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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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und Welle), die jetzt schon beginnen, sind bei dem gothischen Styl aufzu-
fassen. Was nun die eigentliche Ornamentik betrifft, so bricht hier am
bestimmtesten in Erfindung seltsamer Linienspiele, krauser Verschlingungen,
Zickzackformen u. s. w., noch mehr in den Thier- und Menschen-Frazzen,
die sich an Capitelle, Gesimse, Consolen u. s. w. ansetzen, die phantastische
Subjectivität des Mittelalters (§. 450) hervor; je mehr gegen Ende die-
ses Styls (im Anfang des 13. Jahrhunderts), desto stärker. Allein diese
phantastische Subjectivität ist einer eigenen Ordnung und Durchgliederung
innerhalb ihres Charakters nicht unfähig; diese hat sie noch nicht gefun-
den, dualistisch bricht neben der durch alle jene Momente keineswegs auf-
gehobenen Breite, Massenhaftigkeit der Hauptkörper, die immer noch einen
primitiven Eindruck urchristlicher Einfachheit macht, jene abentheuerliche
Formenwelt hervor, abentheuerlich eben, weil sie das Ganze nicht durch-
dringen kann: ein noch unvermittelter Ueberschuß von Bildungstrieb. Nun
ist aber diese Formenwelt dennoch streng geometrisch, conventionell behan-
delt; die einzelne Form ist zwar, namentlich durch die Einmischung der
Thier- und Menschengestalt, phantastischer, als in der arabischen Orna-
mentik, doch herrscht bei weniger krauser Verschlingung sichtbarer ein bin-
dender Mittelpunct, eine ausdrückliche und gemessene Symmetrie, die an
ein kaleidoskopisches Anschießen erinnert. Das nordische Wesen drückt
sich in strengerer Bindung einer zum Wilden geneigten Sinnlichkeit gegen-
über der vom Maaße liberal beherrschten fließenden Sinnlichkeit des
Classischen bereits bestimmter aus. Wie weit dabei wirklicher arabischer
Einfluß gegangen sein mag, ist nicht zu bestimmen; verwandter eigener,
nordischer Sinn kam jedenfalls der Nachbildung entgegen: verwandt, wenn
man zusammenhält, was über den Dualismus im orientalischen und ger-
manischen Naturell in den zwei Abschnitten des zweiten Theils gesagt ist.
Arabisch und byzantinisch-arabisch erscheint aber allerdings auch der noch
vereinzelt in den Oeffnungen auftretende Spitzbogen, Kielbogen, der Bogen
mit mehreren Kreisausschnitten; in diesen Kreisausschnitten beginnt übri-
gens das Kreissegment so groß zu werden, die Steinspitze, welche zwei
derselben trennt, sich so tief hereinzustrecken, daß man eine rein einhei-
mische Form, das Kleeblatt, in der Entwicklung begriffen sieht. Ueber-
haupt jedoch erinnert die große Neigung zur Behandlung des Structiven
als eines blos Decorativen, namentlich in den Arkaden, an das Arabische;
die überdünne Zwergsäule, die in der Mitte häufig durch Knoten geschürz-
ten Bündel solcher decorativer Säulchen weisen ebenfalls auf solche Ein-
flüsse. Diese Buntheit tritt aber in ihrer wuchernden Fülle, wie gesagt,
erst gegen Ende dieses Styls auf in dem sogenannten Uebergangsstyl,
der dem gothischen unmittelbar vorausgeht.


und Welle), die jetzt ſchon beginnen, ſind bei dem gothiſchen Styl aufzu-
faſſen. Was nun die eigentliche Ornamentik betrifft, ſo bricht hier am
beſtimmteſten in Erfindung ſeltſamer Linienſpiele, krauſer Verſchlingungen,
Zickzackformen u. ſ. w., noch mehr in den Thier- und Menſchen-Frazzen,
die ſich an Capitelle, Geſimſe, Conſolen u. ſ. w. anſetzen, die phantaſtiſche
Subjectivität des Mittelalters (§. 450) hervor; je mehr gegen Ende die-
ſes Styls (im Anfang des 13. Jahrhunderts), deſto ſtärker. Allein dieſe
phantaſtiſche Subjectivität iſt einer eigenen Ordnung und Durchgliederung
innerhalb ihres Charakters nicht unfähig; dieſe hat ſie noch nicht gefun-
den, dualiſtiſch bricht neben der durch alle jene Momente keineswegs auf-
gehobenen Breite, Maſſenhaftigkeit der Hauptkörper, die immer noch einen
primitiven Eindruck urchriſtlicher Einfachheit macht, jene abentheuerliche
Formenwelt hervor, abentheuerlich eben, weil ſie das Ganze nicht durch-
dringen kann: ein noch unvermittelter Ueberſchuß von Bildungstrieb. Nun
iſt aber dieſe Formenwelt dennoch ſtreng geometriſch, conventionell behan-
delt; die einzelne Form iſt zwar, namentlich durch die Einmiſchung der
Thier- und Menſchengeſtalt, phantaſtiſcher, als in der arabiſchen Orna-
mentik, doch herrſcht bei weniger krauſer Verſchlingung ſichtbarer ein bin-
dender Mittelpunct, eine ausdrückliche und gemeſſene Symmetrie, die an
ein kaleidoſkopiſches Anſchießen erinnert. Das nordiſche Weſen drückt
ſich in ſtrengerer Bindung einer zum Wilden geneigten Sinnlichkeit gegen-
über der vom Maaße liberal beherrſchten fließenden Sinnlichkeit des
Claſſiſchen bereits beſtimmter aus. Wie weit dabei wirklicher arabiſcher
Einfluß gegangen ſein mag, iſt nicht zu beſtimmen; verwandter eigener,
nordiſcher Sinn kam jedenfalls der Nachbildung entgegen: verwandt, wenn
man zuſammenhält, was über den Dualismus im orientaliſchen und ger-
maniſchen Naturell in den zwei Abſchnitten des zweiten Theils geſagt iſt.
