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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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in cyklopischen Thoren und dann in den runden Tholen, nach gewissen
Spuren zu schließen, bis zur eigentlichen Wölbung vorgedrungen zu sein,
ihre Erfinder aber sind diejenigen zu nennen, welche den unendlichen Vor-
theil, den diese Kunst gewährt, zuerst verstanden, benützt und sie demge-
mäß im Großen und bleibend angewandt haben; dieß sind die Etrusker
und von ihnen haben sie die Römer. Jener Vortheil besteht, wie schon
zu §. 562 gesagt ist, in der Freiheit von der zufälligen Vorfindung und
Brechung des Materials und daraus folgt sogleich der entscheidende Einfluß,
den diese Kunst auf die Bildung der Decke (vergl. 562, 1. 563), hiemit auf
die Linienverbindungen (vergl. §. 564), den Contrast und die Art seiner
Lösung (vergl. 568. 569) haben muß. Durch die sich selbst tragende
Spannung des Gewölbes kann nämlich ohne Nachhilfe einer Zwischenstütze
eine Breite und Länge überdeckt werden, so groß sie immer der praktische
und ästhetische Bauzweck fordern mag; es kommt nur darauf an, dem
Gewölbe ein Auflager zu geben, das dem senkrechten Drucke desselben und
der neuen nun eintretenden Wirkung der Last, dem Seitenschube, wider-
steht. Nimmt man aber die Zwischenstütze hinzu und organisirt mehrere
Gewölbe nebeneinander, so vermag man jeden Raum zu überspannen,
ohne doch die Bögen in's Uebergroße zu steigern; ein neues Gliederungs-
gesetz, eine Quelle von Schönheiten in allen Momenten der Composition
ist gewonnen; die Freiheit in der Ueberspannung beliebig großer Räume
ist zugleich Freiheit in der Form des Grundplans; Rundbau, Viereck,
Verbindung von Vierecken zur Gestalt des Kreuzes, Verbindung von
Rund- und Viereck-Bau: jedes Schema kann durch dieses Mittel über-
deckt werden und die technische Möglichkeit wird eben zum Motive reicher
neuer Schönheits-Entwicklung. Die Römer haben nun die Wölbung in
verschiedenen Formen ausgebildet: als einfachen Arkadenbogen, als Tonnen-
gewölbe für sich und in Verbindung mit diesem, als Nische (eine zur
reicheren Decoration der Wand bei ihnen sehr beliebte Form), als Rotunde
mit Kuppel, als Kreuzgewölbe, d. h. als Durcheinanderschiebung oder
Kreuzung zweier Tonnengewölbe. Sie haben sogar bereits die stetig
wirkende Last eines Kuppel-Gewölbes dadurch zu theilen gewußt, daß
sie es in Gurtbögen gliederten, zwischen denen die übrige Füllung
nun aus einem leichten Verschluß bestehen konnte (so Minerva Medica
vergl. Leibnitz D. struct. Element in d. Archit. S. 41); nur treten freilich
die Gurtbögen nicht als Glieder hervor, sondern bleiben versteckt und
dadurch ein Schritt von der größten Wichtigkeit, den wir bei der christ-
lichen Baukunst wieder aufzufassen haben, unentwickelt. Vergleichen wir
nun unter diesen verschiedenen Gewölbformen den kuppelbedeckten Rundbau
mit dem Kreuzgewölbe, so erscheint er, so imposant er auch, namentlich
im Pantheon, auftritt, doch neben diesem, in welchem ein an sich schon

in cyklopiſchen Thoren und dann in den runden Tholen, nach gewiſſen
Spuren zu ſchließen, bis zur eigentlichen Wölbung vorgedrungen zu ſein,
ihre Erfinder aber ſind diejenigen zu nennen, welche den unendlichen Vor-
theil, den dieſe Kunſt gewährt, zuerſt verſtanden, benützt und ſie demge-
mäß im Großen und bleibend angewandt haben; dieß ſind die Etruſker
und von ihnen haben ſie die Römer. Jener Vortheil beſteht, wie ſchon
zu §. 562 geſagt iſt, in der Freiheit von der zufälligen Vorfindung und
Brechung des Materials und daraus folgt ſogleich der entſcheidende Einfluß,
den dieſe Kunſt auf die Bildung der Decke (vergl. 562, 1. 563), hiemit auf
die Linienverbindungen (vergl. §. 564), den Contraſt und die Art ſeiner
Löſung (vergl. 568. 569) haben muß. Durch die ſich ſelbſt tragende
Spannung des Gewölbes kann nämlich ohne Nachhilfe einer Zwiſchenſtütze
eine Breite und Länge überdeckt werden, ſo groß ſie immer der praktiſche
und äſthetiſche Bauzweck fordern mag; es kommt nur darauf an, dem
Gewölbe ein Auflager zu geben, das dem ſenkrechten Drucke deſſelben und
der neuen nun eintretenden Wirkung der Laſt, dem Seitenſchube, wider-
ſteht. Nimmt man aber die Zwiſchenſtütze hinzu und organiſirt mehrere
Gewölbe nebeneinander, ſo vermag man jeden Raum zu überſpannen,
ohne doch die Bögen in’s Uebergroße zu ſteigern; ein neues Gliederungs-
