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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 619.

Der plastische Ausdruch des Gleichgewichts der Kräfte fordert verhältniß-
mäßig kleines Haupt; die griechische Gesichtsbildung (vergl. §. 348, 2.),
welche als die ihm besonders entsprechende bei idealen Gestalten jederzeit
mustergültig bleibt, noch mehr die individuelleren Formen bei realer bestimmten
Gestalten sind nach denselben Grundsätzen, wie der übrige Leib, zu stylisiren;
ebenso hat die Behandlung des Haares weiche Fülle und scharfe Sonderung zu
vereinigen.

Bei großem Kopf ist entweder das Hinterhaupt und hiemit der Aus-
druck des Begehrens, oder das Vorderhaupt und die Stirne, also der Aus-
druck des Denkens, oder die untere Parthie des Gesichts, also der des Grobsinn-
lichen überwiegend; die Griechen haben daher im Sinne der plastischen
Kunst maaßgebend gehandelt, indem sie den Kopf verhältnißmäßig klein
bildeten; er spricht mehr, als der ganze übrige Körper, aber er soll hier
nicht für sich, nicht auf Kosten desselben sprechen. Warum das griechische
Profil mustergültig bleibt für Idealbildungen, ist durch die Charakteristik
desselben Th. II, S. 235 dargethan; im plastischen Style muß sich, wie
wir gesehen, das schöne Gleichgewicht des Lebens durch volle Linien äußern,
und so fällt die Auffassung des griechischen Profils bei O. Müller (a. a.
O. §. 329): "der Grundsatz, die Umriß-Linien in einem möglichst ein-
fachen Schwunge fortzuführen" u. s. w., ganz mit jener psychischen zu-
sammen. Hier ist daher nur noch von dem zu sprechen, was die Kunst:
auch an diesem glücklichsten Stoffe umbildend vorzunehmen hat, und auch
hierin bleibt die classische Sculptur Muster, denn sie hat das Stylgesetz
der Vereinigung des Völligen und Runden mit dem scharf Getheilten in
größter Reinheit durchgeführt. Jenes ist gegeben in dem schönen Oval des
Ganzen, der rundbogigen, keine nackte Winkel an den Schläfen zulassenden
Umkränzung der niedrigen, sanftgewölbten Stirn durch die Haare, der
fein schwellenden Form der Lippen, der markigen Rundung des Kinns, dem
kräftigen Kreisausschnitt des Unterkiefers, der sanften, weichen Flucht der
Wangen, dem großen, runden Auge; das Scharfe dagegen, das Bestimmte,
an architektonische Gemessenheit Erinnernde liegt namentlich in der Schär-
fung des fein geschwungenen Superciliarbogens, der energischen Ausladung
der Augenlider, der Kantenbildenden Abflachung des Nasenrückens. Von
der Behandlung des Auges ist schon zu §. 608 die Rede gewesen. Nichts
würde die Plastik weniger ertragen, als dünne, gekniffene Lippen: diese
bezeichnen den in sich verschlossenen, bis an das Kinn zugeknüpften Men-
schen; die sanfte Oeffnung derselben charakterisirt den in Offenheit, Freu-
digkeit des Daseins und Fülle reiner Sinnlichkeit frei athmenden Menschen;

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 28
§. 619.

Der plaſtiſche Ausdruch des Gleichgewichts der Kräfte fordert verhältniß-
mäßig kleines Haupt; die griechiſche Geſichtsbildung (vergl. §. 348, 2.),
welche als die ihm beſonders entſprechende bei idealen Geſtalten jederzeit
muſtergültig bleibt, noch mehr die individuelleren Formen bei realer beſtimmten
Geſtalten ſind nach denſelben Grundſätzen, wie der übrige Leib, zu ſtyliſiren;
ebenſo hat die Behandlung des Haares weiche Fülle und ſcharfe Sonderung zu
vereinigen.

