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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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diese im kleinen Mienenspiel aus, so fühlt man den warmen Strom, der
die ganze Seele aufrichtig durchdringt und, wo er anschwillt, im vollen
Wellenschlage einer ganzen und gewaltigen Leidenschaft hervorbrechen wird.

2. Die Zurückziehung der Bewegung in's Innere, die blos theil-
weise Erscheinung derselben im Aeußern führt, allgemeiner genom-
men, auf das ganze Gebiet derjenigen Gestalt des geistigen Lebens,
welche durch das Christenthum und das germanische Naturell, die
große moderne Krisis des Bewußtseins sich ausgebildet hat: des gei-
stigen Lebens, das sich in seiner Unendlichkeit dem ausdrücklich als
endlich gesetzten Ganzen seiner Sinnlichkeit gegenüber weiß und setzt und
nur durch diese Negation zur Versöhnung mit seiner eigenen endlichen
Realität und der übrigen Welt fortgeht. Es liegt in dieser Geistesform
eine Welt von Affecten, von Stimmungen, Eigenschaften, Tugenden, die
als Affecte hervortreten können, welche der bildnerischen Darstellung un-
endliche Schwierigkeiten entgegenhält. Im religiösen Gebiete Reue, Buße,
Zerknirschung, Glaube, Andacht, innige Versöhnung und Liebe, im welt-
lich-sittlichen die Gefühle der Ehre, der Treue, der Schaam im verfei-
nerten subjectiven Sinn, der Liebe, jener oben bezeichnete abstract mo-
ralische Kampf des Willens mit den verschiedensten Affecten: alles dieß
geht, streng genommen und die Consequenz des §. 605 straff gezogen,
über die Mittel der Sculptur hinaus. Doch ist eine Erweiterung der
strengen Grenzlinie denkbar: glückliche Erhaltung von Rechten oder
Anklängen einer dem Antiken verwandten Gediegenheit, Großheit,
Würde in den Bildungsformen einer Zeit, der dieß innerliche Leben
aufgegangen ist, und die Stylbildende Kraft tüchtiger Meister werden auch
diesen Stoff in gewissem Grade zu bezwingen vermögen. Das Weitere
gehört in die Geschichte.

§. 625.

Diese sämmtlichen Bestimmungen über die Behandlung der Formen des1.
Ausdrucks führen jedoch schließlich auf den Satz, daß der würdigste Gegen-
stand der bildnerischen Darstellung die reine Ruhe und Stille der Seele
und ihrer leiblichen Erscheinung ist. Der Charakter, dessen inneres Gleich-2.
gewicht (§. 605) in dieser Ruhe sich offenbart, vertritt ein bestimmtes sitt-
liches Moment
, und bindet eine nur ihm eigene Mischung der Kräfte dadurch
zu ethischer Einheit zusammen. Die individuelle Eigenheit der Gestalt erscheint
nun als Eigenheit des geistigen Ausdrucks, ihre Darstellung bleibt aber auch
so in verhältnißmäßig enge Grenzen eingeschlossen (vergl. §. 615. 616). Alle
nunmehr entwickelten Bedingungen wirken aber dahin zusammen, daß die Bild-
nerkunst ihr Wesen am reinsten ausspricht, wenn sie die Erscheinung dieser

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dieſe im kleinen Mienenſpiel aus, ſo fühlt man den warmen Strom, der
die ganze Seele aufrichtig durchdringt und, wo er anſchwillt, im vollen
Wellenſchlage einer ganzen und gewaltigen Leidenſchaft hervorbrechen wird.

2. Die Zurückziehung der Bewegung in’s Innere, die blos theil-
weiſe Erſcheinung derſelben im Aeußern führt, allgemeiner genom-
men, auf das ganze Gebiet derjenigen Geſtalt des geiſtigen Lebens,
welche durch das Chriſtenthum und das germaniſche Naturell, die
große moderne Kriſis des Bewußtſeins ſich ausgebildet hat: des gei-
ſtigen Lebens, das ſich in ſeiner Unendlichkeit dem ausdrücklich als
endlich geſetzten Ganzen ſeiner Sinnlichkeit gegenüber weiß und ſetzt und
nur durch dieſe Negation zur Verſöhnung mit ſeiner eigenen endlichen
Realität und der übrigen Welt fortgeht. Es liegt in dieſer Geiſtesform
eine Welt von Affecten, von Stimmungen, Eigenſchaften, Tugenden, die
als Affecte hervortreten können, welche der bildneriſchen Darſtellung un-
endliche Schwierigkeiten entgegenhält. Im religiöſen Gebiete Reue, Buße,
Zerknirſchung, Glaube, Andacht, innige Verſöhnung und Liebe, im welt-
lich-ſittlichen die Gefühle der Ehre, der Treue, der Schaam im verfei-
nerten ſubjectiven Sinn, der Liebe, jener oben bezeichnete abſtract mo-
raliſche Kampf des Willens mit den verſchiedenſten Affecten: alles dieß
geht, ſtreng genommen und die Conſequenz des §. 605 ſtraff gezogen,
über die Mittel der Sculptur hinaus. Doch iſt eine Erweiterung der
ſtrengen Grenzlinie denkbar: glückliche Erhaltung von Rechten oder
Anklängen einer dem Antiken verwandten Gediegenheit, Großheit,
Würde in den Bildungsformen einer Zeit, der dieß innerliche Leben
aufgegangen iſt, und die Stylbildende Kraft tüchtiger Meiſter werden auch
dieſen Stoff in gewiſſem Grade zu bezwingen vermögen. Das Weitere
gehört in die Geſchichte.

