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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Rhodischen Künstler haben es unterlassen, sicherlich nicht, um uns auf die
genre-artige, idyllische Auffassung anzuweisen, die sonderbarer Weise Göthe
aufstellt ("ein Vater schlief mit seinen beiden Söhnen" u. s. w. Werke
B. 38, S. 41), sondern um die reine Idee des übrigens bekannten My-
thus, die Idee eines furchtbaren Göttergeschicks, das einen Vater mit seinen
Söhnen zerknickt, frei von allem zufälligen Beiwerk zur Darstellung zu
bringen; es war leicht, die Situation des Apollo von Belvedere näher zu
bezeichnen, allein der Künstler wollte den reinen Lichtgeist als Zerstörer
des Unreinen, Dunkeln, Wilden, Verworrenen, Häßlichen nicht in der
ausdrücklichen Einzelnheit eines besondern Kampfes auffassen.

§. 613.

Da die bildende Kunst im Nebeneinander des Raums, nicht im Nachein-
ander der Zeit darstellt, so kann sie nur Einen Moment in ihrem Werke
fesseln, die losere Verbindung des Relief ausgenommen, worin die Plastik die-
selbe Gestalt in verschiedenen aufeinander folgenden Acten wiederhalen mag.
Der Eine Moment soll aber der fruchtbare, d. h. so beschaffen sein, daß er
sich in der Phantasie des Zuschauers rückwärts und vorwärts zu einer Reihe voll-
wichtiger Bilder erweitert. Was jedoch die Zusammenstellung verschiedener Per-
sonen betrifft, so kann sich die Bildnerkunst vermöge ihrer außerzeitlichen Ideali-
tät von der Schranke der Zeitrechnung entbinden.

Wir gehen vom Stoff-Umfang zum Zeitumfang des Darstellbaren
über. Es ist klar, welcher Widerspruch entsteht, wenn die bildende Kunst
es wagen will, in die Kategorie der Zeit, des Successiven überzutreten:
dieselbe Figur tritt auf Einem Werke mehreremal auf, verhält sich also
nun zu sich selbst als eine andere, steht neben sich selbst. Im innern be-
wegten Zeitleben der Phantasie ist es anders, diese führt die Eine Ge-
stalt fort durch verschiedene Situationen; im Raume verfestigt verliert sie
diese Flüssigkeit, vermöge der sie wieder und wieder auftritt und doch die-
selbe bleibt. Doch ist es in der Bildhauerei nicht ebenso das Merkzeichen
einer noch ganz im Kindheitszustande befindlichen Kunst, wie in der Ma-
lerei, wenn sie jenes Nebeneinander derselben Person wagt; deßwegen
nicht, weil auch in Einem Rahmen zusammengefaßt die einzelnen
Gruppen selbständiger sind, als in der Malerei; so findet man z. B. die
Thaten des Herkules, die Schicksale des Meleager in Einem Werke ver-
bunden. Es versteht sich übrigens, daß dieß nur in der loseren Compo-
sition des Relief erlaubt sein kann. -- Der Eine Moment aber, den
alle bildende Kunst zu ergreifen hat, wenn sie ihrem Grundgesetze treu
bleibt, soll "fruchtbar" sein. Wir haben gesehen, daß das Bewegungs-
lose und Stumme in der Phantasie des Zuschauers zu Bewegung und

Rhodiſchen Künſtler haben es unterlaſſen, ſicherlich nicht, um uns auf die
genre-artige, idylliſche Auffaſſung anzuweiſen, die ſonderbarer Weiſe Göthe
aufſtellt („ein Vater ſchlief mit ſeinen beiden Söhnen“ u. ſ. w. Werke
B. 38, S. 41), ſondern um die reine Idee des übrigens bekannten My-
thus, die Idee eines furchtbaren Göttergeſchicks, das einen Vater mit ſeinen
Söhnen zerknickt, frei von allem zufälligen Beiwerk zur Darſtellung zu
bringen; es war leicht, die Situation des Apollo von Belvedere näher zu
bezeichnen, allein der Künſtler wollte den reinen Lichtgeiſt als Zerſtörer
des Unreinen, Dunkeln, Wilden, Verworrenen, Häßlichen nicht in der
ausdrücklichen Einzelnheit eines beſondern Kampfes auffaſſen.

§. 613.

Da die bildende Kunſt im Nebeneinander des Raums, nicht im Nachein-
ander der Zeit darſtellt, ſo kann ſie nur Einen Moment in ihrem Werke
feſſeln, die loſere Verbindung des Relief ausgenommen, worin die Plaſtik die-
ſelbe Geſtalt in verſchiedenen aufeinander folgenden Acten wiederhalen mag.
Der Eine Moment ſoll aber der fruchtbare, d. h. ſo beſchaffen ſein, daß er
ſich in der Phantaſie des Zuſchauers rückwärts und vorwärts zu einer Reihe voll-
wichtiger Bilder erweitert. Was jedoch die Zuſammenſtellung verſchiedener Per-
ſonen betrifft, ſo kann ſich die Bildnerkunſt vermöge ihrer außerzeitlichen Ideali-
tät von der Schranke der Zeitrechnung entbinden.

