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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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des Gestoßenen. Im Relief ist dagegen natürlich auch hier der Umfang
des Darstellbaren größer, denn der Grund ist zwar indifferente Fläche,
aber doch auch wieder Anklang mitdargestellter Umgebung, Luft, Wassers
u. s. w., doch muß den taumelnden Bacchus wenigstens ein gegenge-
stemmter Satyr halten, damit ein Gleichgewicht hergestellt sei; Flug und
Fall dagegen kommt hier ungehindert zur Nachbildung.

§. 623.

Die Heftigkeit der körperlichen Bewegung überschreitet aber die Schön-
heitslinie der Bildnerkunst dann, wenn in ihr eine Bewegung der Seele aus-
bricht, worin ihr inneres Gleichgewicht aufgehoben ist. Das Stylgesetz in
seiner Anwendung auf den Ausdruck des Seelenlebens verbietet nicht
die Darstellung starker und voller, wohl aber absoluter Affecte, welche in
der Gestalt als Verzerrung erscheinen. Je näher ein Stoff dieser starken Form
des Häßlichen, desto schwerer die Aufgabe, dieß Häßliche in ein Furchtbares
oder Komisches so aufzulösen, daß dennoch dem Gesetze der directen Idealisi-
rung Genüge geschieht.

Die Frage über das Maaß der Bewegung ist es, die durch natürli-
chen Uebergang zur letzten, wichtigsten Seite der inneren Bestimmt-
heit
der plastischen Darstellung oder des Stylgesetzes führt, zu der Be-
trachtung des Ausdrucks in unserer Kunst. Denn jenes Positive, dessen
Zutritt erst den wahren Aufschluß über das erlaubte Maaß der äußern
Bewegungen gibt, ist der Affect, und so sind wir auf diesen geführt als
ersten Punct der Erörterung über den Umfang des psychisch Darstell-
baren. Im Affecte schlägt die Seele heraus aus ihrem Innern, fluthet
aus ihrem Centrum, ist auf etwas außen Liegendes gewaltsam bezogen;
es muß aber durch diese Aufwallung nicht nur die augenblickliche, sondern
auch die stetige innere Beschaffenheit der Seele zum Vorschein kommen,
und so fassen wir denn das Seelenleben selbst zunächst von außen und
gehen fort nach innen. Wie nun im Affecte das Stetige und Bleibende
des Seelenlebens sich zu erkennen gibt, indem es durch Bewegung seine
Kräfte auseinanderlegt, so wird gleichzeitig alles Bewegende und Beweg-
liche im Körper, das in der Einheit der Ruhe schlummerte, in seinem
Grunde aufgeregt und tritt in der Form der Ausdrücklichkeit hervor. Es
kann gar keine Frage sein, daß die Bildnerkunst ebenso berufen sein
muß, dieß aufgewühlte Meer, als die Meeresstille darzustellen; aber
ebensowenig kann darüber ein Zweifel sein, daß das Maaß dieser Auf-
wühlung für die Plastik seine scharf bestimmte, für den Naturalisten, dem
wir auch hier begegnen und dessen Richtung auf diesem Gebiete sich wie-
der besonders kenntlich macht, freilich weiter ausgesteckte Grenze hat durch

des Geſtoßenen. Im Relief iſt dagegen natürlich auch hier der Umfang
des Darſtellbaren größer, denn der Grund iſt zwar indifferente Fläche,
aber doch auch wieder Anklang mitdargeſtellter Umgebung, Luft, Waſſers
u. ſ. w., doch muß den taumelnden Bacchus wenigſtens ein gegenge-
ſtemmter Satyr halten, damit ein Gleichgewicht hergeſtellt ſei; Flug und
Fall dagegen kommt hier ungehindert zur Nachbildung.

§. 623.

Die Heftigkeit der körperlichen Bewegung überſchreitet aber die Schön-
heitslinie der Bildnerkunſt dann, wenn in ihr eine Bewegung der Seele aus-
bricht, worin ihr inneres Gleichgewicht aufgehoben iſt. Das Stylgeſetz in
ſeiner Anwendung auf den Ausdruck des Seelenlebens verbietet nicht
die Darſtellung ſtarker und voller, wohl aber abſoluter Affecte, welche in
der Geſtalt als Verzerrung erſcheinen. Je näher ein Stoff dieſer ſtarken Form
des Häßlichen, deſto ſchwerer die Aufgabe, dieß Häßliche in ein Furchtbares
oder Komiſches ſo aufzulöſen, daß dennoch dem Geſetze der directen Idealiſi-
rung Genüge geſchieht.

