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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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stätigung erhielt und ebenso der Satz sich herausstellte, daß der herrschende
Standpunct das einfach Schöne sein werde. Die Gegensätze nun, die
wir in §. 636 als die treibenden Reize der Geschichte der Plastik aufge-
führt haben, erscheinen durch die wirkliche Darstellung jenes Ideals
in dieser Kunst als gelöst in einer Weise, die nicht übertroffen werden
kann. Es ist uns aus der Reihe derselben jetzt der zweite an die Spitze
getreten: der Gegensatz zwischen einem mehr architektonischen oder mehr
malerischen, empfindungsvollen und einem rein plastischen Style. Der
griechische ist rein plastisch und hat vom Architektonischen, Malerischen,
subjectiv bis zum Dramatischen hin Bewegten eben nur so viel, als je-
derzeit und nothwendig im Unterschiede gewisser Zweige liegt (vergl. §.
635). Damit ist aber zugleich gegeben, daß eben die Griechen genau jene
feine Linie treffen, bis zu welcher diese Kunst in die reine Gattungs-
form das Individuelle und das Naturtreue einlassen kann, also ist zu-
gleich der in §. 636 zuerst aufgestellte Gegensatz in ein reines Gleichge-
wicht aufgehoben. Ebenso sind die weiteren Gegensätze zugleich aufgestellt
und gelöst: die Würde hat Anmuth und die Anmuth Würde; ferner: es
gibt neben dem reinen Ideale der Götterwelt ein Genre, eine Porträt-
bildung und einen gewissen Kreis geschichtlicher Darstellungen; aber nicht
ist auf der einen Seite eine conventionell symbolische Idealität, auf der
andern ungeistige Naturwahrheit und Individualität zu Hause, sondern
das oft geschilderte Band hält beide Welten flüssig zusammen und ge-
stattet namentlich dem Geschichtlichen nur sparsame Ausdehnung.

§. 640.

Werden hiemit die in §. 636 aufgestellten Gegensätze im reinsten Sinne
gelöst, so treten sie dennoch innerhalb der griechischen Bildnerkunst selbst in ein
wechselseitiges Spiel, dessen Bewegung jene Entwicklungsstufen des Styls be-
gründet, die jeder Kunstperiode eigen sind (vergl. §. 531). Im strengen und
harten, zugleich noch typischen Style tritt neben ägyptischer Strenge und assy-
rischer Kraft eine kindische Form der Anmuth auf, welche noch nicht die hö-
here Einigung jener Eigenschaften mit der indischen Weichheit zeigt, wozu die
griechische Kunst berufen war; die weitern Gegensätze fallen noch auseinander.

Es versteht sich, daß jene Versöhnung der Gegensätze keine todte
sein kann. Es ist Bewegung im Gefäße, das flüssige Ineinander der
Kräfte, das in ihm enthalten ist, schwankt, aber es schlägt keine Welle
über den Rand. Diese bewegte und doch sichere Beschließung im Gefäße
der Einheit ist aber am Anfang noch nicht erreicht. Wir haben die
Entwicklungsstufen des Styls innerhalb der Kunstperiode gerade an dem

ſtätigung erhielt und ebenſo der Satz ſich herausſtellte, daß der herrſchende
Standpunct das einfach Schöne ſein werde. Die Gegenſätze nun, die
wir in §. 636 als die treibenden Reize der Geſchichte der Plaſtik aufge-
führt haben, erſcheinen durch die wirkliche Darſtellung jenes Ideals
in dieſer Kunſt als gelöst in einer Weiſe, die nicht übertroffen werden
kann. Es iſt uns aus der Reihe derſelben jetzt der zweite an die Spitze
getreten: der Gegenſatz zwiſchen einem mehr architektoniſchen oder mehr
maleriſchen, empfindungsvollen und einem rein plaſtiſchen Style. Der
griechiſche iſt rein plaſtiſch und hat vom Architektoniſchen, Maleriſchen,
ſubjectiv bis zum Dramatiſchen hin Bewegten eben nur ſo viel, als je-
derzeit und nothwendig im Unterſchiede gewiſſer Zweige liegt (vergl. §.
635). Damit iſt aber zugleich gegeben, daß eben die Griechen genau jene
feine Linie treffen, bis zu welcher dieſe Kunſt in die reine Gattungs-
form das Individuelle und das Naturtreue einlaſſen kann, alſo iſt zu-
gleich der in §. 636 zuerſt aufgeſtellte Gegenſatz in ein reines Gleichge-
wicht aufgehoben. Ebenſo ſind die weiteren Gegenſätze zugleich aufgeſtellt
und gelöst: die Würde hat Anmuth und die Anmuth Würde; ferner: es
gibt neben dem reinen Ideale der Götterwelt ein Genre, eine Porträt-
bildung und einen gewiſſen Kreis geſchichtlicher Darſtellungen; aber nicht
iſt auf der einen Seite eine conventionell ſymboliſche Idealität, auf der
andern ungeiſtige Naturwahrheit und Individualität zu Hauſe, ſondern
das oft geſchilderte Band hält beide Welten flüſſig zuſammen und ge-
ſtattet namentlich dem Geſchichtlichen nur ſparſame Ausdehnung.