Wir gehen vom Stoff-Umfang zum Zeitumfang des Darſtellbaren
über. Es iſt klar, welcher Widerſpruch entſteht, wenn die bildende Kunſt
es wagen will, in die Kategorie der Zeit, des Succeſſiven überzutreten:
dieſelbe Figur tritt auf Einem Werke mehreremal auf, verhält ſich alſo
nun zu ſich ſelbſt als eine andere, ſteht neben ſich ſelbſt. Im innern be-
wegten Zeitleben der Phantaſie iſt es anders, dieſe führt die Eine Ge-
ſtalt fort durch verſchiedene Situationen; im Raume verfeſtigt verliert ſie
dieſe Flüſſigkeit, vermöge der ſie wieder und wieder auftritt und doch die-
ſelbe bleibt. Doch iſt es in der Bildhauerei nicht ebenſo das Merkzeichen
einer noch ganz im Kindheitszuſtande befindlichen Kunſt, wie in der Ma-
lerei, wenn ſie jenes Nebeneinander derſelben Perſon wagt; deßwegen
nicht, weil auch in Einem Rahmen zuſammengefaßt die einzelnen
Gruppen ſelbſtändiger ſind, als in der Malerei; ſo findet man z. B. die
Thaten des Herkules, die Schickſale des Meleager in Einem Werke ver-
bunden. Es verſteht ſich übrigens, daß dieß nur in der loſeren Compo-
ſition des Relief erlaubt ſein kann. — Der Eine Moment aber, den
alle bildende Kunſt zu ergreifen hat, wenn ſie ihrem Grundgeſetze treu
bleibt, ſoll „fruchtbar“ ſein. Wir haben geſehen, daß das Bewegungs-
loſe und Stumme in der Phantaſie des Zuſchauers zu Bewegung und

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[399/0073] Rhodiſchen Künſtler haben es unterlaſſen, ſicherlich nicht, um uns auf die genre-artige, idylliſche Auffaſſung anzuweiſen, die ſonderbarer Weiſe Göthe aufſtellt („ein Vater ſchlief mit ſeinen beiden Söhnen“ u. ſ. w. Werke B. 38, S. 41), ſondern um die reine Idee des übrigens bekannten My- thus, die Idee eines furchtbaren Göttergeſchicks, das einen Vater mit ſeinen Söhnen zerknickt, frei von allem zufälligen Beiwerk zur Darſtellung zu bringen; es war leicht, die Situation des Apollo von Belvedere näher zu bezeichnen, allein der Künſtler wollte den reinen Lichtgeiſt als Zerſtörer des Unreinen, Dunkeln, Wilden, Verworrenen, Häßlichen nicht in der ausdrücklichen Einzelnheit eines beſondern Kampfes auffaſſen. §. 613. Da die bildende Kunſt im Nebeneinander des Raums, nicht im Nachein- ander der Zeit darſtellt, ſo kann ſie nur Einen Moment in ihrem Werke feſſeln, die loſere Verbindung des Relief ausgenommen, worin die Plaſtik die- ſelbe Geſtalt in verſchiedenen aufeinander folgenden Acten wiederhalen mag. Der Eine Moment ſoll aber der fruchtbare, d. h. ſo beſchaffen ſein, daß er ſich in der Phantaſie des Zuſchauers rückwärts und vorwärts zu einer Reihe voll- wichtiger Bilder erweitert. Was jedoch die Zuſammenſtellung verſchiedener Per- ſonen betrifft, ſo kann ſich die Bildnerkunſt vermöge ihrer außerzeitlichen Ideali- tät von der Schranke der Zeitrechnung entbinden. Wir gehen vom Stoff-Umfang zum Zeitumfang des Darſtellbaren über. Es iſt klar, welcher Widerſpruch entſteht, wenn die bildende Kunſt es wagen will, in die Kategorie der Zeit, des Succeſſiven überzutreten: dieſelbe Figur tritt auf Einem Werke mehreremal auf, verhält ſich alſo nun zu ſich ſelbſt als eine andere, ſteht neben ſich ſelbſt. Im innern be- wegten Zeitleben der Phantaſie iſt es anders, dieſe führt die Eine Ge- ſtalt fort durch verſchiedene Situationen; im Raume verfeſtigt verliert ſie dieſe Flüſſigkeit, vermöge der ſie wieder und wieder auftritt und doch die- ſelbe bleibt. Doch iſt es in der Bildhauerei nicht ebenſo das Merkzeichen einer noch ganz im Kindheitszuſtande befindlichen Kunſt, wie in der Ma- lerei, wenn ſie jenes Nebeneinander derſelben Perſon wagt; deßwegen nicht, weil auch in Einem Rahmen zuſammengefaßt die einzelnen Gruppen ſelbſtändiger ſind, als in der Malerei; ſo findet man z. B. die Thaten des Herkules, die Schickſale des Meleager in Einem Werke ver- bunden. Es verſteht ſich übrigens, daß dieß nur in der loſeren Compo- ſition des Relief erlaubt ſein kann. — Der Eine Moment aber, den alle bildende Kunſt zu ergreifen hat, wenn ſie ihrem Grundgeſetze treu bleibt, ſoll „fruchtbar“ ſein. Wir haben geſehen, daß das Bewegungs- loſe und Stumme in der Phantaſie des Zuſchauers zu Bewegung und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/73>, abgerufen am 29.03.2024.