber nicht einseitiger
Außenbau.

1. Man vergl. die Darstellung der griechischen Phantasie, um die
geistigen Bedingungen, aus denen dieser Bau hervorgegangen, sich zum
lebendigen Bilde zu erheben. Durch die "Degradation" (Hegel) des blos
Symbolischen wird auch die Baukunst dem falsch Symbolischen entzogen
und auf die Symbolik, welche begriffsmäßig ihre Bestimmung ist (§. 561),
beschränkt. Damit ist auch die klare Trennung in ein Inneres und Aeus-
seres, der freie Zweckdienst der Baukunst (§. 555) da. Wir werden sehen,
wie dadurch die Verwirrung der Begriffe von Innen- und Außenbau
geschlichtet wird. Die Klarheit dieser Scheidung ist zugleich reine Ein-
führung des Qualitativen in das Quantitative: der Tempel soll durch
seine Form, nicht durch seine Masse wirken, er wird mäßig groß; 200'
äußere Länge, 90' Breite, 50' Höhe ausschließlich des Giebels ist das
ungefähre Maaß der größeren Tempel. Innerhalb des Erhabenen ist
dieser Bau durch die Reinheit der Messung, welche alles Ungemessene
aufzehrt, ruhig schön. Der Gott ist Person geworden, schöner Mensch;
das orientalische Dunkel ist in der Durchbildung des Symbols zum My-
thus erleuchtet. Ihm, dem klar gegenwärtigen, soll sein klares Haus
errichtet werden. Nirgends im Orient hat der Tempel diese Bedeu-
tung in ihrer Einfachheit gehabt: die Bedeutung des Hinantretens, der
Versammlung der Gemeinde, die nun aber doch nicht im eigentlichen
Heiligthum war, überwog in der architektonischen Darstellung immer das

2. Die griechiſche Baukunſt.
§. 583.

1.

Die griechiſche Phantaſie (vgl. §. 434—441) macht zugleich mit der Sym-
bolik der falſchen Selbſtändigkeit der Baukunſt, dem Coloſſalen, dem Schwanken
zwiſchen Gemeſſenem und Ungemeſſenem, ebenſo der Einſeitigkeit in Beziehung
auf die Hauptrichtungen und Gegenſätze, die zugleich Unentſchiedenheit war,
ein Ende, und errichtet dem lichten Gotte ſein mäßig großes, ſchön erhabenes
2.Haus. Dieſe Erzeugung des Schönen iſt zugleich organiſche Umbildung der
orientaliſchen Elemente: der hohe Terraſſenbau wird zu einem Unterbau von
wenigen Stufen herabgeſetzt, die pyramidale Linie tritt als Giebeldach ab-
ſchließend über den, ebendarum nicht mehr einſeitigen, Langbau der vier-
eckigen Tempelhalle, der Säulenhof wird, während die Prachtthare geſondert
vor den Hauptbau treten, von ihr als ſeinem Centrum an ſich gezogen. Dieß
Säulenhaus mit Vor- und Hinterhalle iſt ein klarer, aber nicht einſeitiger
Außenbau.

1. Man vergl. die Darſtellung der griechiſchen Phantaſie, um die
geiſtigen Bedingungen, aus denen dieſer Bau hervorgegangen, ſich zum
lebendigen Bilde zu erheben. Durch die „Degradation“ (Hegel) des blos
Symboliſchen wird auch die Baukunſt dem falſch Symboliſchen entzogen
und auf die Symbolik, welche begriffsmäßig ihre Beſtimmung iſt (§. 561),
beſchränkt. Damit iſt auch die klare Trennung in ein Inneres und Aeuſ-
ſeres, der freie Zweckdienſt der Baukunſt (§. 555) da. Wir werden ſehen,
wie dadurch die Verwirrung der Begriffe von Innen- und Außenbau
geſchlichtet wird. Die Klarheit dieſer Scheidung iſt zugleich reine Ein-
führung des Qualitativen in das Quantitative: der Tempel ſoll durch
ſeine Form, nicht durch ſeine Maſſe wirken, er wird mäßig groß; 200′
äußere Länge, 90′ Breite, 50′ Höhe ausſchließlich des Giebels iſt das
ungefähre Maaß der größeren Tempel. Innerhalb des Erhabenen iſt
dieſer Bau durch die Reinheit der Meſſung, welche alles Ungemeſſene
aufzehrt, ruhig ſchön. Der Gott iſt Perſon geworden, ſchöner Menſch;
das orientaliſche Dunkel iſt in der Durchbildung des Symbols zum My-
thus erleuchtet. Ihm, dem klar gegenwärtigen, ſoll ſein klares Haus
errichtet werden. Nirgends im Orient hat der Tempel dieſe Bedeu-
tung in ihrer Einfachheit gehabt: die Bedeutung des Hinantretens, der
Verſammlung der Gemeinde, die nun aber doch nicht im eigentlichen
Heiligthum war, überwog in der architektoniſchen Darſtellung immer das

