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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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§. 554.

Diese Objectivität tritt zunächst auf in der Form der streng realen Be-
dingtheit des Zwechmäßigen, dem das Handwerk dient. Von diesem
Boden nimmt die Kunst den Ausgang (vergl. §. 546), indem sie das aus
schwerem Material in geometrischen Linien nach statischen Gesetzen aufgerichtete
Gebilde, das dem Menschen zur schützenden Umschließung dient, zur schönen
Form erhebt, wobei das nur abstracte, d. h. messende Sehen (§. 404) die
bestimmende Art der Phantasie ist: die Baukunst.

Wir nehmen unsern Ausgang vom Gebiete der blos äußerlichen
Zweckmäßigkeit und haben in dem Bauen als Werk der Nothdurft aller-
dings schon die Theilung in ein Inneres, einen leeren Raum, dessen
Erfüllung anderswoher gegeben wird und den die Baukunst nur zu
umschließen hat. An diesen Punct hängt sich sogleich die Frage nach dem
Anfang. Hegel beginnt mit der selbständigen, (im engeren Sinne)
symbolischen Baukunst, weil er mit der getheilten, die nur Mittel für einen
anderswoher gegebenen Zweck, nur die Hülle für ein Inneres ist, das
nicht sie selbst geschaffen, nicht anfangen zu können glaubt, für den Anfang
vielmehr ein Unmittelbares, noch Ungetheiltes fordert (Aesth. Th. II. S. 268).
Allein es gibt kein wissenschaftliches Gesetz, das verhindert, den Anfang
hier gegeben sein zu lassen durch ein zunächst-Außerästhetisches, das freilich
eine Theilung (in Zweck und Mittel, Inneres und Aeußeres) enthält,
aber gegenüber dem Aesthetischen doch als dieses Ganze noch durchaus
einfach und elementarisch ist im Sinn eines gegebenen rohen Nothwerks,
objectiv in der gemeinen Bedeutung des empirisch real Bedingten; der
Fortschritt besteht dann in geistiger Erhöhung dieses Ganzen auf beiden
Seiten seiner Diremtion, indem mit dem ideal gewordenen Zweck auch
das Mittel (eben das Bauen) zur schönen Form fortschreitet. Die
selbständige, symbolische Form gehört in die Geschichte dieser Kunst, nicht
in die Lehre von ihrem Wesen; ein großer Theil dessen, was unter dieser
Kategorie aufgeführt ist, war zudem nicht eigentlich selbständiges, sondern
umschließendes Bauwerk, nur daß das Innere in einem Mißverhältniß
zu der architektonischen Umhüllung stand: die terrassenförmig pyramidalischen
Bauten Babyloniens, der Belusthurm selbst, trugen einen Tempel, wie
die mexikanischen Teocalli, nur daß der ungeheure, wiewohl selbst theil-
weis hohle Unterbau allerdings nebenher ein Streben ausdrückt, durch die
Architektur an sich schon zu sprechen; die Pyramiden haben als Gräber-
bauten ein Inneres, nur in demselben Mißverhältniß, die Labyrinthe waren
allerdings symbolisch, aber doch zugleich Umschließung von Gräbern, die
sieben symbolisch verschieden gefärbten Ringmauern von Ekbatana waren

§. 554.

Dieſe Objectivität tritt zunächſt auf in der Form der ſtreng realen Be-
dingtheit des Zwechmäßigen, dem das Handwerk dient. Von dieſem
Boden nimmt die Kunſt den Ausgang (vergl. §. 546), indem ſie das aus
ſchwerem Material in geometriſchen Linien nach ſtatiſchen Geſetzen aufgerichtete
Gebilde, das dem Menſchen zur ſchützenden Umſchließung dient, zur ſchönen
Form erhebt, wobei das nur abſtracte, d. h. meſſende Sehen (§. 404) die
beſtimmende Art der Phantaſie iſt: die Baukunſt.