§. 625.

Dieſe ſämmtlichen Beſtimmungen über die Behandlung der Formen des1.
Ausdrucks führen jedoch ſchließlich auf den Satz, daß der würdigſte Gegen-
ſtand der bildneriſchen Darſtellung die reine Ruhe und Stille der Seele
und ihrer leiblichen Erſcheinung iſt. Der Charakter, deſſen inneres Gleich-2.
gewicht (§. 605) in dieſer Ruhe ſich offenbart, vertritt ein beſtimmtes ſitt-
liches Moment
, und bindet eine nur ihm eigene Miſchung der Kräfte dadurch
zu ethiſcher Einheit zuſammen. Die individuelle Eigenheit der Geſtalt erſcheint
nun als Eigenheit des geiſtigen Ausdrucks, ihre Darſtellung bleibt aber auch
ſo in verhältnißmäßig enge Grenzen eingeſchloſſen (vergl. §. 615. 616). Alle
nunmehr entwickelten Bedingungen wirken aber dahin zuſammen, daß die Bild-
nerkunſt ihr Weſen am reinſten ausſpricht, wenn ſie die Erſcheinung dieſer

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[437/0111] dieſe im kleinen Mienenſpiel aus, ſo fühlt man den warmen Strom, der die ganze Seele aufrichtig durchdringt und, wo er anſchwillt, im vollen Wellenſchlage einer ganzen und gewaltigen Leidenſchaft hervorbrechen wird. 2. Die Zurückziehung der Bewegung in’s Innere, die blos theil- weiſe Erſcheinung derſelben im Aeußern führt, allgemeiner genom- men, auf das ganze Gebiet derjenigen Geſtalt des geiſtigen Lebens, welche durch das Chriſtenthum und das germaniſche Naturell, die große moderne Kriſis des Bewußtſeins ſich ausgebildet hat: des gei- ſtigen Lebens, das ſich in ſeiner Unendlichkeit dem ausdrücklich als endlich geſetzten Ganzen ſeiner Sinnlichkeit gegenüber weiß und ſetzt und nur durch dieſe Negation zur Verſöhnung mit ſeiner eigenen endlichen Realität und der übrigen Welt fortgeht. Es liegt in dieſer Geiſtesform eine Welt von Affecten, von Stimmungen, Eigenſchaften, Tugenden, die als Affecte hervortreten können, welche der bildneriſchen Darſtellung un- endliche Schwierigkeiten entgegenhält. Im religiöſen Gebiete Reue, Buße, Zerknirſchung, Glaube, Andacht, innige Verſöhnung und Liebe, im welt- lich-ſittlichen die Gefühle der Ehre, der Treue, der Schaam im verfei- nerten ſubjectiven Sinn, der Liebe, jener oben bezeichnete abſtract mo- raliſche Kampf des Willens mit den verſchiedenſten Affecten: alles dieß geht, ſtreng genommen und die Conſequenz des §. 605 ſtraff gezogen, über die Mittel der Sculptur hinaus. Doch iſt eine Erweiterung der ſtrengen Grenzlinie denkbar: glückliche Erhaltung von Rechten oder Anklängen einer dem Antiken verwandten Gediegenheit, Großheit, Würde in den Bildungsformen einer Zeit, der dieß innerliche Leben aufgegangen iſt, und die Stylbildende Kraft tüchtiger Meiſter werden auch dieſen Stoff in gewiſſem Grade zu bezwingen vermögen. Das Weitere gehört in die Geſchichte. §. 625. Dieſe ſämmtlichen Beſtimmungen über die Behandlung der Formen des Ausdrucks führen jedoch ſchließlich auf den Satz, daß der würdigſte Gegen- ſtand der bildneriſchen Darſtellung die reine Ruhe und Stille der Seele und ihrer leiblichen Erſcheinung iſt. Der Charakter, deſſen inneres Gleich- gewicht (§. 605) in dieſer Ruhe ſich offenbart, vertritt ein beſtimmtes ſitt- liches Moment, und bindet eine nur ihm eigene Miſchung der Kräfte dadurch zu ethiſcher Einheit zuſammen. Die individuelle Eigenheit der Geſtalt erſcheint nun als Eigenheit des geiſtigen Ausdrucks, ihre Darſtellung bleibt aber auch ſo in verhältnißmäßig enge Grenzen eingeſchloſſen (vergl. §. 615. 616). Alle nunmehr entwickelten Bedingungen wirken aber dahin zuſammen, daß die Bild- nerkunſt ihr Weſen am reinſten ausſpricht, wenn ſie die Erſcheinung dieſer 29*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/111>, abgerufen am 24.04.2024.