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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 608.

Jede Zuthat von Farbe zu der Nachbildung der festen Form, welche
sich nicht mit gewissen Andeutungen begnügt, ist durch den reinen Begriff der
Bildnerkunst an sich ausgeschlossen. Der nähere Maaßstab für die Beurthei-
lung dieser Uebertragung der einen Art der Phantasie auf die andere liegt in
dem Besonderen der geschichtlichen Zustände der Kunst. Die Bildnerkunst be-
darf jedoch immer gewisser Licht- und Schattenwirkungen, welche, obwohl durch
ihre eigenen technischen Mittel bewerkstelligt, doch über das rein Plastische
hinausgehen.

"Zuthat" bedeutet, nachdem eine schon im Materiale liegende stärkere
Farbenwirkung bereits abgewiesen ist, eine Verbindung der Farbe mit
dem Bildwerk durch eine ausdrückliche technische Nachhülfe, Mischung im
Erzguß, Aufmalen, Einschmelzen. Der §. läßt nur "gewisse Andeutun-
gen" zu; bestimmter konnte der Spielraum im Allgemeinen nicht bezeich-
net werden, als durch diesen Ausdruck, der nur die volle und ganze Far-
benwirkung deutlich und schlechthin ausschließt. Vom rohen, grellen An-
streichen thönerner und hölzerner Cultusbilder, was gewöhnlich mit
einem völligen Ankleiden Hand in Hand geht, ist hier nicht die Rede,
dieß ist primitives Kinderwerk, das nur im Oriente Gewohnheit blieb;
bei Götterbildern war die einfach ungebrochene Farbe symbolisch; im
classischen Lande wurde dieß blos vereinzelt bei Cultusbildern beibehalten,
welcher ein besonderes Herkommen die Symbolik der Farbe (wie den
rothen Anstrich mancher Bachusbilder) und den Puppen-Charakter be-
wahrte. Es handelt sich hier von reifer Bildnerkunst und einem solchen
Bemalen ihrer Werke, wodurch mit der Nachahmung der festen Form Alles
verbunden werden soll, was der Maler an seinem Gegenstande nach-
ahmend wiedergibt. Dieß ist nun also streng und einfach abzuweisen.
Der Grund für diese Abweichung liegt zunächst schon im wahren Begriffe
der Naturnachahmung: die Lebendigkeit der Natur soll nur in einem
reinen, nicht in einem gemein täuschenden Scheine nachgeahmt werden,
(vergl. §. 379 und §. 513, 2.) Ein solcher gemeiner Schein entsteht
aber, wenn eine Kunstform, die in einem bestimmten sinnlichen Materiale
thätig und an dessen Ausschließlichkeit gebunden ist, mit der Wirkung die-
ses Materials die Wirkung eines wesentlich andern verbinden will, in-
dem sie vergißt, daß das Vollkommene gerade durch die Isolirung der
Erscheinungsseiten, durch die Theilung der Arbeit erreicht wird (vergl.
§. 533). Vollkommen zeigt dieß die Wachsfigur und man kann an ihr
lernen, was in der gemeinen Täuschung eigentlich enthalten ist: indem
sie mit der festen Form das volle Colorit verbindet, überrascht sie

§. 608.

Jede Zuthat von Farbe zu der Nachbildung der feſten Form, welche
ſich nicht mit gewiſſen Andeutungen begnügt, iſt durch den reinen Begriff der
Bildnerkunſt an ſich ausgeſchloſſen. Der nähere Maaßſtab für die Beurthei-
lung dieſer Uebertragung der einen Art der Phantaſie auf die andere liegt in
dem Beſonderen der geſchichtlichen Zuſtände der Kunſt. Die Bildnerkunſt be-
darf jedoch immer gewiſſer Licht- und Schattenwirkungen, welche, obwohl durch
ihre eigenen techniſchen Mittel bewerkſtelligt, doch über das rein Plaſtiſche
hinausgehen.

