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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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lich Menschlichen, Leidenden, die Brüder den nicht so schroffen, doch schnei-
dend starken der strafenden Härte, beide unter sich den mildern der bloßen
Beihülfe (Amphion) und der grausamen Ausführung (Zethos); der Zug
der Linien geht stark von links nach rechts (vom Zuschauer) aufwärts von
der schönen doppelten Wendung der Dirke nach dem Stier empor; dieser
Bewegung arbeitet Zethos entgegen, der bemüht ist, den Stier am Strick
herzureißen, und sich daher von rechts nach links hinüberdrückt und dort
den Anklang des Pyramidalen auf der einen Seite herstellt, während
Amphion auf der andern den Stier an Horn und Maul haltend sich mit
gespreizten Beinen anstemmt und so, die Linien-Bewegung auf diesem
Puncte fest abschließend, die Ausfüllung der Pyramide vollendet.

§. 629.

Durch den Anschluß an die Baukunst wird es möglich, die verschiedenen
Arten: einzelne Figur, Relief, angelehnte und ganz freie Gruppe zur Entwick-
lung einer inhaltsvollen Idee in einem cyklischen Ganzen zu verbinden.

Das Hauptband der cyklischen Composition ist das Relief, auf dessen
fortführenden, überleitenden Charakter schon §. 611 Anm. hingewiesen ist;
es tritt nun mit den andern Formen zur Entfaltung eines umfassenden
Künstlergedankens zusammen. Eines der herrlichsten Beispiele solchen gro-
ßen Gesammtwirkens ist der Parthenon: die Metopen mit ihren Darstel-
lungen des alten Athene-Cultus, der Thaten der Athene und des Erech-
theus, der Kämpfe für Civilisation und Menschlichkeit gegen wilde Wei-
bervölker und Halbthiere, die Theseus und seine Gefährten unter ihrem
Schutze vollbracht, die Giebelfelder mit dem Bilde des ersten, Staunenerre-
genden Erscheinens der Athene unter den Göttern, ihres Sieges über das
noch ungebändigte Pferd, dann hineinleitend zur Erscheinung der Göt-
tinn der Panathenäenzug des Cellafrieses und endlich die Herrliche selbst
im Heiligthum; nicht zu gedenken der Propyläen, des Nike-Tempels, des
Erechtheums, des Waldes von Statuen umher, was Alles auf den Ge-
nius aller Bildung und Intelligenz und der Tapferkeit für die großen
Zwecke prachtvoll hinwies. Die freie Gruppe fand, weil sie eigentlich
die Gottheit in das Viele auflöst, seltener ihre Stelle da, wo diese in
ihrer ungetheilten Majestät thronen soll, nämlich mitten im Heiligthum;
doch gab es ja auch Tempel für zwei und mehrere vereinigte Götter, nur
ist dabei immer eine ruhige Gruppe vorausgesetzt; übrigens kann sie auch
vor den Tempel in's Freie treten, sie kann den Festraum des Palastes,
der ebenso die verschiedensten Darstellungen zum Ausdruck Einer großen
(politischen, ethischen) Idee zu vereinigen vermag, Vorhaus, Säulenhof
schmücken. Auf Gallerieen kann noch eine Menge von einzelnen freien Sta-
tuen hinzutreten und einen umfassenden Gedanken weiter fortführen.


lich Menſchlichen, Leidenden, die Brüder den nicht ſo ſchroffen, doch ſchnei-
dend ſtarken der ſtrafenden Härte, beide unter ſich den mildern der bloßen
Beihülfe (Amphion) und der grauſamen Ausführung (Zethos); der Zug
der Linien geht ſtark von links nach rechts (vom Zuſchauer) aufwärts von
der ſchönen doppelten Wendung der Dirke nach dem Stier empor; dieſer
Bewegung arbeitet Zethos entgegen, der bemüht iſt, den Stier am Strick
herzureißen, und ſich daher von rechts nach links hinüberdrückt und dort
den Anklang des Pyramidalen auf der einen Seite herſtellt, während
Amphion auf der andern den Stier an Horn und Maul haltend ſich mit
geſpreizten Beinen anſtemmt und ſo, die Linien-Bewegung auf dieſem
Puncte feſt abſchließend, die Ausfüllung der Pyramide vollendet.

§. 629.

Durch den Anſchluß an die Baukunſt wird es möglich, die verſchiedenen
Arten: einzelne Figur, Relief, angelehnte und ganz freie Gruppe zur Entwick-
lung einer inhaltsvollen Idee in einem cykliſchen Ganzen zu verbinden.

