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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 614.

1.

Die innere Bestimmtheit der Bildnerkunst ist der Inbegriff der Ge-
setze für die qualitative Behandlung des also begrenzten Stoffs in seinen näheren
Unterschieden, d. h. der Stylgesetze. Es folgt aus dem Prinzip der directen
Idealistrung §. 603, daß hier der Styl der einzelnen Kunst (§. 532) mit
dem intensiven Begriffe des Styls als der zur technischen Gewöhnung gewordenen
Großheit und Idealität (§. 527) besonders innig und unmittelbar zusammen-
fällt. Als allgemeines Stylgesetz ergibt sich daraus die Forderung durchaus
2.völliger und scharf bestimmter, in einfache, wenig gebrochene,
schwungvolle
Umrisse eingefaßter Formen.

1. Die ganze Unterscheidung zwischen einer äußern und innern Be-
stimmtheit ist zu §. 607 bereits als eine nur relative bezeichnet. Wie
daher alle unter jenem Begriff erörterten Puncte schon an die Stylfrage
rühren, so erhalten sie umgekehrt aus der Erörterung dieser selbst erst
vielfach nähere Bestimmung: der Stoff selbst, dessen Umfang erst in seinen
äußersten Grenzen angegeben ist, kann sich jetzt erst als eine reiche Welt
in der Bestimmtheit ihrer Unterschiede entfalten, die Frage über die Dar-
stellung des Momentanen wird sich in eingänglicherer Weise lösen u. s. w.
Die eigentliche Aufgabe ist aber jetzt, den Geist der Bildnerkunst,
wie er in der Lehre vom Wesen derselben erst in seinen allgemeinen Zügen
entworfen ist, in seiner qualitativen Wirkung concret zu entwickeln, zu
zeigen, welche bestimmte Formen künstlerischer Behandlung des Stoffs
nach seinen verschiedenen Seiten dieser Geist mit sich bringt, und dieß ist
die Lehre vom plastischen Styl. Der §. stellt nun zuerst über den Grund-
charakter des plastischen Styls einen allgemeinen Satz auf, der aus jenem
in §. 603 aufgestellten Gesetze der directen Idealisirung, wonach
die einzelne Gestalt schön sein muß, sich ergibt. Es ist zu diesem Zweck
auf die allgemeine Kunstlehre zurückzugehen. In §. 532 bedeutete Styl
zunächst ohne besondern Nachdruck und positiven Inhalt die Auffassungs-
weise der einzelnen Kunst, wie sie sich im technischen Verfahren stehend
niederlegt. Dagegen ist der Begriff des Styls mit dem ganzen Gewichte
positiven Nachdrucks in §. 527 aufgeführt, aber nur auf den einzelnen
großen Meister, abgesehen von irgend einer besondern Kunst, angewandt
in dem Sinne, den man mit dem Worte verbindet, wenn man sagt: der
und der Künstler hat Styl. Styl in diesem intensiven Sinn ist der Aus-
druck einer mächtigen Subjectivität, welche "alles Unbestimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine vom Wesentlichen des Gegenstandes ausscheidet und
die der Großheit ihrer Anschauung entsprechenden, in festem Rhythmus
schwungvoll bewegten, durch ihren über den Wechsel des Augenblicks

§. 614.

1.

Die innere Beſtimmtheit der Bildnerkunſt iſt der Inbegriff der Ge-
ſetze für die qualitative Behandlung des alſo begrenzten Stoffs in ſeinen näheren
Unterſchieden, d. h. der Stylgeſetze. Es folgt aus dem Prinzip der directen
Idealiſtrung §. 603, daß hier der Styl der einzelnen Kunſt (§. 532) mit
dem intenſiven Begriffe des Styls als der zur techniſchen Gewöhnung gewordenen
Großheit und Idealität (§. 527) beſonders innig und unmittelbar zuſammen-
fällt. Als allgemeines Stylgeſetz ergibt ſich daraus die Forderung durchaus
2.völliger und ſcharf beſtimmter, in einfache, wenig gebrochene,
ſchwungvolle
Umriſſe eingefaßter Formen.

