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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Stellung, als eine verstärkt ausblühende Ornamentik, wird sie in neuem
Sinn malerisch, nämlich eben als Blüthe einer an sich schon in gewissem
Sinn malerischen Architektur; aber auch dichterisch, indem sic das Epos
der religiösen Phantasie noch beziehungsreicher, als im griechischen Tem-
pel, namentlich allerdings auch in den Zusammenstellungen der Statuen
am Portal mit dem Relief seiner Bogen-Füllung, entfaltet und aus-
spinnt. Einzelne Gebäude, wie der Campanile zu Pisa, geben die An-
knüpfung zu einem Ueberblick über die ganze Weltgeschichte. -- Ist nun
der Styl der Bildnerkunst hier an sich schon ein malerischer geworden, so
ist es nur natürlich, wenn die vollkommene Bemalung auch wirklich hin-
zutritt; die eckig harten Formen bedürfen hier der Farbe zu ihrer Milde-
rung, wie in Wirklichkeit eine interessante, aber nicht normal schöne Ge-
sichtsbildung nicht ohne Farbe gefällt. In der Holzschnitzerei ist zudem
die Farbe schon durch die Trockenheit des Tons, den das Material hat,
nahe gelegt. Hier ist es denn, wo das Bemalen bis in die Einzelnhei-
ten der Adern hinein völlig wie in der selbständigen Malerei durchgeführt
wird, in einem Umfang also, wie ihn die Alten niemals kannten. Den-
noch stellt sich der gespenstische Eindruck der Wachsfigur (vergl. §. 608
Anm.) nicht ein: die viele Vergoldung, die Aufstellung zwischen reichem
Ornament, der Glanz der Oelfarbe läßt es nicht zur geistlos unheimlichen
Illusion kommen und was man raffinirter Absicht der gemeinen Täuschung
nicht verzeiht, sieht man der Naivetät, welche die Künste vermischt, bei
der übrigen Reinheit des Gefühls und Genialität gerne nach. Diese Ge-
nialität tritt z. B. in den Schnitzwerken der Syrlin in hoher Vollendung
hervor; es ist hier ein Schwung, eine Wärme der Belebung, welchem dem
zwar in Formen reiner plastischen Styl der Italiener in selbständiger
Höhe gegenübersteht.

g Die moderne Bildnerkunst.
§. 645.

1.

Die reine plastische Form wird nach classischem Vorbild in Italien er-
neuert, zuerst mit einem noch der mittelalterlichen Innigkeit angehörigen Aus-
druck naiver Anmuth, wobei das Malerische mehr nur in der Relief-Compo-
sition (vergl. §. 644) sich behauptet. Eine Verbindung dieser gereinigten Form
mit einem gemäßigten charaktervollen Individualismus und Naturalismus tritt

Stellung, als eine verſtärkt ausblühende Ornamentik, wird ſie in neuem
Sinn maleriſch, nämlich eben als Blüthe einer an ſich ſchon in gewiſſem
Sinn maleriſchen Architektur; aber auch dichteriſch, indem ſic das Epos
der religiöſen Phantaſie noch beziehungsreicher, als im griechiſchen Tem-
pel, namentlich allerdings auch in den Zuſammenſtellungen der Statuen
am Portal mit dem Relief ſeiner Bogen-Füllung, entfaltet und aus-
ſpinnt. Einzelne Gebäude, wie der Campanile zu Piſa, geben die An-
knüpfung zu einem Ueberblick über die ganze Weltgeſchichte. — Iſt nun
der Styl der Bildnerkunſt hier an ſich ſchon ein maleriſcher geworden, ſo
iſt es nur natürlich, wenn die vollkommene Bemalung auch wirklich hin-
zutritt; die eckig harten Formen bedürfen hier der Farbe zu ihrer Milde-
rung, wie in Wirklichkeit eine intereſſante, aber nicht normal ſchöne Ge-
ſichtsbildung nicht ohne Farbe gefällt. In der Holzſchnitzerei iſt zudem
die Farbe ſchon durch die Trockenheit des Tons, den das Material hat,
nahe gelegt. Hier iſt es denn, wo das Bemalen bis in die Einzelnhei-
ten der Adern hinein völlig wie in der ſelbſtändigen Malerei durchgeführt
wird, in einem Umfang alſo, wie ihn die Alten niemals kannten. Den-
noch ſtellt ſich der geſpenſtiſche Eindruck der Wachsfigur (vergl. §. 608
Anm.) nicht ein: die viele Vergoldung, die Aufſtellung zwiſchen reichem
Ornament, der Glanz der Oelfarbe läßt es nicht zur geiſtlos unheimlichen
Illuſion kommen und was man raffinirter Abſicht der gemeinen Täuſchung
nicht verzeiht, ſieht man der Naivetät, welche die Künſte vermiſcht, bei
der übrigen Reinheit des Gefühls und Genialität gerne nach. Dieſe Ge-
nialität tritt z. B. in den Schnitzwerken der Syrlin in hoher Vollendung
hervor; es iſt hier ein Schwung, eine Wärme der Belebung, welchem dem
zwar in Formen reiner plaſtiſchen Styl der Italiener in ſelbſtändiger
Höhe gegenüberſteht.