geſetz, eine Quelle von Schönheiten in allen Momenten der Compoſition
iſt gewonnen; die Freiheit in der Ueberſpannung beliebig großer Räume
iſt zugleich Freiheit in der Form des Grundplans; Rundbau, Viereck,
Verbindung von Vierecken zur Geſtalt des Kreuzes, Verbindung von
Rund- und Viereck-Bau: jedes Schema kann durch dieſes Mittel über-
deckt werden und die techniſche Möglichkeit wird eben zum Motive reicher
neuer Schönheits-Entwicklung. Die Römer haben nun die Wölbung in
verſchiedenen Formen ausgebildet: als einfachen Arkadenbogen, als Tonnen-
gewölbe für ſich und in Verbindung mit dieſem, als Niſche (eine zur
reicheren Decoration der Wand bei ihnen ſehr beliebte Form), als Rotunde
mit Kuppel, als Kreuzgewölbe, d. h. als Durcheinanderſchiebung oder
Kreuzung zweier Tonnengewölbe. Sie haben ſogar bereits die ſtetig
wirkende Laſt eines Kuppel-Gewölbes dadurch zu theilen gewußt, daß
ſie es in Gurtbögen gliederten, zwiſchen denen die übrige Füllung
nun aus einem leichten Verſchluß beſtehen konnte (ſo Minerva Medica
vergl. Leibnitz D. ſtruct. Element in d. Archit. S. 41); nur treten freilich
die Gurtbögen nicht als Glieder hervor, ſondern bleiben verſteckt und
dadurch ein Schritt von der größten Wichtigkeit, den wir bei der chriſt-
lichen Baukunſt wieder aufzufaſſen haben, unentwickelt. Vergleichen wir
nun unter dieſen verſchiedenen Gewölbformen den kuppelbedeckten Rundbau
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[295/0135] in cyklopiſchen Thoren und dann in den runden Tholen, nach gewiſſen Spuren zu ſchließen, bis zur eigentlichen Wölbung vorgedrungen zu ſein, ihre Erfinder aber ſind diejenigen zu nennen, welche den unendlichen Vor- theil, den dieſe Kunſt gewährt, zuerſt verſtanden, benützt und ſie demge- mäß im Großen und bleibend angewandt haben; dieß ſind die Etruſker und von ihnen haben ſie die Römer. Jener Vortheil beſteht, wie ſchon zu §. 562 geſagt iſt, in der Freiheit von der zufälligen Vorfindung und Brechung des Materials und daraus folgt ſogleich der entſcheidende Einfluß, den dieſe Kunſt auf die Bildung der Decke (vergl. 562, 1. 563), hiemit auf die Linienverbindungen (vergl. §. 564), den Contraſt und die Art ſeiner Löſung (vergl. 568. 569) haben muß. Durch die ſich ſelbſt tragende Spannung des Gewölbes kann nämlich ohne Nachhilfe einer Zwiſchenſtütze eine Breite und Länge überdeckt werden, ſo groß ſie immer der praktiſche und äſthetiſche Bauzweck fordern mag; es kommt nur darauf an, dem Gewölbe ein Auflager zu geben, das dem ſenkrechten Drucke deſſelben und der neuen nun eintretenden Wirkung der Laſt, dem Seitenſchube, wider- ſteht. Nimmt man aber die Zwiſchenſtütze hinzu und organiſirt mehrere Gewölbe nebeneinander, ſo vermag man jeden Raum zu überſpannen, ohne doch die Bögen in’s Uebergroße zu ſteigern; ein neues Gliederungs- geſetz, eine Quelle von Schönheiten in allen Momenten der Compoſition iſt gewonnen; die Freiheit in der Ueberſpannung beliebig großer Räume iſt zugleich Freiheit in der Form des Grundplans; Rundbau, Viereck, Verbindung von Vierecken zur Geſtalt des Kreuzes, Verbindung von Rund- und Viereck-Bau: jedes Schema kann durch dieſes Mittel über- deckt werden und die techniſche Möglichkeit wird eben zum Motive reicher neuer Schönheits-Entwicklung. Die Römer haben nun die Wölbung in verſchiedenen Formen ausgebildet: als einfachen Arkadenbogen, als Tonnen- gewölbe für ſich und in Verbindung mit dieſem, als Niſche (eine zur reicheren Decoration der Wand bei ihnen ſehr beliebte Form), als Rotunde mit Kuppel, als Kreuzgewölbe, d. h. als Durcheinanderſchiebung oder Kreuzung zweier Tonnengewölbe. Sie haben ſogar bereits die ſtetig wirkende Laſt eines Kuppel-Gewölbes dadurch zu theilen gewußt, daß ſie es in Gurtbögen gliederten, zwiſchen denen die übrige Füllung nun aus einem leichten Verſchluß beſtehen konnte (ſo Minerva Medica vergl. Leibnitz D. ſtruct. Element in d. Archit. S. 41); nur treten freilich die Gurtbögen nicht als Glieder hervor, ſondern bleiben verſteckt und dadurch ein Schritt von der größten Wichtigkeit, den wir bei der chriſt- lichen Baukunſt wieder aufzufaſſen haben, unentwickelt. Vergleichen wir nun unter dieſen verſchiedenen Gewölbformen den kuppelbedeckten Rundbau mit dem Kreuzgewölbe, ſo erſcheint er, ſo impoſant er auch, namentlich im Pantheon, auftritt, doch neben dieſem, in welchem ein an ſich ſchon

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/135>, abgerufen am 25.04.2024.