Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

risch bedeutende, stylistisch gültige. Umgekehrt werden wir es bei der Ma-
lerei finden: zu wenig Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform ver-
letzt ihr Wesen. Wie sich nun dieser Hauptgegensatz zu den weitern im
§. aufgeführten verhält und was mit dem theilweisen Zusammenfallen
u. s. w. gemeint ist, das eben wird sich in der wirklichen Geschichte zeigen.
Zu der Bezeichnung: empfindungsvoller Styl fügt die Parenthese: auch
dem Dichterischen genähert; ein Styl, der eine bedeutende, subjective,
der Musik, der lyrischen Poesie verwandte Bewegtheit hat, wird mehr
oder minder auch in bestimmterer Weise an die Dichtung, insbesondere
das Drama, anklingen, was wir an einzelnen Stellen berühren werden.

a. Die Bildnerkunst des Alterthums.
§. 637.

Der Dualismus der orientalischen Phantasie läßt keine reine Ent-
wicklung der Bildnerkunst zu. Durch die Halbheit des Fortgangs von der
Symbolik zum Mythus fällt die ursprüngliche Stoffwelt außer und neben die
zweite und ebendaher entbehrt diese der Individualisirung und wärmeren Natur-
nachbildung in Bewegung, Handlung, Ausdruck; positiv aber dringt in sie das
Häßliche als unorganische Formenverbindung ein. Das Erhabene tritt als über-
triebene Herrschaft des Colossalen, als Prunk in Darstellung und Material auf.
Die Bildnerkunst scheidet sich nicht rein von der Baukunst und verbindet sich
grell mit der Farbe. Der Typus wird nicht überwunden; schwungvoller An-
klang reinen und hohen Styls befreit sich nicht von den Härten und Ungeschick-
lichkeiten, mit denen eine im rein äußerlichen Sinn höchst vollendete Technik
ihn verbindet.

Alle diese Sätze fallen in die Hand, wenn man auf die geschicht-
liche Darstellung des Orients §. 343 ff. und das Bild seiner Weltan-
schauung §. 426 ff. zurückgeht und damit zusammenhält, was über die
Architektur als diejenige Kunst, auf welche diese Form der Phantasie vor-
züglich angewiesen war, und ihren Charakter im Orient §. 578 ff. ge-
sagt ist. Sogleich findet nun ein Theil der Bestimmungen des vorh. §.
seine geschichtliche Erläuterung, so zwar, daß man zunächst zwei derselben
in ein bestimmtes Verhältniß treten sieht. Nämlich: die Aufgabe ist, des
Naturwahren und Individuellen in das rein allgemeine Normalbild der
Gattung so viel aufzunehmen, als nöthig ist, um ihm Lebenswärme und
Mannigfaltigkeit zu geben. Dieß ist aber nicht möglich, wenn die Göt-
ter nur halb mythische Wesen, d. h. vorgestellte Menschen, halb bloße

31*

riſch bedeutende, ſtyliſtiſch gültige. Umgekehrt werden wir es bei der Ma-
lerei finden: zu wenig Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform ver-
letzt ihr Weſen. Wie ſich nun dieſer Hauptgegenſatz zu den weitern im
§. aufgeführten verhält und was mit dem theilweiſen Zuſammenfallen
u. ſ. w. gemeint iſt, das eben wird ſich in der wirklichen Geſchichte zeigen.
Zu der Bezeichnung: empfindungsvoller Styl fügt die Parentheſe: auch
dem Dichteriſchen genähert; ein Styl, der eine bedeutende, ſubjective,
der Muſik, der lyriſchen Poeſie verwandte Bewegtheit hat, wird mehr
oder minder auch in beſtimmterer Weiſe an die Dichtung, insbeſondere
das Drama, anklingen, was wir an einzelnen Stellen berühren werden.

α. Die Bildnerkunſt des Alterthums.
§. 637.

Der Dualiſmus der orientaliſchen Phantaſie läßt keine reine Ent-
wicklung der Bildnerkunſt zu. Durch die Halbheit des Fortgangs von der
Symbolik zum Mythus fällt die urſprüngliche Stoffwelt außer und neben die
zweite und ebendaher entbehrt dieſe der Individualiſirung und wärmeren Natur-
nachbildung in Bewegung, Handlung, Ausdruck; poſitiv aber dringt in ſie das
Häßliche als unorganiſche Formenverbindung ein. Das Erhabene tritt als über-
triebene Herrſchaft des Coloſſalen, als Prunk in Darſtellung und Material auf.
Die Bildnerkunſt ſcheidet ſich nicht rein von der Baukunſt und verbindet ſich
grell mit der Farbe. Der Typus wird nicht überwunden; ſchwungvoller An-
klang reinen und hohen Styls befreit ſich nicht von den Härten und Ungeſchick-
lichkeiten, mit denen eine im rein äußerlichen Sinn höchſt vollendete Technik
ihn verbindet.

