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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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außer der neuen Form eines Innenbaus auch ein Streben in die
Höhe und zwar in der gegliederten Weise eines Aufsteigens in zwei Ab-
sätzen von verschiedener Breite, deren jeder seine eigene Bedachung hat.
In der christlichen Basilika nun sehen wir diesen Bau auf folgenden
Puncten weiter entwickelt. Die Säulen, in zwei oder vier Reihen ein
breiteres Mittelschiff von zwei oder vier Seitenschiffen abgrenzend, laufen
nicht mehr im Viereck um, sondern gehen der Länge nach ganz durch und
führen den Blick nach dem Altar hin, der am Ende des Mittelschiffs
(Hauptschiffs) steht. Nun ist die Frage, ob schon der römischen Basilika
für den Sitz des Richters an ihrem Ende eine halbkreisrunde Nische, die
Apsis, concha, tribunal (im christlichen Sprachgebrauch: Tribuna) angebaut
war; dieser Theil erhält jedenfalls in der christlichen Basilika als Sitz für
die Kleriker, vor welchem der Altar steht, eine so bestimmte neue Bedeutung,
daß wir uns bei der Erörterung jener Frage hier nicht aufzuhalten haben;
denn dahin, nach diesem geheiligten Raume (Sanctuarium), wo der Altar
steht und hinter ihm im Halbkreise die Verwalter des göttlichen Geheimnisses
sitzen, ist jetzt perspectivisch der Blick gelenkt: das Schiff erscheint als "die
geöffnete Bahn zum Tische des Herrn" (Schnaase a. a. O. B. III, S.
144); es ist dieß bereits ein Empfindungszug, der, dem Alterthum
fremd, nun in die Baukunst eintritt und ihr einen malerischen Charakter
gibt (vergl. §. 458). Eine später aufgegebene Anordnung, das Herein-
rücken des Raums für die Kleriker in das Hauptschiff durch das mit
Schranken umschlossene Presbyterium, fassen wir hier nicht näher in's Auge;
in der ausgebildeten Form gehört das ganze Schiff der Gemeinde. Das
größere Raumbedürfniß war es zunächst, was dem oblongen Raume
das Querschiff anfügte, das nun mit zwei Armen über das Langschiff
hervorzutreten begann und zwar nicht, wie man meint, die Form des
lateinischen Kreuzes mit Absicht nachbildete, wohl aber jene reichere Form
der Symmetrie (§. 570) einführte, worin die Längsrichtung in eine Be-
wegung nach zwei Seiten sich verästet. Die durchlaufende Mauer des
Querschiffs, in dessen Mitte nun der Altar stand und das wie ein eigenes
Haus für ihn erschien, mußte sich nach dem Langhaus hin öffnen und
nach dem Mittelschiff desselben geschah dieß durch einen hohen Bogen, dem
sogenannten Triumphbogen. Die Säulen der Schiffe trugen die höhere
Mauer des Mittelschiffs anfangs als geradlinig (architravisch) übergelegte
Last, dann aber mittelst Arkadenbögen. In diesen, sowie im Triumphbogen,
in der Tribune und den Fenstern haben wir vorerst den einzigen Ein-
tritt der runden Linie als Halbkreis, denn die Deckung war ursprünglich flach
und casettirt, nachher sprach ein offener Dachstuhl den primitiven Charakter
dieses urchristlichen Tempels aus. Jene Arkadenbögen aber verstärkten durch
ihre Bewegung von Säule zu Säule den hinleitenden, einladenden per-

außer der neuen Form eines Innenbaus auch ein Streben in die
Höhe und zwar in der gegliederten Weiſe eines Aufſteigens in zwei Ab-
ſätzen von verſchiedener Breite, deren jeder ſeine eigene Bedachung hat.
In der chriſtlichen Baſilika nun ſehen wir dieſen Bau auf folgenden
Puncten weiter entwickelt. Die Säulen, in zwei oder vier Reihen ein
breiteres Mittelſchiff von zwei oder vier Seitenſchiffen abgrenzend, laufen
nicht mehr im Viereck um, ſondern gehen der Länge nach ganz durch und
führen den Blick nach dem Altar hin, der am Ende des Mittelſchiffs
(Hauptſchiffs) ſteht. Nun iſt die Frage, ob ſchon der römiſchen Baſilika
für den Sitz des Richters an ihrem Ende eine halbkreisrunde Niſche, die
Apſis, concha, tribunal (im chriſtlichen Sprachgebrauch: Tribuna) angebaut
war; dieſer Theil erhält jedenfalls in der chriſtlichen Baſilika als Sitz für
die Kleriker, vor welchem der Altar ſteht, eine ſo beſtimmte neue Bedeutung,
daß wir uns bei der Erörterung jener Frage hier nicht aufzuhalten haben;
denn dahin, nach dieſem geheiligten Raume (Sanctuarium), wo der Altar
ſteht und hinter ihm im Halbkreiſe die Verwalter des göttlichen Geheimniſſes
ſitzen, iſt jetzt perſpectiviſch der Blick gelenkt: das Schiff erſcheint als „die
geöffnete Bahn zum Tiſche des Herrn“ (Schnaaſe a. a. O. B. III, S.