Das Hauptband der cykliſchen Compoſition iſt das Relief, auf deſſen
fortführenden, überleitenden Charakter ſchon §. 611 Anm. hingewieſen iſt;
es tritt nun mit den andern Formen zur Entfaltung eines umfaſſenden
Künſtlergedankens zuſammen. Eines der herrlichſten Beiſpiele ſolchen gro-
ßen Geſammtwirkens iſt der Parthenon: die Metopen mit ihren Darſtel-
lungen des alten Athene-Cultus, der Thaten der Athene und des Erech-
theus, der Kämpfe für Civiliſation und Menſchlichkeit gegen wilde Wei-
bervölker und Halbthiere, die Theſeus und ſeine Gefährten unter ihrem
Schutze vollbracht, die Giebelfelder mit dem Bilde des erſten, Staunenerre-
genden Erſcheinens der Athene unter den Göttern, ihres Sieges über das
noch ungebändigte Pferd, dann hineinleitend zur Erſcheinung der Göt-
tinn der Panathenäenzug des Cellafrieſes und endlich die Herrliche ſelbſt
im Heiligthum; nicht zu gedenken der Propyläen, des Nike-Tempels, des
Erechtheums, des Waldes von Statuen umher, was Alles auf den Ge-
nius aller Bildung und Intelligenz und der Tapferkeit für die großen
Zwecke prachtvoll hinwies. Die freie Gruppe fand, weil ſie eigentlich
die Gottheit in das Viele auflöst, ſeltener ihre Stelle da, wo dieſe in
ihrer ungetheilten Majeſtät thronen ſoll, nämlich mitten im Heiligthum;
doch gab es ja auch Tempel für zwei und mehrere vereinigte Götter, nur
iſt dabei immer eine ruhige Gruppe vorausgeſetzt; übrigens kann ſie auch
vor den Tempel in’s Freie treten, ſie kann den Feſtraum des Palaſtes,
der ebenſo die verſchiedenſten Darſtellungen zum Ausdruck Einer großen
(politiſchen, ethiſchen) Idee zu vereinigen vermag, Vorhaus, Säulenhof
ſchmücken. Auf Gallerieen kann noch eine Menge von einzelnen freien Sta-
tuen hinzutreten und einen umfaſſenden Gedanken weiter fortführen.


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[454/0128] lich Menſchlichen, Leidenden, die Brüder den nicht ſo ſchroffen, doch ſchnei- dend ſtarken der ſtrafenden Härte, beide unter ſich den mildern der bloßen Beihülfe (Amphion) und der grauſamen Ausführung (Zethos); der Zug der Linien geht ſtark von links nach rechts (vom Zuſchauer) aufwärts von der ſchönen doppelten Wendung der Dirke nach dem Stier empor; dieſer Bewegung arbeitet Zethos entgegen, der bemüht iſt, den Stier am Strick herzureißen, und ſich daher von rechts nach links hinüberdrückt und dort den Anklang des Pyramidalen auf der einen Seite herſtellt, während Amphion auf der andern den Stier an Horn und Maul haltend ſich mit geſpreizten Beinen anſtemmt und ſo, die Linien-Bewegung auf dieſem Puncte feſt abſchließend, die Ausfüllung der Pyramide vollendet. §. 629. Durch den Anſchluß an die Baukunſt wird es möglich, die verſchiedenen Arten: einzelne Figur, Relief, angelehnte und ganz freie Gruppe zur Entwick- lung einer inhaltsvollen Idee in einem cykliſchen Ganzen zu verbinden. Das Hauptband der cykliſchen Compoſition iſt das Relief, auf deſſen fortführenden, überleitenden Charakter ſchon §. 611 Anm. hingewieſen iſt; es tritt nun mit den andern Formen zur Entfaltung eines umfaſſenden Künſtlergedankens zuſammen. Eines der herrlichſten Beiſpiele ſolchen gro- ßen Geſammtwirkens iſt der Parthenon: die Metopen mit ihren Darſtel- lungen des alten Athene-Cultus, der Thaten der Athene und des Erech- theus, der Kämpfe für Civiliſation und Menſchlichkeit gegen wilde Wei- bervölker und Halbthiere, die Theſeus und ſeine Gefährten unter ihrem Schutze vollbracht, die Giebelfelder mit dem Bilde des erſten, Staunenerre- genden Erſcheinens der Athene unter den Göttern, ihres Sieges über das noch ungebändigte Pferd, dann hineinleitend zur Erſcheinung der Göt- tinn der Panathenäenzug des Cellafrieſes und endlich die Herrliche ſelbſt im Heiligthum; nicht zu gedenken der Propyläen, des Nike-Tempels, des Erechtheums, des Waldes von Statuen umher, was Alles auf den Ge- nius aller Bildung und Intelligenz und der Tapferkeit für die großen Zwecke prachtvoll hinwies. Die freie Gruppe fand, weil ſie eigentlich die Gottheit in das Viele auflöst, ſeltener ihre Stelle da, wo dieſe in ihrer ungetheilten Majeſtät thronen ſoll, nämlich mitten im Heiligthum; doch gab es ja auch Tempel für zwei und mehrere vereinigte Götter, nur iſt dabei immer eine ruhige Gruppe vorausgeſetzt; übrigens kann ſie auch vor den Tempel in’s Freie treten, ſie kann den Feſtraum des Palaſtes, der ebenſo die verſchiedenſten Darſtellungen zum Ausdruck Einer großen (politiſchen, ethiſchen) Idee zu vereinigen vermag, Vorhaus, Säulenhof ſchmücken. Auf Gallerieen kann noch eine Menge von einzelnen freien Sta- tuen hinzutreten und einen umfaſſenden Gedanken weiter fortführen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/128>, abgerufen am 25.04.2024.