„Zuthat“ bedeutet, nachdem eine ſchon im Materiale liegende ſtärkere
Farbenwirkung bereits abgewieſen iſt, eine Verbindung der Farbe mit
dem Bildwerk durch eine ausdrückliche techniſche Nachhülfe, Miſchung im
Erzguß, Aufmalen, Einſchmelzen. Der §. läßt nur „gewiſſe Andeutun-
gen“ zu; beſtimmter konnte der Spielraum im Allgemeinen nicht bezeich-
net werden, als durch dieſen Ausdruck, der nur die volle und ganze Far-
benwirkung deutlich und ſchlechthin ausſchließt. Vom rohen, grellen An-
ſtreichen thönerner und hölzerner Cultusbilder, was gewöhnlich mit
einem völligen Ankleiden Hand in Hand geht, iſt hier nicht die Rede,
dieß iſt primitives Kinderwerk, das nur im Oriente Gewohnheit blieb;
bei Götterbildern war die einfach ungebrochene Farbe ſymboliſch; im
claſſiſchen Lande wurde dieß blos vereinzelt bei Cultusbildern beibehalten,
welcher ein beſonderes Herkommen die Symbolik der Farbe (wie den
rothen Anſtrich mancher Bachusbilder) und den Puppen-Charakter be-
wahrte. Es handelt ſich hier von reifer Bildnerkunſt und einem ſolchen
Bemalen ihrer Werke, wodurch mit der Nachahmung der feſten Form Alles
verbunden werden ſoll, was der Maler an ſeinem Gegenſtande nach-
ahmend wiedergibt. Dieß iſt nun alſo ſtreng und einfach abzuweiſen.
Der Grund für dieſe Abweichung liegt zunächſt ſchon im wahren Begriffe
der Naturnachahmung: die Lebendigkeit der Natur ſoll nur in einem
reinen, nicht in einem gemein täuſchenden Scheine nachgeahmt werden,
(vergl. §. 379 und §. 513, 2.) Ein ſolcher gemeiner Schein entſteht
aber, wenn eine Kunſtform, die in einem beſtimmten ſinnlichen Materiale
thätig und an deſſen Ausſchließlichkeit gebunden iſt, mit der Wirkung die-
ſes Materials die Wirkung eines weſentlich andern verbinden will, in-
dem ſie vergißt, daß das Vollkommene gerade durch die Iſolirung der
Erſcheinungsſeiten, durch die Theilung der Arbeit erreicht wird (vergl.
§. 533). Vollkommen zeigt dieß die Wachsfigur und man kann an ihr
lernen, was in der gemeinen Täuſchung eigentlich enthalten iſt: indem
ſie mit der feſten Form das volle Colorit verbindet, überraſcht ſie

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[378/0052] §. 608. Jede Zuthat von Farbe zu der Nachbildung der feſten Form, welche ſich nicht mit gewiſſen Andeutungen begnügt, iſt durch den reinen Begriff der Bildnerkunſt an ſich ausgeſchloſſen. Der nähere Maaßſtab für die Beurthei- lung dieſer Uebertragung der einen Art der Phantaſie auf die andere liegt in dem Beſonderen der geſchichtlichen Zuſtände der Kunſt. Die Bildnerkunſt be- darf jedoch immer gewiſſer Licht- und Schattenwirkungen, welche, obwohl durch ihre eigenen techniſchen Mittel bewerkſtelligt, doch über das rein Plaſtiſche hinausgehen. „Zuthat“ bedeutet, nachdem eine ſchon im Materiale liegende ſtärkere Farbenwirkung bereits abgewieſen iſt, eine Verbindung der Farbe mit dem Bildwerk durch eine ausdrückliche techniſche Nachhülfe, Miſchung im Erzguß, Aufmalen, Einſchmelzen. Der §. läßt nur „gewiſſe Andeutun- gen“ zu; beſtimmter konnte der Spielraum im Allgemeinen nicht bezeich- net werden, als durch dieſen Ausdruck, der nur die volle und ganze Far- benwirkung deutlich und ſchlechthin ausſchließt. Vom rohen, grellen An- ſtreichen thönerner und hölzerner Cultusbilder, was gewöhnlich mit einem völligen Ankleiden Hand in Hand geht, iſt hier nicht die Rede, dieß iſt primitives Kinderwerk, das nur im Oriente Gewohnheit blieb; bei Götterbildern war die einfach ungebrochene Farbe ſymboliſch; im claſſiſchen Lande wurde dieß blos vereinzelt bei Cultusbildern beibehalten, welcher ein beſonderes Herkommen die Symbolik der Farbe (wie den rothen Anſtrich mancher Bachusbilder) und den Puppen-Charakter be- wahrte. Es handelt ſich hier von reifer Bildnerkunſt und einem ſolchen Bemalen ihrer Werke, wodurch mit der Nachahmung der feſten Form Alles verbunden werden ſoll, was der Maler an ſeinem Gegenſtande nach- ahmend wiedergibt. Dieß iſt nun alſo ſtreng und einfach abzuweiſen. Der Grund für dieſe Abweichung liegt zunächſt ſchon im wahren Begriffe der Naturnachahmung: die Lebendigkeit der Natur ſoll nur in einem reinen, nicht in einem gemein täuſchenden Scheine nachgeahmt werden, (vergl. §. 379 und §. 513, 2.) Ein ſolcher gemeiner Schein entſteht aber, wenn eine Kunſtform, die in einem beſtimmten ſinnlichen Materiale thätig und an deſſen Ausſchließlichkeit gebunden iſt, mit der Wirkung die- ſes Materials die Wirkung eines weſentlich andern verbinden will, in- dem ſie vergißt, daß das Vollkommene gerade durch die Iſolirung der Erſcheinungsſeiten, durch die Theilung der Arbeit erreicht wird (vergl. §. 533). Vollkommen zeigt dieß die Wachsfigur und man kann an ihr lernen, was in der gemeinen Täuſchung eigentlich enthalten iſt: indem ſie mit der feſten Form das volle Colorit verbindet, überraſcht ſie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/52>, abgerufen am 25.04.2024.