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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 638.

Eine Ausnahme von der Trennung beider Stoffwelten machen die In-
dier
; Leben und Bewegung tritt daher hier in das Götter-Ideal selbst ein;
unter den weitern Gegensätzen des §. 636 fällt ihrer Plastik in gewissem Sinne
die Anmuth und das Malerische, den Assyrern, Persern, Aegyp-
tern
dagegen das Architektonische und die Würde zu; bei den Letztern herrscht
mehr das streng Gemessene der Proportion, bei den Assyrern und Persern die
Kraft des Muskels.

Den Indiern ging in dem knochenlosen Pantheismus ihrer traum-
haften Phantasie die ursprüngliche Stoffwelt grenzenlos in die zweite über;
hier kann von jenem Auseinanderfallen nicht die Rede sein. Knochenlos
ist aber auch ihr Styl. Davon nachher; wir kehren die Folge des In-
halts des §. zunächst um und führen den herben Styl zuerst auf, weil dem
Wesen nach in der Plastik das Harte und Feste das Erste und zu Grund
liegende ist. Der assyrisch-persische und ägyptische Styl berechtigt zur ge-
meinschaftlichen Befassung unter den Begriff der Würde. Bei den Aegyp-
tern ruht sie zunächst in der fast völligen Bewegungslosigkeit der Statue,
bei den Assyrern und Persern in der gravitätischen Feierlichkeit, dem ge-
haltenen tenor der Bewegung, selbst der stärkeren im Streite, nament-
lich aber der hier besonders beliebten Prozessionsbewegung. Wir ver-
gleichen dabei freilich verschiedene Stoffe, denn dort handelt es sich
namentlich von Götter-Statuen, hier, bei der ungleich sparsameren, in
symbolischen Thieren und phantastisch halbthierischen Menschengestalten be-
stehenden Mythologie, vorherrschend von der Darstellung des Menschen,
namentlich des Königs und seiner Verehrung, seinen Handlungen und
Zerstreuungen, die nicht in Statuen, sondern in Reliefs auf uns gekom-
men ist; allein der Kunstcharakter liegt in den angegebenen Zügen. In
der ernsten, todtenhaften Ruhe der mit angeschlossenen Armen und knapp
zusammengestellten Beinen thronenden oder mit einem Beine kaum merk-
lich vorschreitenden, den Kopf steif gerade haltenden Gestalten der ägyp-
tischen Kunst sehen wir nun zugleich mit geometrischer Strenge die Pro-
portion durchgeführt, dagegen die Muskel an der schlanken Bildung nicht
ausgesprochen; es herrscht das Grundgerüste, also das Architektonische.
Von den weitern Gegensätzen, die §. 636 aufführt, tritt also hier mit
der Würde ein in speziellerem Sinn architekturartig auffassender Styl zu-
sammen und zwar vorzüglich in dem conventionell idealen Kreise, der
das Individuelle und Naturalistische ausschließt, den Götterbildern. Da-
gegen füllt sich das Gerüste in den breiteren, volleren Formen der kräf-

§. 638.

Eine Ausnahme von der Trennung beider Stoffwelten machen die In-
dier
; Leben und Bewegung tritt daher hier in das Götter-Ideal ſelbſt ein;
unter den weitern Gegenſätzen des §. 636 fällt ihrer Plaſtik in gewiſſem Sinne
die Anmuth und das Maleriſche, den Aſſyrern, Perſern, Aegyp-
tern
dagegen das Architektoniſche und die Würde zu; bei den Letztern herrſcht
mehr das ſtreng Gemeſſene der Proportion, bei den Aſſyrern und Perſern die
Kraft des Muſkels.

