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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Stimmung erregt, die im A. Test. ausgesprochen ist, da der Herr alle
seine Werke beschaut und siehe da! sie waren sehr gut.

§. 626.

1.

Die Composition drückt in der Bildnerkunst ihr inneres Leben we-
sentlich in Linien-Verhältnissen aus. Die hier auf's Neue sichtbare
Verwandtschaft mit der Baukunst tritt ferner darin hervor, daß Ueberordnung
und Unterordnung sich vielfach in Unterschiede des Größenmaaßes verwandeln
und daß in dem Gegenübergestellten (§. 497, 1.) architektonische Symmetrie
2.anklingt. In der Hauptaufgabe der Sculptur, der einzelnen Bildsäule,
wo dieß Größenverhältniß seine Anwendung bei dem Attribute findet, entwi-
ckelt die Composition ihre Thätigkeit nach sämmtlichen Momenten (§. 495 --
501) am Gliederbau, der Haltung und Bewegung der Gestalt.

1. Das Bildwerk ist nicht eine Licht- und Schatten-Einheit, denn das Licht
ist ja hier nur das aufzeigende Medium, in welches die wirklich raum-
füllende Gestalt hineingestellt wird; das natürliche Licht wechselt und zeigt
die Schönheit nach verschiedenen Seiten, das Bleibende in diesem Wech-
sel ist das Formenleben, wie es in der Linie als der Grenze des Festen
ausgesprochen ist. Darstellung der Kraft, Ruhe, des Leidens, der Geistes-
form, des Charakters: alles Innere geht in dieses Linien-Leben heraus,
findet darin seinen Ausdruck, wird in diesem körperlichen Niederschlage,
seinen Wellen, Zügen, Flächen, dem Gesammtbilde des Divergirenden und
Convergirenden, Ansteigenden und Absinkenden, Eingetieftem und Erho-
benen durchgefühlt. Die Linie ist daher hier ganz ein von qualitativem
Leben durchdrungenes Quantitatives, und zwar anders, als in der Bau-
kunst, wo sie nur andeutet. Jene Symbolik der Linie (vergl. §. 564)
ist nicht aufgehoben; es herrscht insbesondere die runde mit der dort aus-
gesprochenen Bedeutung, sie liegt auch der Mimik der Bewegungen zu
Grunde; aber das Symbolische ist zugleich unendlich überwunden, indem
es in den Formen des Leibes lebt, welcher der innewohnenden Seele als
ununterschieden eigenes Organ angehört, und indem ein unendliches In-
einander von Linien die Bedeutung der einzelnen in dieß Ganze so auf-
hebt, daß sie für sich nicht mehr zu verfolgen ist. Es handelt sich aber
nicht nur von dem einzelnen Körper, sondern ebenso von dem Rhythmus
in einer Verbindung mehrerer, wo denn das innere Leben der Gruppe
in einer reicheren Musik von Linien sich verkörpert. -- Ist nun dieses
Linien-Leben ein qualitatives, so tritt doch im Qualitativen selbst noch
einmal das Quantitative auf, indem Dignitäts-Grade sich in Größen-
Unterschiede übersetzen, wie dieß einer Kunst natürlich ist, welche, obwohl
zum Erhabenen des geistigen Ausdrucks fortgeschritten, doch das Erhabene

Stimmung erregt, die im A. Teſt. ausgeſprochen iſt, da der Herr alle
ſeine Werke beſchaut und ſiehe da! ſie waren ſehr gut.

§. 626.

1.

Die Compoſition drückt in der Bildnerkunſt ihr inneres Leben we-
ſentlich in Linien-Verhältniſſen aus. Die hier auf’s Neue ſichtbare
Verwandtſchaft mit der Baukunſt tritt ferner darin hervor, daß Ueberordnung
und Unterordnung ſich vielfach in Unterſchiede des Größenmaaßes verwandeln
und daß in dem Gegenübergeſtellten (§. 497, 1.) architektoniſche Symmetrie
2.anklingt. In der Hauptaufgabe der Sculptur, der einzelnen Bildſäule,
wo dieß Größenverhältniß ſeine Anwendung bei dem Attribute findet, entwi-
ckelt die Compoſition ihre Thätigkeit nach ſämmtlichen Momenten (§. 495 —
501) am Gliederbau, der Haltung und Bewegung der Geſtalt.