Wir nehmen unſern Ausgang vom Gebiete der blos äußerlichen
Zweckmäßigkeit und haben in dem Bauen als Werk der Nothdurft aller-
dings ſchon die Theilung in ein Inneres, einen leeren Raum, deſſen
Erfüllung anderswoher gegeben wird und den die Baukunſt nur zu
umſchließen hat. An dieſen Punct hängt ſich ſogleich die Frage nach dem
Anfang. Hegel beginnt mit der ſelbſtändigen, (im engeren Sinne)
ſymboliſchen Baukunſt, weil er mit der getheilten, die nur Mittel für einen
anderswoher gegebenen Zweck, nur die Hülle für ein Inneres iſt, das
nicht ſie ſelbſt geſchaffen, nicht anfangen zu können glaubt, für den Anfang
vielmehr ein Unmittelbares, noch Ungetheiltes fordert (Aeſth. Th. II. S. 268).
Allein es gibt kein wiſſenſchaftliches Geſetz, das verhindert, den Anfang
hier gegeben ſein zu laſſen durch ein zunächſt-Außeräſthetiſches, das freilich
eine Theilung (in Zweck und Mittel, Inneres und Aeußeres) enthält,
aber gegenüber dem Aeſthetiſchen doch als dieſes Ganze noch durchaus
einfach und elementariſch iſt im Sinn eines gegebenen rohen Nothwerks,
objectiv in der gemeinen Bedeutung des empiriſch real Bedingten; der
Fortſchritt beſteht dann in geiſtiger Erhöhung dieſes Ganzen auf beiden
Seiten ſeiner Diremtion, indem mit dem ideal gewordenen Zweck auch
das Mittel (eben das Bauen) zur ſchönen Form fortſchreitet. Die
ſelbſtändige, ſymboliſche Form gehört in die Geſchichte dieſer Kunſt, nicht
in die Lehre von ihrem Weſen; ein großer Theil deſſen, was unter dieſer
Kategorie aufgeführt iſt, war zudem nicht eigentlich ſelbſtändiges, ſondern
umſchließendes Bauwerk, nur daß das Innere in einem Mißverhältniß
zu der architektoniſchen Umhüllung ſtand: die terraſſenförmig pyramidaliſchen
Bauten Babyloniens, der Belusthurm ſelbſt, trugen einen Tempel, wie
die mexikaniſchen Teocalli, nur daß der ungeheure, wiewohl ſelbſt theil-
weis hohle Unterbau allerdings nebenher ein Streben ausdrückt, durch die
Architektur an ſich ſchon zu ſprechen; die Pyramiden haben als Gräber-
bauten ein Inneres, nur in demſelben Mißverhältniß, die Labyrinthe waren
allerdings ſymboliſch, aber doch zugleich Umſchließung von Gräbern, die
ſieben ſymboliſch verſchieden gefärbten Ringmauern von Ekbatana waren

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[181/0021] §. 554. Dieſe Objectivität tritt zunächſt auf in der Form der ſtreng realen Be- dingtheit des Zwechmäßigen, dem das Handwerk dient. Von dieſem Boden nimmt die Kunſt den Ausgang (vergl. §. 546), indem ſie das aus ſchwerem Material in geometriſchen Linien nach ſtatiſchen Geſetzen aufgerichtete Gebilde, das dem Menſchen zur ſchützenden Umſchließung dient, zur ſchönen Form erhebt, wobei das nur abſtracte, d. h. meſſende Sehen (§. 404) die beſtimmende Art der Phantaſie iſt: die Baukunſt. Wir nehmen unſern Ausgang vom Gebiete der blos äußerlichen Zweckmäßigkeit und haben in dem Bauen als Werk der Nothdurft aller- dings ſchon die Theilung in ein Inneres, einen leeren Raum, deſſen Erfüllung anderswoher gegeben wird und den die Baukunſt nur zu umſchließen hat. An dieſen Punct hängt ſich ſogleich die Frage nach dem Anfang. Hegel beginnt mit der ſelbſtändigen, (im engeren Sinne) ſymboliſchen Baukunſt, weil er mit der getheilten, die nur Mittel für einen anderswoher gegebenen Zweck, nur die Hülle für ein Inneres iſt, das nicht ſie ſelbſt geſchaffen, nicht anfangen zu können glaubt, für den Anfang vielmehr ein Unmittelbares, noch Ungetheiltes fordert (Aeſth. Th. II. S. 268). Allein es gibt kein wiſſenſchaftliches Geſetz, das verhindert, den Anfang hier gegeben ſein zu laſſen durch ein zunächſt-Außeräſthetiſches, das freilich eine Theilung (in Zweck und Mittel, Inneres und Aeußeres) enthält, aber gegenüber dem Aeſthetiſchen doch als dieſes Ganze noch durchaus einfach und elementariſch iſt im Sinn eines gegebenen rohen Nothwerks, objectiv in der gemeinen Bedeutung des empiriſch real Bedingten; der Fortſchritt beſteht dann in geiſtiger Erhöhung dieſes Ganzen auf beiden Seiten ſeiner Diremtion, indem mit dem ideal gewordenen Zweck auch das Mittel (eben das Bauen) zur ſchönen Form fortſchreitet. Die ſelbſtändige, ſymboliſche Form gehört in die Geſchichte dieſer Kunſt, nicht in die Lehre von ihrem Weſen; ein großer Theil deſſen, was unter dieſer Kategorie aufgeführt iſt, war zudem nicht eigentlich ſelbſtändiges, ſondern umſchließendes Bauwerk, nur daß das Innere in einem Mißverhältniß zu der architektoniſchen Umhüllung ſtand: die terraſſenförmig pyramidaliſchen Bauten Babyloniens, der Belusthurm ſelbſt, trugen einen Tempel, wie die mexikaniſchen Teocalli, nur daß der ungeheure, wiewohl ſelbſt theil- weis hohle Unterbau allerdings nebenher ein Streben ausdrückt, durch die Architektur an ſich ſchon zu ſprechen; die Pyramiden haben als Gräber- bauten ein Inneres, nur in demſelben Mißverhältniß, die Labyrinthe waren allerdings ſymboliſch, aber doch zugleich Umſchließung von Gräbern, die ſieben ſymboliſch verſchieden gefärbten Ringmauern von Ekbatana waren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/21>, abgerufen am 29.03.2024.