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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Gegensatze des Wagrechten und Senkrechten, des Geraden und Runden
hervor, und in diesen Linien bewegt sich der Zusammenstoß der Grund-
gewalten: der Conflict zwischen Kraft und Last, zwischen Schub und Ge-
gendruck. Die Composition hat diesem Conflicte seinen vollen Ausdruck
zu geben, denn der starke Contrast gibt allem Kunstwerk erst seine festen
Knochen, Kraft und Salz; in der Baukunst aber soll gemäß ihrer Auf-
gabe, eine Symbolik der bauenden Weltkraft zu geben, vor Allem der
Kampf und Gegenschlag, auf welchem alle Organisation des Kosmos ruht,
zur Darstellung kommen. Das mechanisch Nothwendige erhebt sich zum
Ausdruck der Idee, daß der Streit der Vater des Lebens ist.

§. 569.

Die Herstellung der Einheit durch Vorbereitung, Motivirung,
Lösung
der Gegensätze (§. 499) vollzieht sich im Allgemeinen durch lebendige
Entwicklung jedes Cheils aus dem andern. Dabei macht sich nun vor Allem
die durchgreifende Bedeutung der Decke (vergl. §. 563) in der Art geltend,
daß sie in ihrer Verbindung mit der freistehenden Stütze das Ganze zu einer
organischen Wechselwirkung von Kräften gliedert, welche in ihrer durchgebil-
detsten Form auch die Wand ergreift. Hier treten denn die zusammenfassenden
Linien-Verhältnisse (vergl. §. 564) in das Leben.

"Im Allgemeinen": denn ihren vollen Ausdruck erhält die lebendige
Einheit, die dieses Ganze durchströmen soll, erst in den Gliedern und
im Decorativen überhaupt, das hier zwar allerdings als wesentlich mit-
wirkend schon in's Auge gefaßt werden muß, jedoch ohne noch zu der in
§. 557, 3. vorbehaltenen näheren Betrachtung zu kommen. Ehe von der
Bedeutung der Decke die Rede ist, wird die lebendige Entwicklung jedes
Theils aus dem andern überhaupt als Ausdruck jener Einheit bezeichnet,
denn das wichtigste Geheimniß sitzt zwar in jener, aber es handelt sich
auch von Anderem, wo die Decke jene große Bedeutung nicht haben
kann oder gar nicht in's Spiel kommt. Im mehrstockigen Palaste z. B.
soll ein Stockwerk auf das andere vorbereiten, so daß sie in ihren ver-
schiedenen Abstufungen von Größe des Raumöffnenden, von ästhetischer
Entwicklung überhaupt aus einander hervorzuwachsen scheinen, bis das
Glänzendste erreicht ist und dann diese Bewegung in einem letzten un-
scheinbareren und leichteren Stockwerk sich auslebt; es erhellt daraus, wie
verkehrt es wäre, den untersten Stock am reichsten auszustatten. Im
durchgegliederten Thurme soll sich das Achteck aus dem Viereck und aus
jenem die Pyramide wohlvorbereitet herausgliedern. Das Portal, die
Facade überhaupt bereitet auf ein reiches und großartiges Inneres vor.

Gegenſatze des Wagrechten und Senkrechten, des Geraden und Runden
hervor, und in dieſen Linien bewegt ſich der Zuſammenſtoß der Grund-
gewalten: der Conflict zwiſchen Kraft und Laſt, zwiſchen Schub und Ge-
gendruck. Die Compoſition hat dieſem Conflicte ſeinen vollen Ausdruck
zu geben, denn der ſtarke Contraſt gibt allem Kunſtwerk erſt ſeine feſten
Knochen, Kraft und Salz; in der Baukunſt aber ſoll gemäß ihrer Auf-
gabe, eine Symbolik der bauenden Weltkraft zu geben, vor Allem der
Kampf und Gegenſchlag, auf welchem alle Organiſation des Kosmos ruht,
zur Darſtellung kommen. Das mechaniſch Nothwendige erhebt ſich zum
Ausdruck der Idee, daß der Streit der Vater des Lebens iſt.

§. 569.

Die Herſtellung der Einheit durch Vorbereitung, Motivirung,
Löſung
der Gegenſätze (§. 499) vollzieht ſich im Allgemeinen durch lebendige
Entwicklung jedes Cheils aus dem andern. Dabei macht ſich nun vor Allem
die durchgreifende Bedeutung der Decke (vergl. §. 563) in der Art geltend,
daß ſie in ihrer Verbindung mit der freiſtehenden Stütze das Ganze zu einer
organiſchen Wechſelwirkung von Kräften gliedert, welche in ihrer durchgebil-
detſten Form auch die Wand ergreift. Hier treten denn die zuſammenfaſſenden
Linien-Verhältniſſe (vergl. §. 564) in das Leben.