1. Das Bildwerk iſt nicht eine Licht- und Schatten-Einheit, denn das Licht
iſt ja hier nur das aufzeigende Medium, in welches die wirklich raum-
füllende Geſtalt hineingeſtellt wird; das natürliche Licht wechſelt und zeigt
die Schönheit nach verſchiedenen Seiten, das Bleibende in dieſem Wech-
ſel iſt das Formenleben, wie es in der Linie als der Grenze des Feſten
ausgeſprochen iſt. Darſtellung der Kraft, Ruhe, des Leidens, der Geiſtes-
form, des Charakters: alles Innere geht in dieſes Linien-Leben heraus,
findet darin ſeinen Ausdruck, wird in dieſem körperlichen Niederſchlage,
ſeinen Wellen, Zügen, Flächen, dem Geſammtbilde des Divergirenden und
Convergirenden, Anſteigenden und Abſinkenden, Eingetieftem und Erho-
benen durchgefühlt. Die Linie iſt daher hier ganz ein von qualitativem
Leben durchdrungenes Quantitatives, und zwar anders, als in der Bau-
kunſt, wo ſie nur andeutet. Jene Symbolik der Linie (vergl. §. 564)
iſt nicht aufgehoben; es herrſcht insbeſondere die runde mit der dort aus-
geſprochenen Bedeutung, ſie liegt auch der Mimik der Bewegungen zu
Grunde; aber das Symboliſche iſt zugleich unendlich überwunden, indem
es in den Formen des Leibes lebt, welcher der innewohnenden Seele als
ununterſchieden eigenes Organ angehört, und indem ein unendliches In-
einander von Linien die Bedeutung der einzelnen in dieß Ganze ſo auf-
hebt, daß ſie für ſich nicht mehr zu verfolgen iſt. Es handelt ſich aber
nicht nur von dem einzelnen Körper, ſondern ebenſo von dem Rhythmus
in einer Verbindung mehrerer, wo denn das innere Leben der Gruppe
in einer reicheren Muſik von Linien ſich verkörpert. — Iſt nun dieſes
Linien-Leben ein qualitatives, ſo tritt doch im Qualitativen ſelbſt noch
einmal das Quantitative auf, indem Dignitäts-Grade ſich in Größen-
Unterſchiede überſetzen, wie dieß einer Kunſt natürlich iſt, welche, obwohl
zum Erhabenen des geiſtigen Ausdrucks fortgeſchritten, doch das Erhabene

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[444/0118] Stimmung erregt, die im A. Teſt. ausgeſprochen iſt, da der Herr alle ſeine Werke beſchaut und ſiehe da! ſie waren ſehr gut. §. 626. Die Compoſition drückt in der Bildnerkunſt ihr inneres Leben we- ſentlich in Linien-Verhältniſſen aus. Die hier auf’s Neue ſichtbare Verwandtſchaft mit der Baukunſt tritt ferner darin hervor, daß Ueberordnung und Unterordnung ſich vielfach in Unterſchiede des Größenmaaßes verwandeln und daß in dem Gegenübergeſtellten (§. 497, 1.) architektoniſche Symmetrie anklingt. In der Hauptaufgabe der Sculptur, der einzelnen Bildſäule, wo dieß Größenverhältniß ſeine Anwendung bei dem Attribute findet, entwi- ckelt die Compoſition ihre Thätigkeit nach ſämmtlichen Momenten (§. 495 — 501) am Gliederbau, der Haltung und Bewegung der Geſtalt. 1. Das Bildwerk iſt nicht eine Licht- und Schatten-Einheit, denn das Licht iſt ja hier nur das aufzeigende Medium, in welches die wirklich raum- füllende Geſtalt hineingeſtellt wird; das natürliche Licht wechſelt und zeigt die Schönheit nach verſchiedenen Seiten, das Bleibende in dieſem Wech- ſel iſt das Formenleben, wie es in der Linie als der Grenze des Feſten ausgeſprochen iſt. Darſtellung der Kraft, Ruhe, des Leidens, der Geiſtes- form, des Charakters: alles Innere geht in dieſes Linien-Leben heraus, findet darin ſeinen Ausdruck, wird in dieſem körperlichen Niederſchlage, ſeinen Wellen, Zügen, Flächen, dem Geſammtbilde des Divergirenden und Convergirenden, Anſteigenden und Abſinkenden, Eingetieftem und Erho- benen durchgefühlt. Die Linie iſt daher hier ganz ein von qualitativem Leben durchdrungenes Quantitatives, und zwar anders, als in der Bau- kunſt, wo ſie nur andeutet. Jene Symbolik der Linie (vergl. §. 564) iſt nicht aufgehoben; es herrſcht insbeſondere die runde mit der dort aus- geſprochenen Bedeutung, ſie liegt auch der Mimik der Bewegungen zu Grunde; aber das Symboliſche iſt zugleich unendlich überwunden, indem es in den Formen des Leibes lebt, welcher der innewohnenden Seele als ununterſchieden eigenes Organ angehört, und indem ein unendliches In- einander von Linien die Bedeutung der einzelnen in dieß Ganze ſo auf- hebt, daß ſie für ſich nicht mehr zu verfolgen iſt. Es handelt ſich aber nicht nur von dem einzelnen Körper, ſondern ebenſo von dem Rhythmus in einer Verbindung mehrerer, wo denn das innere Leben der Gruppe in einer reicheren Muſik von Linien ſich verkörpert. — Iſt nun dieſes Linien-Leben ein qualitatives, ſo tritt doch im Qualitativen ſelbſt noch einmal das Quantitative auf, indem Dignitäts-Grade ſich in Größen- Unterſchiede überſetzen, wie dieß einer Kunſt natürlich iſt, welche, obwohl zum Erhabenen des geiſtigen Ausdrucks fortgeſchritten, doch das Erhabene

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/118>, abgerufen am 18.04.2024.