Alle dieſe Sätze fallen in die Hand, wenn man auf die geſchicht-
liche Darſtellung des Orients §. 343 ff. und das Bild ſeiner Weltan-
ſchauung §. 426 ff. zurückgeht und damit zuſammenhält, was über die
Architektur als diejenige Kunſt, auf welche dieſe Form der Phantaſie vor-
züglich angewieſen war, und ihren Charakter im Orient §. 578 ff. ge-
ſagt iſt. Sogleich findet nun ein Theil der Beſtimmungen des vorh. §.
ſeine geſchichtliche Erläuterung, ſo zwar, daß man zunächſt zwei derſelben
in ein beſtimmtes Verhältniß treten ſieht. Nämlich: die Aufgabe iſt, des
Naturwahren und Individuellen in das rein allgemeine Normalbild der
Gattung ſo viel aufzunehmen, als nöthig iſt, um ihm Lebenswärme und
Mannigfaltigkeit zu geben. Dieß iſt aber nicht möglich, wenn die Göt-
ter nur halb mythiſche Weſen, d. h. vorgeſtellte Menſchen, halb bloße

31*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0143" n="469"/>
ri&#x017F;ch bedeutende, &#x017F;tyli&#x017F;ti&#x017F;ch gültige. Umgekehrt werden wir es bei der Ma-<lb/>
lerei finden: zu <hi rendition="#g">wenig</hi> Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform ver-<lb/>
letzt ihr We&#x017F;en. Wie &#x017F;ich nun die&#x017F;er Hauptgegen&#x017F;atz zu den weitern im<lb/>
§. aufgeführten verhält und was mit dem theilwei&#x017F;en Zu&#x017F;ammenfallen<lb/>
u. &#x017F;. w. gemeint i&#x017F;t, das eben wird &#x017F;ich in der wirklichen Ge&#x017F;chichte zeigen.<lb/>
Zu der Bezeichnung: empfindungsvoller Styl fügt die Parenthe&#x017F;e: auch<lb/>
dem Dichteri&#x017F;chen genähert; ein Styl, der eine bedeutende, &#x017F;ubjective,<lb/>
der Mu&#x017F;ik, der lyri&#x017F;chen Poe&#x017F;ie verwandte Bewegtheit hat, wird mehr<lb/>
oder minder auch in be&#x017F;timmterer Wei&#x017F;e an die Dichtung, insbe&#x017F;ondere<lb/>
das Drama, anklingen, was wir an einzelnen Stellen berühren werden.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#i">&#x03B1;</hi>. <hi rendition="#g">Die Bildnerkun&#x017F;t des Alterthums</hi>.</head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 637.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Der Duali&#x017F;mus der <hi rendition="#g">orientali&#x017F;chen</hi> Phanta&#x017F;ie läßt keine reine Ent-<lb/>
wicklung der Bildnerkun&#x017F;t zu. Durch die Halbheit des Fortgangs von der<lb/>
Symbolik zum Mythus fällt die ur&#x017F;prüngliche Stoffwelt außer und neben die<lb/>
zweite und ebendaher entbehrt die&#x017F;e der Individuali&#x017F;irung und wärmeren Natur-<lb/>
nachbildung in Bewegung, Handlung, Ausdruck; po&#x017F;itiv aber dringt in &#x017F;ie das<lb/>
Häßliche als unorgani&#x017F;che Formenverbindung ein. Das Erhabene tritt als über-<lb/>
triebene Herr&#x017F;chaft des Colo&#x017F;&#x017F;alen, als Prunk in Dar&#x017F;tellung und Material auf.<lb/>
Die Bildnerkun&#x017F;t &#x017F;cheidet &#x017F;ich nicht rein von der Baukun&#x017F;t und verbindet &#x017F;ich<lb/>
grell mit der Farbe. Der Typus wird nicht überwunden; &#x017F;chwungvoller An-<lb/>
klang reinen und hohen Styls befreit &#x017F;ich nicht von den Härten und Unge&#x017F;chick-<lb/>
lichkeiten, mit denen eine im rein äußerlichen Sinn höch&#x017F;t vollendete Technik<lb/>
ihn verbindet.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">Alle die&#x017F;e Sätze fallen in die Hand, wenn man auf die ge&#x017F;chicht-<lb/>
liche Dar&#x017F;tellung des Orients §. 343 ff. und das Bild &#x017F;einer Weltan-<lb/>
&#x017F;chauung §. 426 ff. zurückgeht und damit zu&#x017F;ammenhält, was über die<lb/>