144); es iſt dieß bereits ein Empfindungszug, der, dem Alterthum
fremd, nun in die Baukunſt eintritt und ihr einen maleriſchen Charakter
gibt (vergl. §. 458). Eine ſpäter aufgegebene Anordnung, das Herein-
rücken des Raums für die Kleriker in das Hauptſchiff durch das mit
Schranken umſchloſſene Preſbyterium, faſſen wir hier nicht näher in’s Auge;
in der ausgebildeten Form gehört das ganze Schiff der Gemeinde. Das
größere Raumbedürfniß war es zunächſt, was dem oblongen Raume
das Querſchiff anfügte, das nun mit zwei Armen über das Langſchiff
hervorzutreten begann und zwar nicht, wie man meint, die Form des
lateiniſchen Kreuzes mit Abſicht nachbildete, wohl aber jene reichere Form
der Symmetrie (§. 570) einführte, worin die Längsrichtung in eine Be-
wegung nach zwei Seiten ſich veräſtet. Die durchlaufende Mauer des
Querſchiffs, in deſſen Mitte nun der Altar ſtand und das wie ein eigenes
Haus für ihn erſchien, mußte ſich nach dem Langhaus hin öffnen und
nach dem Mittelſchiff deſſelben geſchah dieß durch einen hohen Bogen, dem
ſogenannten Triumphbogen. Die Säulen der Schiffe trugen die höhere
Mauer des Mittelſchiffs anfangs als geradlinig (architraviſch) übergelegte
Laſt, dann aber mittelſt Arkadenbögen. In dieſen, ſowie im Triumphbogen,
in der Tribune und den Fenſtern haben wir vorerſt den einzigen Ein-
tritt der runden Linie als Halbkreis, denn die Deckung war urſprünglich flach
und caſettirt, nachher ſprach ein offener Dachſtuhl den primitiven Charakter
dieſes urchriſtlichen Tempels aus. Jene Arkadenbögen aber verſtärkten durch
ihre Bewegung von Säule zu Säule den hinleitenden, einladenden per-

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[299/0139] außer der neuen Form eines Innenbaus auch ein Streben in die Höhe und zwar in der gegliederten Weiſe eines Aufſteigens in zwei Ab- ſätzen von verſchiedener Breite, deren jeder ſeine eigene Bedachung hat. In der chriſtlichen Baſilika nun ſehen wir dieſen Bau auf folgenden Puncten weiter entwickelt. Die Säulen, in zwei oder vier Reihen ein breiteres Mittelſchiff von zwei oder vier Seitenſchiffen abgrenzend, laufen nicht mehr im Viereck um, ſondern gehen der Länge nach ganz durch und führen den Blick nach dem Altar hin, der am Ende des Mittelſchiffs (Hauptſchiffs) ſteht. Nun iſt die Frage, ob ſchon der römiſchen Baſilika für den Sitz des Richters an ihrem Ende eine halbkreisrunde Niſche, die Apſis, concha, tribunal (im chriſtlichen Sprachgebrauch: Tribuna) angebaut war; dieſer Theil erhält jedenfalls in der chriſtlichen Baſilika als Sitz für die Kleriker, vor welchem der Altar ſteht, eine ſo beſtimmte neue Bedeutung, daß wir uns bei der Erörterung jener Frage hier nicht aufzuhalten haben; denn dahin, nach dieſem geheiligten Raume (Sanctuarium), wo der Altar ſteht und hinter ihm im Halbkreiſe die Verwalter des göttlichen Geheimniſſes ſitzen, iſt jetzt perſpectiviſch der Blick gelenkt: das Schiff erſcheint als „die geöffnete Bahn zum Tiſche des Herrn“ (Schnaaſe a. a. O. B. III, S. 144); es iſt dieß bereits ein Empfindungszug, der, dem Alterthum fremd, nun in die Baukunſt eintritt und ihr einen maleriſchen Charakter gibt (vergl. §. 458). Eine ſpäter aufgegebene Anordnung, das Herein- rücken des Raums für die Kleriker in das Hauptſchiff durch das mit Schranken umſchloſſene Preſbyterium, faſſen wir hier nicht näher in’s Auge; in der ausgebildeten Form gehört das ganze Schiff der Gemeinde. Das größere Raumbedürfniß war es zunächſt, was dem oblongen Raume das Querſchiff anfügte, das nun mit zwei Armen über das Langſchiff hervorzutreten begann und zwar nicht, wie man meint, die Form des lateiniſchen Kreuzes mit Abſicht nachbildete, wohl aber jene reichere Form der Symmetrie (§. 570) einführte, worin die Längsrichtung in eine Be- wegung nach zwei Seiten ſich veräſtet. Die durchlaufende Mauer des Querſchiffs, in deſſen Mitte nun der Altar ſtand und das wie ein eigenes Haus für ihn erſchien, mußte ſich nach dem Langhaus hin öffnen und nach dem Mittelſchiff deſſelben geſchah dieß durch einen hohen Bogen, dem ſogenannten Triumphbogen. Die Säulen der Schiffe trugen die höhere Mauer des Mittelſchiffs anfangs als geradlinig (architraviſch) übergelegte Laſt, dann aber mittelſt Arkadenbögen. In dieſen, ſowie im Triumphbogen, in der Tribune und den Fenſtern haben wir vorerſt den einzigen Ein- tritt der runden Linie als Halbkreis, denn die Deckung war urſprünglich flach und caſettirt, nachher ſprach ein offener Dachſtuhl den primitiven Charakter dieſes urchriſtlichen Tempels aus. Jene Arkadenbögen aber verſtärkten durch ihre Bewegung von Säule zu Säule den hinleitenden, einladenden per-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/139>, abgerufen am 19.04.2024.