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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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ohne allen Anspruch, daß man wirklichen Holzbau hier sehe. Es wird
sich schwer eine schärfere Bestimmung für das Ornament finden lassen,
als die des Paragraphen: eine spielende Ausathmung desjenigen Decora-
tiven, das noch scheinbar fungirt, wobei der Zusammenhang mit dem
letzteren ein näherer oder entfernterer sein kann. So sind nach unserer
Ansicht die Blätter, Blumen, Web-, Stick-, Flecht-Muster, welche den Glie-
dern angesetzt sind, nicht durchgängig ursprüngliches Motiv, sondern der
Schein der Function, der in den Gliedern liegt, gibt der Phantasie wei-
tern Anlaß zu einer spielenden ornamentistischen Anlegung von Formen
individueller Art, die anderswo dem Aehnliches leisten, was das Glied zu
leisten scheint. Dabei ist aber ein großer Unterschied: einige dieser spie-
lenden Bezeichnungen sind inniger, naturgemäßer, so die Muster von
Bändern, Geflechten, um ein Halten, Binden, Tragen zu bezeichnen, die
Meereswelle, um die Regenableitende Leistung des Kranzgesimses auszu-
drücken; andere aber sind willkührlicher, entfernter, wie die Blätter und
Blumen, welche Gliedern angelegt sind, die eine Ausschwellung durch Be-
lastung ausdrücken. Aber selbst ein Uebergang in thierische Form kann
wieder sehr innig charakterisiren, wie die griechischen Löwenköpfe und
gothischen Thiergestalten als Wasserspeier. Von der Volute am jonischen
Kapitel wird in der Geschichte der Style die Rede sein. Die Akroterien,
die Palmetten-Aufschläge der First- und Stirn-Ziegel haben mit den
fungirenden Kräften nur noch den ganz entfernten Zusammenhang, daß
die aufstrebende Kraft noch eine letzte, freie Blüthe entwickelt: fast wie
Uhlands Schlußsonett, das eben noch gedichtet sein will, damit die Sonetten-
reihe ein Punctum habe; ebenso die gothischen Fialen und Schlußblumen.
Dagegen ist der Rund- und Spitzbogen-Fries der romanischen und gothi-
schen Bauart ein Ornament, das fast die innigere Bedeutung eines Glie-
des hat, denn es ist motivirt durch die Reminiscenz an die wirklichen
gesimsartigen Wölbungsreihen, welche übergebaute Stockwerke zu stützen
hatten. Soviel über die fließende Natur der Grenze zwischen Glied und
Ornament und zugleich über das Wesen des letztern in seiner nächsten
Bedeutung. Der Mißbrauch des Ornaments wird da beginnen, wo alle
und jede Erinnerung an das organisch Wirkende, aller und jeder Aus-
druck einer naturgemäßen Ausathmung der Kräfte erlischt, wo das Spiel
bodenlos wird oder sogar zum Widerspruche gegen das Organische in der
Wirkung der tektonischen Kräfte ausartet, wie die Anfügung wesentlicher
Momente des Architrav-Baus als bloße Zierrath an den Gewölbebau;
der Spielraum ist aber dennoch ein großer und dürfen einer fruchtbaren
Phantasie, dem Reichen und Prachtvollen die Grenzen nicht zu eng ge-
zogen werden. Die Gebiete nun, aus denen das Ornament entnommen
wird, haben wir so eben bei der Frage über die charakterisirende Bezie-

ohne allen Anſpruch, daß man wirklichen Holzbau hier ſehe. Es wird
ſich ſchwer eine ſchärfere Beſtimmung für das Ornament finden laſſen,
als die des Paragraphen: eine ſpielende Ausathmung desjenigen Decora-
tiven, das noch ſcheinbar fungirt, wobei der Zuſammenhang mit dem
letzteren ein näherer oder entfernterer ſein kann. So ſind nach unſerer
Anſicht die Blätter, Blumen, Web-, Stick-, Flecht-Muſter, welche den Glie-
dern angeſetzt ſind, nicht durchgängig urſprüngliches Motiv, ſondern der
Schein der Function, der in den Gliedern liegt, gibt der Phantaſie wei-
tern Anlaß zu einer ſpielenden ornamentiſtiſchen Anlegung von Formen
individueller Art, die anderswo dem Aehnliches leiſten, was das Glied zu
leiſten ſcheint. Dabei iſt aber ein großer Unterſchied: einige dieſer ſpie-
lenden Bezeichnungen ſind inniger, naturgemäßer, ſo die Muſter von
Bändern, Geflechten, um ein Halten, Binden, Tragen zu bezeichnen, die
Meereswelle, um die Regenableitende Leiſtung des Kranzgeſimſes auszu-
drücken; andere aber ſind willkührlicher, entfernter, wie die Blätter und
Blumen, welche Gliedern angelegt ſind, die eine Ausſchwellung durch Be-
laſtung ausdrücken. Aber ſelbſt ein Uebergang in thieriſche Form kann
wieder ſehr innig charakteriſiren, wie die griechiſchen Löwenköpfe und
gothiſchen Thiergeſtalten als Waſſerſpeier. Von der Volute am joniſchen
Kapitel wird in der Geſchichte der Style die Rede ſein. Die Akroterien,
die Palmetten-Aufſchläge der Firſt- und Stirn-Ziegel haben mit den
fungirenden Kräften nur noch den ganz entfernten Zuſammenhang, daß
die aufſtrebende Kraft noch eine letzte, freie Blüthe entwickelt: faſt wie
Uhlands Schlußſonett, das eben noch gedichtet ſein will, damit die Sonetten-
reihe ein Punctum habe; ebenſo die gothiſchen Fialen und Schlußblumen.