Die Frage über das Maaß der Bewegung iſt es, die durch natürli-
chen Uebergang zur letzten, wichtigſten Seite der inneren Beſtimmt-
heit
der plaſtiſchen Darſtellung oder des Stylgeſetzes führt, zu der Be-
trachtung des Ausdrucks in unſerer Kunſt. Denn jenes Poſitive, deſſen
Zutritt erſt den wahren Aufſchluß über das erlaubte Maaß der äußern
Bewegungen gibt, iſt der Affect, und ſo ſind wir auf dieſen geführt als
erſten Punct der Erörterung über den Umfang des pſychiſch Darſtell-
baren. Im Affecte ſchlägt die Seele heraus aus ihrem Innern, fluthet
aus ihrem Centrum, iſt auf etwas außen Liegendes gewaltſam bezogen;
es muß aber durch dieſe Aufwallung nicht nur die augenblickliche, ſondern
auch die ſtetige innere Beſchaffenheit der Seele zum Vorſchein kommen,
und ſo faſſen wir denn das Seelenleben ſelbſt zunächſt von außen und
gehen fort nach innen. Wie nun im Affecte das Stetige und Bleibende
des Seelenlebens ſich zu erkennen gibt, indem es durch Bewegung ſeine
Kräfte auseinanderlegt, ſo wird gleichzeitig alles Bewegende und Beweg-
liche im Körper, das in der Einheit der Ruhe ſchlummerte, in ſeinem
Grunde aufgeregt und tritt in der Form der Ausdrücklichkeit hervor. Es
kann gar keine Frage ſein, daß die Bildnerkunſt ebenſo berufen ſein
muß, dieß aufgewühlte Meer, als die Meeresſtille darzuſtellen; aber
ebenſowenig kann darüber ein Zweifel ſein, daß das Maaß dieſer Auf-
wühlung für die Plaſtik ſeine ſcharf beſtimmte, für den Naturaliſten, dem
wir auch hier begegnen und deſſen Richtung auf dieſem Gebiete ſich wie-
der beſonders kenntlich macht, freilich weiter ausgeſteckte Grenze hat durch

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[430/0104] des Geſtoßenen. Im Relief iſt dagegen natürlich auch hier der Umfang des Darſtellbaren größer, denn der Grund iſt zwar indifferente Fläche, aber doch auch wieder Anklang mitdargeſtellter Umgebung, Luft, Waſſers u. ſ. w., doch muß den taumelnden Bacchus wenigſtens ein gegenge- ſtemmter Satyr halten, damit ein Gleichgewicht hergeſtellt ſei; Flug und Fall dagegen kommt hier ungehindert zur Nachbildung. §. 623. Die Heftigkeit der körperlichen Bewegung überſchreitet aber die Schön- heitslinie der Bildnerkunſt dann, wenn in ihr eine Bewegung der Seele aus- bricht, worin ihr inneres Gleichgewicht aufgehoben iſt. Das Stylgeſetz in ſeiner Anwendung auf den Ausdruck des Seelenlebens verbietet nicht die Darſtellung ſtarker und voller, wohl aber abſoluter Affecte, welche in der Geſtalt als Verzerrung erſcheinen. Je näher ein Stoff dieſer ſtarken Form des Häßlichen, deſto ſchwerer die Aufgabe, dieß Häßliche in ein Furchtbares oder Komiſches ſo aufzulöſen, daß dennoch dem Geſetze der directen Idealiſi- rung Genüge geſchieht. Die Frage über das Maaß der Bewegung iſt es, die durch natürli- chen Uebergang zur letzten, wichtigſten Seite der inneren Beſtimmt- heit der plaſtiſchen Darſtellung oder des Stylgeſetzes führt, zu der Be- trachtung des Ausdrucks in unſerer Kunſt. Denn jenes Poſitive, deſſen Zutritt erſt den wahren Aufſchluß über das erlaubte Maaß der äußern Bewegungen gibt, iſt der Affect, und ſo ſind wir auf dieſen geführt als erſten Punct der Erörterung über den Umfang des pſychiſch Darſtell- baren. Im Affecte ſchlägt die Seele heraus aus ihrem Innern, fluthet aus ihrem Centrum, iſt auf etwas außen Liegendes gewaltſam bezogen; es muß aber durch dieſe Aufwallung nicht nur die augenblickliche, ſondern auch die ſtetige innere Beſchaffenheit der Seele zum Vorſchein kommen, und ſo faſſen wir denn das Seelenleben ſelbſt zunächſt von außen und gehen fort nach innen. Wie nun im Affecte das Stetige und Bleibende des Seelenlebens ſich zu erkennen gibt, indem es durch Bewegung ſeine Kräfte auseinanderlegt, ſo wird gleichzeitig alles Bewegende und Beweg- liche im Körper, das in der Einheit der Ruhe ſchlummerte, in ſeinem Grunde aufgeregt und tritt in der Form der Ausdrücklichkeit hervor. Es kann gar keine Frage ſein, daß die Bildnerkunſt ebenſo berufen ſein muß, dieß aufgewühlte Meer, als die Meeresſtille darzuſtellen; aber ebenſowenig kann darüber ein Zweifel ſein, daß das Maaß dieſer Auf- wühlung für die Plaſtik ſeine ſcharf beſtimmte, für den Naturaliſten, dem wir auch hier begegnen und deſſen Richtung auf dieſem Gebiete ſich wie- der beſonders kenntlich macht, freilich weiter ausgeſteckte Grenze hat durch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/104>, abgerufen am 16.04.2024.