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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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schweifung nur erst als noch größere Zierlichkeit namentlich in der Stei-
gerung des Rippengliederbaus im Gewölbe zu Netz-, Stern-, Korb-
Gewölben, welche die Masse bis auf ein Aeußerstes zu entlasten suchen,
bald aber geht dieser spätgothische Styl in die bezeichnete gesetzlose
Spielerei über; sie äußert sich namentlich im Ornament als Abweichen
von jener geometrischen Regel in der Verbindung bestimmter Verhältnisse
des Maaßwerks mit bestimmten Spitzbögen, als willkührliche Ausfüllung
der Felder, besonders mit geschweiften Formen (die Fischblase z. B. wird
nun nicht mehr in übrig gebliebene Nebenfelder verwiesen, sondern spielt
eine Hauptrolle), als seitliche Ausbiegung (Frauenschuh u. dergl.), als
Aufnahme nicht geometrisch stylisirten Zweigwerks, als Einführung der
geschweiften Form auch an die Stelle des Spitzbogens (Eselsrücken). Da-
neben tritt aber ein anderer Zug hervor: ein Zug zum Einfacheren,
weniger Getheilten und zur horizontalen Linie: Vorzeichen jener Stimmung,
die ruhiger an der Erde bleiben will, die zu jener Versöhnung mit der Ob-
jectivität strebt, welche wir als Prinzip des modernen Ideals aufgestellt
haben. In der Wölbung erscheint dieser Zug als erneuerte Liebe zum
ruhigeren Rundbogen, als Aufnahme des Stichbogens, im Ornament als
Eintritt geradlinigen Stabwerkes in die Füllungen, das nun freilich mit
dem Bogensegment in einem schlechten Verhältniß steht und so auch den Ver-
fall bezeichnet, den wir nicht weiter verfolgen. Diese Zeichen treten außer-
halb Italiens auf, wo der gothische Styl niemals in seinem ganzen Wesen
eingedrungen ist, wo vielmehr frühe der romanische Rundbogen wieder
vorgezogen und schon im fünfzehnten Jahrhundert zum classisch römischen
Style, namentlich zur Kuppel, zunächst in anmuthig bewegter Verbindung mit
Basiliken-Grundformen, ornamentistischen Einzelformen des Vorgothischen
(gruppirten Fenstern u. dgl.) zurückgegriffen wird. Dann aber wird der
römische Baustyl mit vollem Bewußtsein erneuert und bildet sich, was wir
Renaissance nennen; in Italien zunächst als freiere, noch immer an die
Basiliken-Anlage anknüpfende, die Facaden lebendig gliedernde (Bru-
neleschi, anfangs Bramante), dann als nüchtern correcte, auf Vitruv ge-
baute Nachahmung (Alberti). Dieser erneuerte römische Styl entspricht
genau der Wiederaufnahme des objectiven classischen Ideals in noch un-
verarbeiteter Form, welche der lebendigen Aneignung vorangehen mußte;
sie verbindet sich, wie die neue Anschauungsweise mit der noch nicht durch-
gebildeten Persönlichkeit, auf widersprechende Weise mit der Sitte und An-
schauung einer vom Alterthum gänzlich verschiedenen Zeit. Weniger gilt dieß
von den Italienern als dem am reinsten romanischen Volke; es stellt sich
hier nicht weiter ein Rest Mittelalter mit dem Antiken zusammen, der
Widerspruch liegt, abgerechnet die ursprüngliche innere Unwahrheit des
römischen Styls an sich, die in der decorativen Verbindung des Architravstyls

ſchweifung nur erſt als noch größere Zierlichkeit namentlich in der Stei-
gerung des Rippengliederbaus im Gewölbe zu Netz-, Stern-, Korb-
Gewölben, welche die Maſſe bis auf ein Aeußerſtes zu entlaſten ſuchen,
bald aber geht dieſer ſpätgothiſche Styl in die bezeichnete geſetzloſe
Spielerei über; ſie äußert ſich namentlich im Ornament als Abweichen
von jener geometriſchen Regel in der Verbindung beſtimmter Verhältniſſe
des Maaßwerks mit beſtimmten Spitzbögen, als willkührliche Ausfüllung
der Felder, beſonders mit geſchweiften Formen (die Fiſchblaſe z. B. wird
nun nicht mehr in übrig gebliebene Nebenfelder verwieſen, ſondern ſpielt
eine Hauptrolle), als ſeitliche Ausbiegung (Frauenſchuh u. dergl.), als
Aufnahme nicht geometriſch ſtyliſirten Zweigwerks, als Einführung der
geſchweiften Form auch an die Stelle des Spitzbogens (Eſelsrücken). Da-
neben tritt aber ein anderer Zug hervor: ein Zug zum Einfacheren,
weniger Getheilten und zur horizontalen Linie: Vorzeichen jener Stimmung,
die ruhiger an der Erde bleiben will, die zu jener Verſöhnung mit der Ob-
jectivität ſtrebt, welche wir als Prinzip des modernen Ideals aufgeſtellt
haben. In der Wölbung erſcheint dieſer Zug als erneuerte Liebe zum
ruhigeren Rundbogen, als Aufnahme des Stichbogens, im Ornament als
Eintritt geradlinigen Stabwerkes in die Füllungen, das nun freilich mit
dem Bogenſegment in einem ſchlechten Verhältniß ſteht und ſo auch den Ver-
fall bezeichnet, den wir nicht weiter verfolgen. Dieſe Zeichen treten außer-
halb Italiens auf, wo der gothiſche Styl niemals in ſeinem ganzen Weſen
eingedrungen iſt, wo vielmehr frühe der romaniſche Rundbogen wieder
vorgezogen und ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zum claſſiſch römiſchen
Style, namentlich zur Kuppel, zunächſt in anmuthig bewegter Verbindung mit
Baſiliken-Grundformen, ornamentiſtiſchen Einzelformen des Vorgothiſchen
(gruppirten Fenſtern u. dgl.) zurückgegriffen wird. Dann aber wird der
römiſche Bauſtyl mit vollem Bewußtſein erneuert und bildet ſich, was wir
Renaiſſance nennen; in Italien zunächſt als freiere, noch immer an die
Baſiliken-Anlage anknüpfende, die Façaden lebendig gliedernde (Bru-
neleschi, anfangs Bramante), dann als nüchtern correcte, auf Vitruv ge-
baute Nachahmung (Alberti). Dieſer erneuerte römiſche Styl entſpricht
genau der Wiederaufnahme des objectiven claſſiſchen Ideals in noch un-
verarbeiteter Form, welche der lebendigen Aneignung vorangehen mußte;
ſie verbindet ſich, wie die neue Anſchauungsweiſe mit der noch nicht durch-
gebildeten Perſönlichkeit, auf widerſprechende Weiſe mit der Sitte und An-
ſchauung einer vom Alterthum gänzlich verſchiedenen Zeit. Weniger gilt dieß
von den Italienern als dem am reinſten romaniſchen Volke; es ſtellt ſich
hier nicht weiter ein Reſt Mittelalter mit dem Antiken zuſammen, der
Widerſpruch liegt, abgerechnet die urſprüngliche innere Unwahrheit des
römiſchen Styls an ſich, die in der decorativen Verbindung des Architravſtyls

