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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Individualist hat nun in diesem Gebiete der Besonderheit ein weiteres
Hauptfeld für seinen herberen Styl; er wird Jugend und Alter, er wird
den Hirten, Jäger, Krieger, Gelehrten durch schärfere Züge vom Ideal
unterscheiden; überschreitet er aber die Grenze, so verletzt er das Wesen
seiner Kunst und wird gemein.

§. 622.

Der bestimmte Moment nun, in welchem die Gestalt zur Darstellung
kommt, muß durch Ungezwungenheit der Haltung in der Ruhe und Rund-
heit
jeder Bewegung das streng Gemessene (§. 617) zum Ausdruck der Zufällig-
keit und Wärme des Lebens umwandeln. Sofern sie nur nicht die Schönheit
der Linie und das, übrigens im Relief minder strenge, Gesetz des festzuhalten-
den Schwerpuncts verletzt, ist an sich jede Heftigkeit der Bewegung
zulässig.

Von der Erörterung der Stylgesetze in Behandlung der Gestalt über-
haupt und der besondern Arten der Gestalten gehen wir nun zu dem
Punct über, den wir in §. 615 ausdrücklich noch ausgeschlossen und be-
sonderer Beleuchtung vorbehalten haben: dem bestimmten Momente, worin
die Gestalt aufgefaßt und dargestellt wird. Wir könnten das Ganze unter
den Begriff der Bewegung fassen, denn auch der Zustand der Ruhe zeigt
noch vorangegangene und nachfolgende Bewegung; todte Ruhe haben nur
die Aegyptier dargestellt. Zunächst wird aber die Bewegung als blos
sinnliche gefaßt, von der geistigen noch abgesehen. Wir haben in der
Strenge der Proportionen einen Rest von Architektur gefunden, der sich
in die Bildnerkunst herein erstreckt. Dieser hat sich nun im Wellenspiele
der vollen und ganzen Gestalt wohl mit der Weichheit und Flüssigkeit
des Lebens bekleidet, aber die wahre und ganze Auflösung des Starren
tritt erst mit dem Spiele des Moments ein. Die Haltung der Ruhe
darf keine steife sein, wie jene, welche die soldatische Dressur hervorbringt;
dem Ausdruck nach wird dadurch das Gleichgewicht der Naivetät zu einem
Bilde abstracter Herrschaft des befehlenden Geistes über seinen Körper
verkehrt, dem Systeme der Linie nach tritt in einer neuen, ungehörigen
Weise das architektonisch Starre und Todte ein, das überdieß gerade die
Vorstellung des Fallens erregt, weil die gezwungene Haltung an den
mechanischen Schwerpunct so erinnert, daß der Zuschauer das Gefühl hat,
die dargestellte Person und sofort die Statue selbst habe Mühe, ihn ein-
zuhalten. Der Kopf wird sich leicht zur Seite und nach vornen neigen,
der Rücken zartgebogen erscheinen, die symmetrischen Organe, Arme und
Beine, in ungleicher Lage sich befinden; insbesondere werden die letzteren

Individualiſt hat nun in dieſem Gebiete der Beſonderheit ein weiteres
Hauptfeld für ſeinen herberen Styl; er wird Jugend und Alter, er wird
den Hirten, Jäger, Krieger, Gelehrten durch ſchärfere Züge vom Ideal
unterſcheiden; überſchreitet er aber die Grenze, ſo verletzt er das Weſen
ſeiner Kunſt und wird gemein.

§. 622.

Der beſtimmte Moment nun, in welchem die Geſtalt zur Darſtellung
kommt, muß durch Ungezwungenheit der Haltung in der Ruhe und Rund-
heit
jeder Bewegung das ſtreng Gemeſſene (§. 617) zum Ausdruck der Zufällig-
keit und Wärme des Lebens umwandeln. Sofern ſie nur nicht die Schönheit
der Linie und das, übrigens im Relief minder ſtrenge, Geſetz des feſtzuhalten-
den Schwerpuncts verletzt, iſt an ſich jede Heftigkeit der Bewegung
zuläſſig.