1. Die ganze Unterſcheidung zwiſchen einer äußern und innern Be-
ſtimmtheit iſt zu §. 607 bereits als eine nur relative bezeichnet. Wie
daher alle unter jenem Begriff erörterten Puncte ſchon an die Stylfrage
rühren, ſo erhalten ſie umgekehrt aus der Erörterung dieſer ſelbſt erſt
vielfach nähere Beſtimmung: der Stoff ſelbſt, deſſen Umfang erſt in ſeinen
äußerſten Grenzen angegeben iſt, kann ſich jetzt erſt als eine reiche Welt
in der Beſtimmtheit ihrer Unterſchiede entfalten, die Frage über die Dar-
ſtellung des Momentanen wird ſich in eingänglicherer Weiſe löſen u. ſ. w.
Die eigentliche Aufgabe iſt aber jetzt, den Geiſt der Bildnerkunſt,
wie er in der Lehre vom Weſen derſelben erſt in ſeinen allgemeinen Zügen
entworfen iſt, in ſeiner qualitativen Wirkung concret zu entwickeln, zu
zeigen, welche beſtimmte Formen künſtleriſcher Behandlung des Stoffs
nach ſeinen verſchiedenen Seiten dieſer Geiſt mit ſich bringt, und dieß iſt
die Lehre vom plaſtiſchen Styl. Der §. ſtellt nun zuerſt über den Grund-
charakter des plaſtiſchen Styls einen allgemeinen Satz auf, der aus jenem
in §. 603 aufgeſtellten Geſetze der directen Idealiſirung, wonach
die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, ſich ergibt. Es iſt zu dieſem Zweck
auf die allgemeine Kunſtlehre zurückzugehen. In §. 532 bedeutete Styl
zunächſt ohne beſondern Nachdruck und poſitiven Inhalt die Auffaſſungs-
weiſe der einzelnen Kunſt, wie ſie ſich im techniſchen Verfahren ſtehend
niederlegt. Dagegen iſt der Begriff des Styls mit dem ganzen Gewichte
poſitiven Nachdrucks in §. 527 aufgeführt, aber nur auf den einzelnen
großen Meiſter, abgeſehen von irgend einer beſondern Kunſt, angewandt
in dem Sinne, den man mit dem Worte verbindet, wenn man ſagt: der
und der Künſtler hat Styl. Styl in dieſem intenſiven Sinn iſt der Aus-
druck einer mächtigen Subjectivität, welche „alles Unbeſtimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine vom Weſentlichen des Gegenſtandes ausſcheidet und
die der Großheit ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus
ſchwungvoll bewegten, durch ihren über den Wechſel des Augenblicks

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[404/0078] §. 614. Die innere Beſtimmtheit der Bildnerkunſt iſt der Inbegriff der Ge- ſetze für die qualitative Behandlung des alſo begrenzten Stoffs in ſeinen näheren Unterſchieden, d. h. der Stylgeſetze. Es folgt aus dem Prinzip der directen Idealiſtrung §. 603, daß hier der Styl der einzelnen Kunſt (§. 532) mit dem intenſiven Begriffe des Styls als der zur techniſchen Gewöhnung gewordenen Großheit und Idealität (§. 527) beſonders innig und unmittelbar zuſammen- fällt. Als allgemeines Stylgeſetz ergibt ſich daraus die Forderung durchaus völliger und ſcharf beſtimmter, in einfache, wenig gebrochene, ſchwungvolle Umriſſe eingefaßter Formen. 1. Die ganze Unterſcheidung zwiſchen einer äußern und innern Be- ſtimmtheit iſt zu §. 607 bereits als eine nur relative bezeichnet. Wie daher alle unter jenem Begriff erörterten Puncte ſchon an die Stylfrage rühren, ſo erhalten ſie umgekehrt aus der Erörterung dieſer ſelbſt erſt vielfach nähere Beſtimmung: der Stoff ſelbſt, deſſen Umfang erſt in ſeinen äußerſten Grenzen angegeben iſt, kann ſich jetzt erſt als eine reiche Welt in der Beſtimmtheit ihrer Unterſchiede entfalten, die Frage über die Dar- ſtellung des Momentanen wird ſich in eingänglicherer Weiſe löſen u. ſ. w. Die eigentliche Aufgabe iſt aber jetzt, den Geiſt der Bildnerkunſt, wie er in der Lehre vom Weſen derſelben erſt in ſeinen allgemeinen Zügen entworfen iſt, in ſeiner qualitativen Wirkung concret zu entwickeln, zu zeigen, welche beſtimmte Formen künſtleriſcher Behandlung des Stoffs nach ſeinen verſchiedenen Seiten dieſer Geiſt mit ſich bringt, und dieß iſt die Lehre vom plaſtiſchen Styl. Der §. ſtellt nun zuerſt über den Grund- charakter des plaſtiſchen Styls einen allgemeinen Satz auf, der aus jenem in §. 603 aufgeſtellten Geſetze der directen Idealiſirung, wonach die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, ſich ergibt. Es iſt zu dieſem Zweck auf die allgemeine Kunſtlehre zurückzugehen. In §. 532 bedeutete Styl zunächſt ohne beſondern Nachdruck und poſitiven Inhalt die Auffaſſungs- weiſe der einzelnen Kunſt, wie ſie ſich im techniſchen Verfahren ſtehend niederlegt. Dagegen iſt der Begriff des Styls mit dem ganzen Gewichte poſitiven Nachdrucks in §. 527 aufgeführt, aber nur auf den einzelnen großen Meiſter, abgeſehen von irgend einer beſondern Kunſt, angewandt in dem Sinne, den man mit dem Worte verbindet, wenn man ſagt: der und der Künſtler hat Styl. Styl in dieſem intenſiven Sinn iſt der Aus- druck einer mächtigen Subjectivität, welche „alles Unbeſtimmte, Gedrückte, Kleine und Gemeine vom Weſentlichen des Gegenſtandes ausſcheidet und die der Großheit ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus ſchwungvoll bewegten, durch ihren über den Wechſel des Augenblicks

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/78>, abgerufen am 28.03.2024.