Dagegen iſt der Rund- und Spitzbogen-Fries der romaniſchen und gothi-
ſchen Bauart ein Ornament, das faſt die innigere Bedeutung eines Glie-
des hat, denn es iſt motivirt durch die Reminiſcenz an die wirklichen
geſimsartigen Wölbungsreihen, welche übergebaute Stockwerke zu ſtützen
hatten. Soviel über die fließende Natur der Grenze zwiſchen Glied und
Ornament und zugleich über das Weſen des letztern in ſeiner nächſten
Bedeutung. Der Mißbrauch des Ornaments wird da beginnen, wo alle
und jede Erinnerung an das organiſch Wirkende, aller und jeder Aus-
druck einer naturgemäßen Ausathmung der Kräfte erliſcht, wo das Spiel
bodenlos wird oder ſogar zum Widerſpruche gegen das Organiſche in der
Wirkung der tektoniſchen Kräfte ausartet, wie die Anfügung weſentlicher
Momente des Architrav-Baus als bloße Zierrath an den Gewölbebau;
der Spielraum iſt aber dennoch ein großer und dürfen einer fruchtbaren
Phantaſie, dem Reichen und Prachtvollen die Grenzen nicht zu eng ge-
zogen werden. Die Gebiete nun, aus denen das Ornament entnommen
wird, haben wir ſo eben bei der Frage über die charakteriſirende Bezie-

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[246/0086] ohne allen Anſpruch, daß man wirklichen Holzbau hier ſehe. Es wird ſich ſchwer eine ſchärfere Beſtimmung für das Ornament finden laſſen, als die des Paragraphen: eine ſpielende Ausathmung desjenigen Decora- tiven, das noch ſcheinbar fungirt, wobei der Zuſammenhang mit dem letzteren ein näherer oder entfernterer ſein kann. So ſind nach unſerer Anſicht die Blätter, Blumen, Web-, Stick-, Flecht-Muſter, welche den Glie- dern angeſetzt ſind, nicht durchgängig urſprüngliches Motiv, ſondern der Schein der Function, der in den Gliedern liegt, gibt der Phantaſie wei- tern Anlaß zu einer ſpielenden ornamentiſtiſchen Anlegung von Formen individueller Art, die anderswo dem Aehnliches leiſten, was das Glied zu leiſten ſcheint. Dabei iſt aber ein großer Unterſchied: einige dieſer ſpie- lenden Bezeichnungen ſind inniger, naturgemäßer, ſo die Muſter von Bändern, Geflechten, um ein Halten, Binden, Tragen zu bezeichnen, die Meereswelle, um die Regenableitende Leiſtung des Kranzgeſimſes auszu- drücken; andere aber ſind willkührlicher, entfernter, wie die Blätter und Blumen, welche Gliedern angelegt ſind, die eine Ausſchwellung durch Be- laſtung ausdrücken. Aber ſelbſt ein Uebergang in thieriſche Form kann wieder ſehr innig charakteriſiren, wie die griechiſchen Löwenköpfe und gothiſchen Thiergeſtalten als Waſſerſpeier. Von der Volute am joniſchen Kapitel wird in der Geſchichte der Style die Rede ſein. Die Akroterien, die Palmetten-Aufſchläge der Firſt- und Stirn-Ziegel haben mit den fungirenden Kräften nur noch den ganz entfernten Zuſammenhang, daß die aufſtrebende Kraft noch eine letzte, freie Blüthe entwickelt: faſt wie Uhlands Schlußſonett, das eben noch gedichtet ſein will, damit die Sonetten- reihe ein Punctum habe; ebenſo die gothiſchen Fialen und Schlußblumen. Dagegen iſt der Rund- und Spitzbogen-Fries der romaniſchen und gothi- ſchen Bauart ein Ornament, das faſt die innigere Bedeutung eines Glie- des hat, denn es iſt motivirt durch die Reminiſcenz an die wirklichen geſimsartigen Wölbungsreihen, welche übergebaute Stockwerke zu ſtützen hatten. Soviel über die fließende Natur der Grenze zwiſchen Glied und Ornament und zugleich über das Weſen des letztern in ſeiner nächſten Bedeutung. Der Mißbrauch des Ornaments wird da beginnen, wo alle und jede Erinnerung an das organiſch Wirkende, aller und jeder Aus- druck einer naturgemäßen Ausathmung der Kräfte erliſcht, wo das Spiel bodenlos wird oder ſogar zum Widerſpruche gegen das Organiſche in der Wirkung der tektoniſchen Kräfte ausartet, wie die Anfügung weſentlicher Momente des Architrav-Baus als bloße Zierrath an den Gewölbebau; der Spielraum iſt aber dennoch ein großer und dürfen einer fruchtbaren Phantaſie, dem Reichen und Prachtvollen die Grenzen nicht zu eng ge- zogen werden. Die Gebiete nun, aus denen das Ornament entnommen wird, haben wir ſo eben bei der Frage über die charakteriſirende Bezie-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/86>, abgerufen am 25.04.2024.