Von der Erörterung der Stylgeſetze in Behandlung der Geſtalt über-
haupt und der beſondern Arten der Geſtalten gehen wir nun zu dem
Punct über, den wir in §. 615 ausdrücklich noch ausgeſchloſſen und be-
ſonderer Beleuchtung vorbehalten haben: dem beſtimmten Momente, worin
die Geſtalt aufgefaßt und dargeſtellt wird. Wir könnten das Ganze unter
den Begriff der Bewegung faſſen, denn auch der Zuſtand der Ruhe zeigt
noch vorangegangene und nachfolgende Bewegung; todte Ruhe haben nur
die Aegyptier dargeſtellt. Zunächſt wird aber die Bewegung als blos
ſinnliche gefaßt, von der geiſtigen noch abgeſehen. Wir haben in der
Strenge der Proportionen einen Reſt von Architektur gefunden, der ſich
in die Bildnerkunſt herein erſtreckt. Dieſer hat ſich nun im Wellenſpiele
der vollen und ganzen Geſtalt wohl mit der Weichheit und Flüſſigkeit
des Lebens bekleidet, aber die wahre und ganze Auflöſung des Starren
tritt erſt mit dem Spiele des Moments ein. Die Haltung der Ruhe
darf keine ſteife ſein, wie jene, welche die ſoldatiſche Dreſſur hervorbringt;
dem Ausdruck nach wird dadurch das Gleichgewicht der Naivetät zu einem
Bilde abſtracter Herrſchaft des befehlenden Geiſtes über ſeinen Körper
verkehrt, dem Syſteme der Linie nach tritt in einer neuen, ungehörigen
Weiſe das architektoniſch Starre und Todte ein, das überdieß gerade die
Vorſtellung des Fallens erregt, weil die gezwungene Haltung an den
mechaniſchen Schwerpunct ſo erinnert, daß der Zuſchauer das Gefühl hat,
die dargeſtellte Perſon und ſofort die Statue ſelbſt habe Mühe, ihn ein-
zuhalten. Der Kopf wird ſich leicht zur Seite und nach vornen neigen,
der Rücken zartgebogen erſcheinen, die ſymmetriſchen Organe, Arme und
Beine, in ungleicher Lage ſich befinden; insbeſondere werden die letzteren

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[428/0102] Individualiſt hat nun in dieſem Gebiete der Beſonderheit ein weiteres Hauptfeld für ſeinen herberen Styl; er wird Jugend und Alter, er wird den Hirten, Jäger, Krieger, Gelehrten durch ſchärfere Züge vom Ideal unterſcheiden; überſchreitet er aber die Grenze, ſo verletzt er das Weſen ſeiner Kunſt und wird gemein. §. 622. Der beſtimmte Moment nun, in welchem die Geſtalt zur Darſtellung kommt, muß durch Ungezwungenheit der Haltung in der Ruhe und Rund- heit jeder Bewegung das ſtreng Gemeſſene (§. 617) zum Ausdruck der Zufällig- keit und Wärme des Lebens umwandeln. Sofern ſie nur nicht die Schönheit der Linie und das, übrigens im Relief minder ſtrenge, Geſetz des feſtzuhalten- den Schwerpuncts verletzt, iſt an ſich jede Heftigkeit der Bewegung zuläſſig. Von der Erörterung der Stylgeſetze in Behandlung der Geſtalt über- haupt und der beſondern Arten der Geſtalten gehen wir nun zu dem Punct über, den wir in §. 615 ausdrücklich noch ausgeſchloſſen und be- ſonderer Beleuchtung vorbehalten haben: dem beſtimmten Momente, worin die Geſtalt aufgefaßt und dargeſtellt wird. Wir könnten das Ganze unter den Begriff der Bewegung faſſen, denn auch der Zuſtand der Ruhe zeigt noch vorangegangene und nachfolgende Bewegung; todte Ruhe haben nur die Aegyptier dargeſtellt. Zunächſt wird aber die Bewegung als blos ſinnliche gefaßt, von der geiſtigen noch abgeſehen. Wir haben in der Strenge der Proportionen einen Reſt von Architektur gefunden, der ſich in die Bildnerkunſt herein erſtreckt. Dieſer hat ſich nun im Wellenſpiele der vollen und ganzen Geſtalt wohl mit der Weichheit und Flüſſigkeit des Lebens bekleidet, aber die wahre und ganze Auflöſung des Starren tritt erſt mit dem Spiele des Moments ein. Die Haltung der Ruhe darf keine ſteife ſein, wie jene, welche die ſoldatiſche Dreſſur hervorbringt; dem Ausdruck nach wird dadurch das Gleichgewicht der Naivetät zu einem Bilde abſtracter Herrſchaft des befehlenden Geiſtes über ſeinen Körper verkehrt, dem Syſteme der Linie nach tritt in einer neuen, ungehörigen Weiſe das architektoniſch Starre und Todte ein, das überdieß gerade die Vorſtellung des Fallens erregt, weil die gezwungene Haltung an den mechaniſchen Schwerpunct ſo erinnert, daß der Zuſchauer das Gefühl hat, die dargeſtellte Perſon und ſofort die Statue ſelbſt habe Mühe, ihn ein- zuhalten. Der Kopf wird ſich leicht zur Seite und nach vornen neigen, der Rücken zartgebogen erſcheinen, die ſymmetriſchen Organe, Arme und Beine, in ungleicher Lage ſich befinden; insbeſondere werden die letzteren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/102>, abgerufen am 25.04.2024.