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[284/0124] 2. Die griechiſche Baukunſt. §. 583. Die griechiſche Phantaſie (vgl. §. 434—441) macht zugleich mit der Sym- bolik der falſchen Selbſtändigkeit der Baukunſt, dem Coloſſalen, dem Schwanken zwiſchen Gemeſſenem und Ungemeſſenem, ebenſo der Einſeitigkeit in Beziehung auf die Hauptrichtungen und Gegenſätze, die zugleich Unentſchiedenheit war, ein Ende, und errichtet dem lichten Gotte ſein mäßig großes, ſchön erhabenes Haus. Dieſe Erzeugung des Schönen iſt zugleich organiſche Umbildung der orientaliſchen Elemente: der hohe Terraſſenbau wird zu einem Unterbau von wenigen Stufen herabgeſetzt, die pyramidale Linie tritt als Giebeldach ab- ſchließend über den, ebendarum nicht mehr einſeitigen, Langbau der vier- eckigen Tempelhalle, der Säulenhof wird, während die Prachtthare geſondert vor den Hauptbau treten, von ihr als ſeinem Centrum an ſich gezogen. Dieß Säulenhaus mit Vor- und Hinterhalle iſt ein klarer, aber nicht einſeitiger Außenbau. 1. Man vergl. die Darſtellung der griechiſchen Phantaſie, um die geiſtigen Bedingungen, aus denen dieſer Bau hervorgegangen, ſich zum lebendigen Bilde zu erheben. Durch die „Degradation“ (Hegel) des blos Symboliſchen wird auch die Baukunſt dem falſch Symboliſchen entzogen und auf die Symbolik, welche begriffsmäßig ihre Beſtimmung iſt (§. 561), beſchränkt. Damit iſt auch die klare Trennung in ein Inneres und Aeuſ- ſeres, der freie Zweckdienſt der Baukunſt (§. 555) da. Wir werden ſehen, wie dadurch die Verwirrung der Begriffe von Innen- und Außenbau geſchlichtet wird. Die Klarheit dieſer Scheidung iſt zugleich reine Ein- führung des Qualitativen in das Quantitative: der Tempel ſoll durch ſeine Form, nicht durch ſeine Maſſe wirken, er wird mäßig groß; 200′ äußere Länge, 90′ Breite, 50′ Höhe ausſchließlich des Giebels iſt das ungefähre Maaß der größeren Tempel. Innerhalb des Erhabenen iſt dieſer Bau durch die Reinheit der Meſſung, welche alles Ungemeſſene aufzehrt, ruhig ſchön. Der Gott iſt Perſon geworden, ſchöner Menſch; das orientaliſche Dunkel iſt in der Durchbildung des Symbols zum My- thus erleuchtet. Ihm, dem klar gegenwärtigen, ſoll ſein klares Haus errichtet werden. Nirgends im Orient hat der Tempel dieſe Bedeu- tung in ihrer Einfachheit gehabt: die Bedeutung des Hinantretens, der Verſammlung der Gemeinde, die nun aber doch nicht im eigentlichen Heiligthum war, überwog in der architektoniſchen Darſtellung immer das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/124>, abgerufen am 28.03.2024.