Arabiſch und byzantiniſch-arabiſch erſcheint aber allerdings auch der noch
vereinzelt in den Oeffnungen auftretende Spitzbogen, Kielbogen, der Bogen
mit mehreren Kreisausſchnitten; in dieſen Kreisausſchnitten beginnt übri-
gens das Kreisſegment ſo groß zu werden, die Steinſpitze, welche zwei
derſelben trennt, ſich ſo tief hereinzuſtrecken, daß man eine rein einhei-
miſche Form, das Kleeblatt, in der Entwicklung begriffen ſieht. Ueber-
haupt jedoch erinnert die große Neigung zur Behandlung des Structiven
als eines blos Decorativen, namentlich in den Arkaden, an das Arabiſche;
die überdünne Zwergſäule, die in der Mitte häufig durch Knoten geſchürz-
ten Bündel ſolcher decorativer Säulchen weiſen ebenfalls auf ſolche Ein-
flüſſe. Dieſe Buntheit tritt aber in ihrer wuchernden Fülle, wie geſagt,
erſt gegen Ende dieſes Styls auf in dem ſogenannten Uebergangsſtyl,
der dem gothiſchen unmittelbar vorausgeht.


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[311/0151] und Welle), die jetzt ſchon beginnen, ſind bei dem gothiſchen Styl aufzu- faſſen. Was nun die eigentliche Ornamentik betrifft, ſo bricht hier am beſtimmteſten in Erfindung ſeltſamer Linienſpiele, krauſer Verſchlingungen, Zickzackformen u. ſ. w., noch mehr in den Thier- und Menſchen-Frazzen, die ſich an Capitelle, Geſimſe, Conſolen u. ſ. w. anſetzen, die phantaſtiſche Subjectivität des Mittelalters (§. 450) hervor; je mehr gegen Ende die- ſes Styls (im Anfang des 13. Jahrhunderts), deſto ſtärker. Allein dieſe phantaſtiſche Subjectivität iſt einer eigenen Ordnung und Durchgliederung innerhalb ihres Charakters nicht unfähig; dieſe hat ſie noch nicht gefun- den, dualiſtiſch bricht neben der durch alle jene Momente keineswegs auf- gehobenen Breite, Maſſenhaftigkeit der Hauptkörper, die immer noch einen primitiven Eindruck urchriſtlicher Einfachheit macht, jene abentheuerliche Formenwelt hervor, abentheuerlich eben, weil ſie das Ganze nicht durch- dringen kann: ein noch unvermittelter Ueberſchuß von Bildungstrieb. Nun iſt aber dieſe Formenwelt dennoch ſtreng geometriſch, conventionell behan- delt; die einzelne Form iſt zwar, namentlich durch die Einmiſchung der Thier- und Menſchengeſtalt, phantaſtiſcher, als in der arabiſchen Orna- mentik, doch herrſcht bei weniger krauſer Verſchlingung ſichtbarer ein bin- dender Mittelpunct, eine ausdrückliche und gemeſſene Symmetrie, die an ein kaleidoſkopiſches Anſchießen erinnert. Das nordiſche Weſen drückt ſich in ſtrengerer Bindung einer zum Wilden geneigten Sinnlichkeit gegen- über der vom Maaße liberal beherrſchten fließenden Sinnlichkeit des Claſſiſchen bereits beſtimmter aus. Wie weit dabei wirklicher arabiſcher Einfluß gegangen ſein mag, iſt nicht zu beſtimmen; verwandter eigener, nordiſcher Sinn kam jedenfalls der Nachbildung entgegen: verwandt, wenn man zuſammenhält, was über den Dualismus im orientaliſchen und ger- maniſchen Naturell in den zwei Abſchnitten des zweiten Theils geſagt iſt. Arabiſch und byzantiniſch-arabiſch erſcheint aber allerdings auch der noch vereinzelt in den Oeffnungen auftretende Spitzbogen, Kielbogen, der Bogen mit mehreren Kreisausſchnitten; in dieſen Kreisausſchnitten beginnt übri- gens das Kreisſegment ſo groß zu werden, die Steinſpitze, welche zwei derſelben trennt, ſich ſo tief hereinzuſtrecken, daß man eine rein einhei- miſche Form, das Kleeblatt, in der Entwicklung begriffen ſieht. Ueber- haupt jedoch erinnert die große Neigung zur Behandlung des Structiven als eines blos Decorativen, namentlich in den Arkaden, an das Arabiſche; die überdünne Zwergſäule, die in der Mitte häufig durch Knoten geſchürz- ten Bündel ſolcher decorativer Säulchen weiſen ebenfalls auf ſolche Ein- flüſſe. Dieſe Buntheit tritt aber in ihrer wuchernden Fülle, wie geſagt, erſt gegen Ende dieſes Styls auf in dem ſogenannten Uebergangsſtyl, der dem gothiſchen unmittelbar vorausgeht.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/151>, abgerufen am 28.03.2024.