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[325/0165] ſchweifung nur erſt als noch größere Zierlichkeit namentlich in der Stei- gerung des Rippengliederbaus im Gewölbe zu Netz-, Stern-, Korb- Gewölben, welche die Maſſe bis auf ein Aeußerſtes zu entlaſten ſuchen, bald aber geht dieſer ſpätgothiſche Styl in die bezeichnete geſetzloſe Spielerei über; ſie äußert ſich namentlich im Ornament als Abweichen von jener geometriſchen Regel in der Verbindung beſtimmter Verhältniſſe des Maaßwerks mit beſtimmten Spitzbögen, als willkührliche Ausfüllung der Felder, beſonders mit geſchweiften Formen (die Fiſchblaſe z. B. wird nun nicht mehr in übrig gebliebene Nebenfelder verwieſen, ſondern ſpielt eine Hauptrolle), als ſeitliche Ausbiegung (Frauenſchuh u. dergl.), als Aufnahme nicht geometriſch ſtyliſirten Zweigwerks, als Einführung der geſchweiften Form auch an die Stelle des Spitzbogens (Eſelsrücken). Da- neben tritt aber ein anderer Zug hervor: ein Zug zum Einfacheren, weniger Getheilten und zur horizontalen Linie: Vorzeichen jener Stimmung, die ruhiger an der Erde bleiben will, die zu jener Verſöhnung mit der Ob- jectivität ſtrebt, welche wir als Prinzip des modernen Ideals aufgeſtellt haben. In der Wölbung erſcheint dieſer Zug als erneuerte Liebe zum ruhigeren Rundbogen, als Aufnahme des Stichbogens, im Ornament als Eintritt geradlinigen Stabwerkes in die Füllungen, das nun freilich mit dem Bogenſegment in einem ſchlechten Verhältniß ſteht und ſo auch den Ver- fall bezeichnet, den wir nicht weiter verfolgen. Dieſe Zeichen treten außer- halb Italiens auf, wo der gothiſche Styl niemals in ſeinem ganzen Weſen eingedrungen iſt, wo vielmehr frühe der romaniſche Rundbogen wieder vorgezogen und ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zum claſſiſch römiſchen Style, namentlich zur Kuppel, zunächſt in anmuthig bewegter Verbindung mit Baſiliken-Grundformen, ornamentiſtiſchen Einzelformen des Vorgothiſchen (gruppirten Fenſtern u. dgl.) zurückgegriffen wird. Dann aber wird der römiſche Bauſtyl mit vollem Bewußtſein erneuert und bildet ſich, was wir Renaiſſance nennen; in Italien zunächſt als freiere, noch immer an die Baſiliken-Anlage anknüpfende, die Façaden lebendig gliedernde (Bru- neleschi, anfangs Bramante), dann als nüchtern correcte, auf Vitruv ge- baute Nachahmung (Alberti). Dieſer erneuerte römiſche Styl entſpricht genau der Wiederaufnahme des objectiven claſſiſchen Ideals in noch un- verarbeiteter Form, welche der lebendigen Aneignung vorangehen mußte; ſie verbindet ſich, wie die neue Anſchauungsweiſe mit der noch nicht durch- gebildeten Perſönlichkeit, auf widerſprechende Weiſe mit der Sitte und An- ſchauung einer vom Alterthum gänzlich verſchiedenen Zeit. Weniger gilt dieß von den Italienern als dem am reinſten romaniſchen Volke; es ſtellt ſich hier nicht weiter ein Reſt Mittelalter mit dem Antiken zuſammen, der Widerſpruch liegt, abgerechnet die urſprüngliche innere Unwahrheit des römiſchen Styls an ſich, die in der decorativen Verbindung des Architravſtyls

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/165>, abgerufen am 16.04.2024.