γ Die moderne Bildnerkunſt.
§. 645.

1.

Die reine plaſtiſche Form wird nach claſſiſchem Vorbild in Italien er-
neuert, zuerſt mit einem noch der mittelalterlichen Innigkeit angehörigen Aus-
druck naiver Anmuth, wobei das Maleriſche mehr nur in der Relief-Compo-
ſition (vergl. §. 644) ſich behauptet. Eine Verbindung dieſer gereinigten Form
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[490/0164] Stellung, als eine verſtärkt ausblühende Ornamentik, wird ſie in neuem Sinn maleriſch, nämlich eben als Blüthe einer an ſich ſchon in gewiſſem Sinn maleriſchen Architektur; aber auch dichteriſch, indem ſic das Epos der religiöſen Phantaſie noch beziehungsreicher, als im griechiſchen Tem- pel, namentlich allerdings auch in den Zuſammenſtellungen der Statuen am Portal mit dem Relief ſeiner Bogen-Füllung, entfaltet und aus- ſpinnt. Einzelne Gebäude, wie der Campanile zu Piſa, geben die An- knüpfung zu einem Ueberblick über die ganze Weltgeſchichte. — Iſt nun der Styl der Bildnerkunſt hier an ſich ſchon ein maleriſcher geworden, ſo iſt es nur natürlich, wenn die vollkommene Bemalung auch wirklich hin- zutritt; die eckig harten Formen bedürfen hier der Farbe zu ihrer Milde- rung, wie in Wirklichkeit eine intereſſante, aber nicht normal ſchöne Ge- ſichtsbildung nicht ohne Farbe gefällt. In der Holzſchnitzerei iſt zudem die Farbe ſchon durch die Trockenheit des Tons, den das Material hat, nahe gelegt. Hier iſt es denn, wo das Bemalen bis in die Einzelnhei- ten der Adern hinein völlig wie in der ſelbſtändigen Malerei durchgeführt wird, in einem Umfang alſo, wie ihn die Alten niemals kannten. Den- noch ſtellt ſich der geſpenſtiſche Eindruck der Wachsfigur (vergl. §. 608 Anm.) nicht ein: die viele Vergoldung, die Aufſtellung zwiſchen reichem Ornament, der Glanz der Oelfarbe läßt es nicht zur geiſtlos unheimlichen Illuſion kommen und was man raffinirter Abſicht der gemeinen Täuſchung nicht verzeiht, ſieht man der Naivetät, welche die Künſte vermiſcht, bei der übrigen Reinheit des Gefühls und Genialität gerne nach. Dieſe Ge- nialität tritt z. B. in den Schnitzwerken der Syrlin in hoher Vollendung hervor; es iſt hier ein Schwung, eine Wärme der Belebung, welchem dem zwar in Formen reiner plaſtiſchen Styl der Italiener in ſelbſtändiger Höhe gegenüberſteht. γ Die moderne Bildnerkunſt. §. 645. Die reine plaſtiſche Form wird nach claſſiſchem Vorbild in Italien er- neuert, zuerſt mit einem noch der mittelalterlichen Innigkeit angehörigen Aus- druck naiver Anmuth, wobei das Maleriſche mehr nur in der Relief-Compo- ſition (vergl. §. 644) ſich behauptet. Eine Verbindung dieſer gereinigten Form mit einem gemäßigten charaktervollen Individualiſmus und Naturaliſmus tritt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/164>, abgerufen am 25.04.2024.