Architektur als diejenige Kun&#x017F;t, auf welche die&#x017F;e Form der Phanta&#x017F;ie vor-<lb/>
züglich angewie&#x017F;en war, und ihren Charakter im Orient §. 578 ff. ge-<lb/>
&#x017F;agt i&#x017F;t. Sogleich findet nun ein Theil der Be&#x017F;timmungen des vorh. §.<lb/>
&#x017F;eine ge&#x017F;chichtliche Erläuterung, &#x017F;o zwar, daß man zunäch&#x017F;t zwei der&#x017F;elben<lb/>
in ein be&#x017F;timmtes Verhältniß treten &#x017F;ieht. Nämlich: die Aufgabe i&#x017F;t, des<lb/>
Naturwahren und Individuellen in das rein allgemeine Normalbild der<lb/>
Gattung &#x017F;o viel aufzunehmen, als nöthig i&#x017F;t, um ihm Lebenswärme und<lb/>
Mannigfaltigkeit zu geben. Dieß i&#x017F;t aber nicht möglich, wenn die Göt-<lb/>
ter nur halb mythi&#x017F;che We&#x017F;en, d. h. vorge&#x017F;tellte Men&#x017F;chen, halb bloße</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig">31*</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[469/0143] riſch bedeutende, ſtyliſtiſch gültige. Umgekehrt werden wir es bei der Ma- lerei finden: zu wenig Naturwahrheit und Schärfe der Eigenform ver- letzt ihr Weſen. Wie ſich nun dieſer Hauptgegenſatz zu den weitern im §. aufgeführten verhält und was mit dem theilweiſen Zuſammenfallen u. ſ. w. gemeint iſt, das eben wird ſich in der wirklichen Geſchichte zeigen. Zu der Bezeichnung: empfindungsvoller Styl fügt die Parentheſe: auch dem Dichteriſchen genähert; ein Styl, der eine bedeutende, ſubjective, der Muſik, der lyriſchen Poeſie verwandte Bewegtheit hat, wird mehr oder minder auch in beſtimmterer Weiſe an die Dichtung, insbeſondere das Drama, anklingen, was wir an einzelnen Stellen berühren werden. α. Die Bildnerkunſt des Alterthums. §. 637. Der Dualiſmus der orientaliſchen Phantaſie läßt keine reine Ent- wicklung der Bildnerkunſt zu. Durch die Halbheit des Fortgangs von der Symbolik zum Mythus fällt die urſprüngliche Stoffwelt außer und neben die zweite und ebendaher entbehrt dieſe der Individualiſirung und wärmeren Natur- nachbildung in Bewegung, Handlung, Ausdruck; poſitiv aber dringt in ſie das Häßliche als unorganiſche Formenverbindung ein. Das Erhabene tritt als über- triebene Herrſchaft des Coloſſalen, als Prunk in Darſtellung und Material auf. Die Bildnerkunſt ſcheidet ſich nicht rein von der Baukunſt und verbindet ſich grell mit der Farbe. Der Typus wird nicht überwunden; ſchwungvoller An- klang reinen und hohen Styls befreit ſich nicht von den Härten und Ungeſchick- lichkeiten, mit denen eine im rein äußerlichen Sinn höchſt vollendete Technik ihn verbindet. Alle dieſe Sätze fallen in die Hand, wenn man auf die geſchicht- liche Darſtellung des Orients §. 343 ff. und das Bild ſeiner Weltan- ſchauung §. 426 ff. zurückgeht und damit zuſammenhält, was über die Architektur als diejenige Kunſt, auf welche dieſe Form der Phantaſie vor- züglich angewieſen war, und ihren Charakter im Orient §. 578 ff. ge- ſagt iſt. Sogleich findet nun ein Theil der Beſtimmungen des vorh. §. ſeine geſchichtliche Erläuterung, ſo zwar, daß man zunächſt zwei derſelben in ein beſtimmtes Verhältniß treten ſieht. Nämlich: die Aufgabe iſt, des Naturwahren und Individuellen in das rein allgemeine Normalbild der Gattung ſo viel aufzunehmen, als nöthig iſt, um ihm Lebenswärme und Mannigfaltigkeit zu geben. Dieß iſt aber nicht möglich, wenn die Göt- ter nur halb mythiſche Weſen, d. h. vorgeſtellte Menſchen, halb bloße 31*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/143
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/143>, abgerufen am 25.04.2024.