§. 640.

Werden hiemit die in §. 636 aufgeſtellten Gegenſätze im reinſten Sinne
gelöst, ſo treten ſie dennoch innerhalb der griechiſchen Bildnerkunſt ſelbſt in ein
wechſelſeitiges Spiel, deſſen Bewegung jene Entwicklungsſtufen des Styls be-
gründet, die jeder Kunſtperiode eigen ſind (vergl. §. 531). Im ſtrengen und
harten, zugleich noch typiſchen Style tritt neben ägyptiſcher Strenge und aſſy-
riſcher Kraft eine kindiſche Form der Anmuth auf, welche noch nicht die hö-
here Einigung jener Eigenſchaften mit der indiſchen Weichheit zeigt, wozu die
griechiſche Kunſt berufen war; die weitern Gegenſätze fallen noch auseinander.

Es verſteht ſich, daß jene Verſöhnung der Gegenſätze keine todte
ſein kann. Es iſt Bewegung im Gefäße, das flüſſige Ineinander der
Kräfte, das in ihm enthalten iſt, ſchwankt, aber es ſchlägt keine Welle
über den Rand. Dieſe bewegte und doch ſichere Beſchließung im Gefäße
der Einheit iſt aber am Anfang noch nicht erreicht. Wir haben die
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[476/0150] ſtätigung erhielt und ebenſo der Satz ſich herausſtellte, daß der herrſchende Standpunct das einfach Schöne ſein werde. Die Gegenſätze nun, die wir in §. 636 als die treibenden Reize der Geſchichte der Plaſtik aufge- führt haben, erſcheinen durch die wirkliche Darſtellung jenes Ideals in dieſer Kunſt als gelöst in einer Weiſe, die nicht übertroffen werden kann. Es iſt uns aus der Reihe derſelben jetzt der zweite an die Spitze getreten: der Gegenſatz zwiſchen einem mehr architektoniſchen oder mehr maleriſchen, empfindungsvollen und einem rein plaſtiſchen Style. Der griechiſche iſt rein plaſtiſch und hat vom Architektoniſchen, Maleriſchen, ſubjectiv bis zum Dramatiſchen hin Bewegten eben nur ſo viel, als je- derzeit und nothwendig im Unterſchiede gewiſſer Zweige liegt (vergl. §. 635). Damit iſt aber zugleich gegeben, daß eben die Griechen genau jene feine Linie treffen, bis zu welcher dieſe Kunſt in die reine Gattungs- form das Individuelle und das Naturtreue einlaſſen kann, alſo iſt zu- gleich der in §. 636 zuerſt aufgeſtellte Gegenſatz in ein reines Gleichge- wicht aufgehoben. Ebenſo ſind die weiteren Gegenſätze zugleich aufgeſtellt und gelöst: die Würde hat Anmuth und die Anmuth Würde; ferner: es gibt neben dem reinen Ideale der Götterwelt ein Genre, eine Porträt- bildung und einen gewiſſen Kreis geſchichtlicher Darſtellungen; aber nicht iſt auf der einen Seite eine conventionell ſymboliſche Idealität, auf der andern ungeiſtige Naturwahrheit und Individualität zu Hauſe, ſondern das oft geſchilderte Band hält beide Welten flüſſig zuſammen und ge- ſtattet namentlich dem Geſchichtlichen nur ſparſame Ausdehnung. §. 640. Werden hiemit die in §. 636 aufgeſtellten Gegenſätze im reinſten Sinne gelöst, ſo treten ſie dennoch innerhalb der griechiſchen Bildnerkunſt ſelbſt in ein wechſelſeitiges Spiel, deſſen Bewegung jene Entwicklungsſtufen des Styls be- gründet, die jeder Kunſtperiode eigen ſind (vergl. §. 531). Im ſtrengen und harten, zugleich noch typiſchen Style tritt neben ägyptiſcher Strenge und aſſy- riſcher Kraft eine kindiſche Form der Anmuth auf, welche noch nicht die hö- here Einigung jener Eigenſchaften mit der indiſchen Weichheit zeigt, wozu die griechiſche Kunſt berufen war; die weitern Gegenſätze fallen noch auseinander. Es verſteht ſich, daß jene Verſöhnung der Gegenſätze keine todte ſein kann. Es iſt Bewegung im Gefäße, das flüſſige Ineinander der Kräfte, das in ihm enthalten iſt, ſchwankt, aber es ſchlägt keine Welle über den Rand. Dieſe bewegte und doch ſichere Beſchließung im Gefäße der Einheit iſt aber am Anfang noch nicht erreicht. Wir haben die Entwicklungsſtufen des Styls innerhalb der Kunſtperiode gerade an dem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/150>, abgerufen am 19.04.2024.