Den Indiern ging in dem knochenloſen Pantheiſmus ihrer traum-
haften Phantaſie die urſprüngliche Stoffwelt grenzenlos in die zweite über;
hier kann von jenem Auseinanderfallen nicht die Rede ſein. Knochenlos
iſt aber auch ihr Styl. Davon nachher; wir kehren die Folge des In-
halts des §. zunächſt um und führen den herben Styl zuerſt auf, weil dem
Weſen nach in der Plaſtik das Harte und Feſte das Erſte und zu Grund
liegende iſt. Der aſſyriſch-perſiſche und ägyptiſche Styl berechtigt zur ge-
meinſchaftlichen Befaſſung unter den Begriff der Würde. Bei den Aegyp-
tern ruht ſie zunächſt in der faſt völligen Bewegungsloſigkeit der Statue,
bei den Aſſyrern und Perſern in der gravitätiſchen Feierlichkeit, dem ge-
haltenen tenor der Bewegung, ſelbſt der ſtärkeren im Streite, nament-
lich aber der hier beſonders beliebten Prozeſſionsbewegung. Wir ver-
gleichen dabei freilich verſchiedene Stoffe, denn dort handelt es ſich
namentlich von Götter-Statuen, hier, bei der ungleich ſparſameren, in
ſymboliſchen Thieren und phantaſtiſch halbthieriſchen Menſchengeſtalten be-
ſtehenden Mythologie, vorherrſchend von der Darſtellung des Menſchen,
namentlich des Königs und ſeiner Verehrung, ſeinen Handlungen und
Zerſtreuungen, die nicht in Statuen, ſondern in Reliefs auf uns gekom-
men iſt; allein der Kunſtcharakter liegt in den angegebenen Zügen. In
der ernſten, todtenhaften Ruhe der mit angeſchloſſenen Armen und knapp
zuſammengeſtellten Beinen thronenden oder mit einem Beine kaum merk-
lich vorſchreitenden, den Kopf ſteif gerade haltenden Geſtalten der ägyp-
tiſchen Kunſt ſehen wir nun zugleich mit geometriſcher Strenge die Pro-
portion durchgeführt, dagegen die Muſkel an der ſchlanken Bildung nicht
ausgeſprochen; es herrſcht das Grundgerüſte, alſo das Architektoniſche.
Von den weitern Gegenſätzen, die §. 636 aufführt, tritt alſo hier mit
der Würde ein in ſpeziellerem Sinn architekturartig auffaſſender Styl zu-
ſammen und zwar vorzüglich in dem conventionell idealen Kreiſe, der
das Individuelle und Naturaliſtiſche ausſchließt, den Götterbildern. Da-
gegen füllt ſich das Gerüſte in den breiteren, volleren Formen der kräf-

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[473/0147] §. 638. Eine Ausnahme von der Trennung beider Stoffwelten machen die In- dier; Leben und Bewegung tritt daher hier in das Götter-Ideal ſelbſt ein; unter den weitern Gegenſätzen des §. 636 fällt ihrer Plaſtik in gewiſſem Sinne die Anmuth und das Maleriſche, den Aſſyrern, Perſern, Aegyp- tern dagegen das Architektoniſche und die Würde zu; bei den Letztern herrſcht mehr das ſtreng Gemeſſene der Proportion, bei den Aſſyrern und Perſern die Kraft des Muſkels. Den Indiern ging in dem knochenloſen Pantheiſmus ihrer traum- haften Phantaſie die urſprüngliche Stoffwelt grenzenlos in die zweite über; hier kann von jenem Auseinanderfallen nicht die Rede ſein. Knochenlos iſt aber auch ihr Styl. Davon nachher; wir kehren die Folge des In- halts des §. zunächſt um und führen den herben Styl zuerſt auf, weil dem Weſen nach in der Plaſtik das Harte und Feſte das Erſte und zu Grund liegende iſt. Der aſſyriſch-perſiſche und ägyptiſche Styl berechtigt zur ge- meinſchaftlichen Befaſſung unter den Begriff der Würde. Bei den Aegyp- tern ruht ſie zunächſt in der faſt völligen Bewegungsloſigkeit der Statue, bei den Aſſyrern und Perſern in der gravitätiſchen Feierlichkeit, dem ge- haltenen tenor der Bewegung, ſelbſt der ſtärkeren im Streite, nament- lich aber der hier beſonders beliebten Prozeſſionsbewegung. Wir ver- gleichen dabei freilich verſchiedene Stoffe, denn dort handelt es ſich namentlich von Götter-Statuen, hier, bei der ungleich ſparſameren, in ſymboliſchen Thieren und phantaſtiſch halbthieriſchen Menſchengeſtalten be- ſtehenden Mythologie, vorherrſchend von der Darſtellung des Menſchen, namentlich des Königs und ſeiner Verehrung, ſeinen Handlungen und Zerſtreuungen, die nicht in Statuen, ſondern in Reliefs auf uns gekom- men iſt; allein der Kunſtcharakter liegt in den angegebenen Zügen. In der ernſten, todtenhaften Ruhe der mit angeſchloſſenen Armen und knapp zuſammengeſtellten Beinen thronenden oder mit einem Beine kaum merk- lich vorſchreitenden, den Kopf ſteif gerade haltenden Geſtalten der ägyp- tiſchen Kunſt ſehen wir nun zugleich mit geometriſcher Strenge die Pro- portion durchgeführt, dagegen die Muſkel an der ſchlanken Bildung nicht ausgeſprochen; es herrſcht das Grundgerüſte, alſo das Architektoniſche. Von den weitern Gegenſätzen, die §. 636 aufführt, tritt alſo hier mit der Würde ein in ſpeziellerem Sinn architekturartig auffaſſender Styl zu- ſammen und zwar vorzüglich in dem conventionell idealen Kreiſe, der das Individuelle und Naturaliſtiſche ausſchließt, den Götterbildern. Da- gegen füllt ſich das Gerüſte in den breiteren, volleren Formen der kräf-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/147>, abgerufen am 25.04.2024.