Bei großem Kopf iſt entweder das Hinterhaupt und hiemit der Aus-
druck des Begehrens, oder das Vorderhaupt und die Stirne, alſo der Aus-
druck des Denkens, oder die untere Parthie des Geſichts, alſo der des Grobſinn-
lichen überwiegend; die Griechen haben daher im Sinne der plaſtiſchen
Kunſt maaßgebend gehandelt, indem ſie den Kopf verhältnißmäßig klein
bildeten; er ſpricht mehr, als der ganze übrige Körper, aber er ſoll hier
nicht für ſich, nicht auf Koſten deſſelben ſprechen. Warum das griechiſche
Profil muſtergültig bleibt für Idealbildungen, iſt durch die Charakteriſtik
deſſelben Th. II, S. 235 dargethan; im plaſtiſchen Style muß ſich, wie
wir geſehen, das ſchöne Gleichgewicht des Lebens durch volle Linien äußern,
und ſo fällt die Auffaſſung des griechiſchen Profils bei O. Müller (a. a.
O. §. 329): „der Grundſatz, die Umriß-Linien in einem möglichſt ein-
fachen Schwunge fortzuführen“ u. ſ. w., ganz mit jener pſychiſchen zu-
ſammen. Hier iſt daher nur noch von dem zu ſprechen, was die Kunſt:
auch an dieſem glücklichſten Stoffe umbildend vorzunehmen hat, und auch
hierin bleibt die claſſiſche Sculptur Muſter, denn ſie hat das Stylgeſetz
der Vereinigung des Völligen und Runden mit dem ſcharf Getheilten in
größter Reinheit durchgeführt. Jenes iſt gegeben in dem ſchönen Oval des
Ganzen, der rundbogigen, keine nackte Winkel an den Schläfen zulaſſenden
Umkränzung der niedrigen, ſanftgewölbten Stirn durch die Haare, der
fein ſchwellenden Form der Lippen, der markigen Rundung des Kinns, dem
kräftigen Kreisausſchnitt des Unterkiefers, der ſanften, weichen Flucht der
Wangen, dem großen, runden Auge; das Scharfe dagegen, das Beſtimmte,
an architektoniſche Gemeſſenheit Erinnernde liegt namentlich in der Schär-
fung des fein geſchwungenen Superciliarbogens, der energiſchen Ausladung
der Augenlider, der Kantenbildenden Abflachung des Naſenrückens. Von
der Behandlung des Auges iſt ſchon zu §. 608 die Rede geweſen. Nichts
würde die Plaſtik weniger ertragen, als dünne, gekniffene Lippen: dieſe
bezeichnen den in ſich verſchloſſenen, bis an das Kinn zugeknüpften Men-
ſchen; die ſanfte Oeffnung derſelben charakteriſirt den in Offenheit, Freu-
digkeit des Daſeins und Fülle reiner Sinnlichkeit frei athmenden Menſchen;

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 28
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[419/0093] §. 619. Der plaſtiſche Ausdruch des Gleichgewichts der Kräfte fordert verhältniß- mäßig kleines Haupt; die griechiſche Geſichtsbildung (vergl. §. 348, 2.), welche als die ihm beſonders entſprechende bei idealen Geſtalten jederzeit muſtergültig bleibt, noch mehr die individuelleren Formen bei realer beſtimmten Geſtalten ſind nach denſelben Grundſätzen, wie der übrige Leib, zu ſtyliſiren; ebenſo hat die Behandlung des Haares weiche Fülle und ſcharfe Sonderung zu vereinigen. Bei großem Kopf iſt entweder das Hinterhaupt und hiemit der Aus- druck des Begehrens, oder das Vorderhaupt und die Stirne, alſo der Aus- druck des Denkens, oder die untere Parthie des Geſichts, alſo der des Grobſinn- lichen überwiegend; die Griechen haben daher im Sinne der plaſtiſchen Kunſt maaßgebend gehandelt, indem ſie den Kopf verhältnißmäßig klein bildeten; er ſpricht mehr, als der ganze übrige Körper, aber er ſoll hier nicht für ſich, nicht auf Koſten deſſelben ſprechen. Warum das griechiſche Profil muſtergültig bleibt für Idealbildungen, iſt durch die Charakteriſtik deſſelben Th. II, S. 235 dargethan; im plaſtiſchen Style muß ſich, wie wir geſehen, das ſchöne Gleichgewicht des Lebens durch volle Linien äußern, und ſo fällt die Auffaſſung des griechiſchen Profils bei O. Müller (a. a. O. §. 329): „der Grundſatz, die Umriß-Linien in einem möglichſt ein- fachen Schwunge fortzuführen“ u. ſ. w., ganz mit jener pſychiſchen zu- ſammen. Hier iſt daher nur noch von dem zu ſprechen, was die Kunſt: auch an dieſem glücklichſten Stoffe umbildend vorzunehmen hat, und auch hierin bleibt die claſſiſche Sculptur Muſter, denn ſie hat das Stylgeſetz der Vereinigung des Völligen und Runden mit dem ſcharf Getheilten in größter Reinheit durchgeführt. Jenes iſt gegeben in dem ſchönen Oval des Ganzen, der rundbogigen, keine nackte Winkel an den Schläfen zulaſſenden Umkränzung der niedrigen, ſanftgewölbten Stirn durch die Haare, der fein ſchwellenden Form der Lippen, der markigen Rundung des Kinns, dem kräftigen Kreisausſchnitt des Unterkiefers, der ſanften, weichen Flucht der Wangen, dem großen, runden Auge; das Scharfe dagegen, das Beſtimmte, an architektoniſche Gemeſſenheit Erinnernde liegt namentlich in der Schär- fung des fein geſchwungenen Superciliarbogens, der energiſchen Ausladung der Augenlider, der Kantenbildenden Abflachung des Naſenrückens. Von der Behandlung des Auges iſt ſchon zu §. 608 die Rede geweſen. Nichts würde die Plaſtik weniger ertragen, als dünne, gekniffene Lippen: dieſe bezeichnen den in ſich verſchloſſenen, bis an das Kinn zugeknüpften Men- ſchen; die ſanfte Oeffnung derſelben charakteriſirt den in Offenheit, Freu- digkeit des Daſeins und Fülle reiner Sinnlichkeit frei athmenden Menſchen; Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 28

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/93>, abgerufen am 29.03.2024.