„Im Allgemeinen“: denn ihren vollen Ausdruck erhält die lebendige
Einheit, die dieſes Ganze durchſtrömen ſoll, erſt in den Gliedern und
im Decorativen überhaupt, das hier zwar allerdings als weſentlich mit-
wirkend ſchon in’s Auge gefaßt werden muß, jedoch ohne noch zu der in
§. 557, 3. vorbehaltenen näheren Betrachtung zu kommen. Ehe von der
Bedeutung der Decke die Rede iſt, wird die lebendige Entwicklung jedes
Theils aus dem andern überhaupt als Ausdruck jener Einheit bezeichnet,
denn das wichtigſte Geheimniß ſitzt zwar in jener, aber es handelt ſich
auch von Anderem, wo die Decke jene große Bedeutung nicht haben
kann oder gar nicht in’s Spiel kommt. Im mehrſtockigen Palaſte z. B.
ſoll ein Stockwerk auf das andere vorbereiten, ſo daß ſie in ihren ver-
ſchiedenen Abſtufungen von Größe des Raumöffnenden, von äſthetiſcher
Entwicklung überhaupt aus einander hervorzuwachſen ſcheinen, bis das
Glänzendſte erreicht iſt und dann dieſe Bewegung in einem letzten un-
ſcheinbareren und leichteren Stockwerk ſich auslebt; es erhellt daraus, wie
verkehrt es wäre, den unterſten Stock am reichſten auszuſtatten. Im
durchgegliederten Thurme ſoll ſich das Achteck aus dem Viereck und aus
jenem die Pyramide wohlvorbereitet herausgliedern. Das Portal, die
Façade überhaupt bereitet auf ein reiches und großartiges Inneres vor.

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[230/0070] Gegenſatze des Wagrechten und Senkrechten, des Geraden und Runden hervor, und in dieſen Linien bewegt ſich der Zuſammenſtoß der Grund- gewalten: der Conflict zwiſchen Kraft und Laſt, zwiſchen Schub und Ge- gendruck. Die Compoſition hat dieſem Conflicte ſeinen vollen Ausdruck zu geben, denn der ſtarke Contraſt gibt allem Kunſtwerk erſt ſeine feſten Knochen, Kraft und Salz; in der Baukunſt aber ſoll gemäß ihrer Auf- gabe, eine Symbolik der bauenden Weltkraft zu geben, vor Allem der Kampf und Gegenſchlag, auf welchem alle Organiſation des Kosmos ruht, zur Darſtellung kommen. Das mechaniſch Nothwendige erhebt ſich zum Ausdruck der Idee, daß der Streit der Vater des Lebens iſt. §. 569. Die Herſtellung der Einheit durch Vorbereitung, Motivirung, Löſung der Gegenſätze (§. 499) vollzieht ſich im Allgemeinen durch lebendige Entwicklung jedes Cheils aus dem andern. Dabei macht ſich nun vor Allem die durchgreifende Bedeutung der Decke (vergl. §. 563) in der Art geltend, daß ſie in ihrer Verbindung mit der freiſtehenden Stütze das Ganze zu einer organiſchen Wechſelwirkung von Kräften gliedert, welche in ihrer durchgebil- detſten Form auch die Wand ergreift. Hier treten denn die zuſammenfaſſenden Linien-Verhältniſſe (vergl. §. 564) in das Leben. „Im Allgemeinen“: denn ihren vollen Ausdruck erhält die lebendige Einheit, die dieſes Ganze durchſtrömen ſoll, erſt in den Gliedern und im Decorativen überhaupt, das hier zwar allerdings als weſentlich mit- wirkend ſchon in’s Auge gefaßt werden muß, jedoch ohne noch zu der in §. 557, 3. vorbehaltenen näheren Betrachtung zu kommen. Ehe von der Bedeutung der Decke die Rede iſt, wird die lebendige Entwicklung jedes Theils aus dem andern überhaupt als Ausdruck jener Einheit bezeichnet, denn das wichtigſte Geheimniß ſitzt zwar in jener, aber es handelt ſich auch von Anderem, wo die Decke jene große Bedeutung nicht haben kann oder gar nicht in’s Spiel kommt. Im mehrſtockigen Palaſte z. B. ſoll ein Stockwerk auf das andere vorbereiten, ſo daß ſie in ihren ver- ſchiedenen Abſtufungen von Größe des Raumöffnenden, von äſthetiſcher Entwicklung überhaupt aus einander hervorzuwachſen ſcheinen, bis das Glänzendſte erreicht iſt und dann dieſe Bewegung in einem letzten un- ſcheinbareren und leichteren Stockwerk ſich auslebt; es erhellt daraus, wie verkehrt es wäre, den unterſten Stock am reichſten auszuſtatten. Im durchgegliederten Thurme ſoll ſich das Achteck aus dem Viereck und aus jenem die Pyramide wohlvorbereitet herausgliedern. Das Portal, die Façade überhaupt bereitet auf ein reiches und großartiges Inneres vor.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/70>, abgerufen am 25.04.2024.