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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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harte Käferschaale gleicht dem gewichtig Schwerlöthigen, was wir bei
harten Körper- und Gesichtsformen der Individualität als Ersatz für die
Welle der Schönheit forderten, und eine architektonische Starrheit liegt
der Plastik weit nicht so fern, als malerisch weiche Formen, die aber ein
ironisches Zerrbild der Gestalt geben. Achnlich verhält es sich mit der
Nachbildung sehr schwerer Stoffe in jeder Art von Tracht; der schwerste
ist noch zu behandeln, sofern er irgend Falten wirft und die Form an-
deutet, wie der dünnste und leichteste, so fern er nur nicht im Gefälte
charakterlos wie geknittertes Papier erscheint. Auf jene scheinbar so un-
günstige Tracht zurück zu kommen, so ist auch der Dreimaster unendlich
mehr plastisch, als der modern runde Hut. Rauherer, farbiger betonter
Stein oder Erz eignet sich jedoch für diesen Tracht-Typus besser, als
Marmor. Reichen Beleg für unsere Sätze gibt das Friedrichs-Denkmal
in Berlin. Interessant ist besonders die Debatte über die Göthe- und
Schiller-Gruppe, die für Weimar bestimmt ist. Beide Persönlichkeiten
würden sich nach der obigen Bemerkung für die ideale Tracht eignen, aber
dann müßte die Gruppe von den idealen Kunstformen eines Theaters,
eines kleinen Tempels umschlossen sein; zwischen den deutschen Häusern,
in der vertrauten nordischen Umgebung wollen wir unsere heimischen
Dichter in lebenswahrer Culturform sehen und Rietschel genießt den Vor-
theil der günstigeren Rokoko-Tracht, die er bei der Lessings-Statue so
glücklich zu verarbeiten wußte. -- Die Frauentracht hat im faltenreich
langen Rock immer einen Rest von Idealem bewahrt; die übrigen An-
hängsel lassen sich, da dieß lange Kleid das Hauptstück ist, ohne Ge-
waltsamkeit ausscheiden.

§. 621.

Die reiche Welt besonderer Formen, zu welchem die allgemeine
Schönheit der Gestalt durch die Unterschiede der Natur und Sitte sich entfaltet,
hat ihre Grenze für die Bildnerkunst da, wo die Form zu unreif oder unbe-
stimmt, durch Leiden oder Alter entstellt, durch mangelhafte Entwicklung ge-
hemmt ist. Innerhalb dieser Grenze verlangt das Stylgesetz beziehungsweise
Verschmelzung der verschiedenen Formen zu einem Inbegriffe des vollkommenen
Lebens, ohne daß doch die Kraft ihres Unterschieds verwischt wird.

Die besonderen Formen sind theilweise schon in §. 615 erwähnt; es
konnte von der Schönheit der menschlichen Gestalt überhaupt und von
dem allgemeinen Prinzip ihrer plastischen Behandlung nicht die Rede wer-
den, ohne daß ein erster Blick auf dieses Gebiet geworfen wurde,
namentlich auf Menschenracen und Stämme, deren Typus zu weit vom

harte Käferſchaale gleicht dem gewichtig Schwerlöthigen, was wir bei
harten Körper- und Geſichtsformen der Individualität als Erſatz für die
Welle der Schönheit forderten, und eine architektoniſche Starrheit liegt
der Plaſtik weit nicht ſo fern, als maleriſch weiche Formen, die aber ein
ironiſches Zerrbild der Geſtalt geben. Achnlich verhält es ſich mit der
Nachbildung ſehr ſchwerer Stoffe in jeder Art von Tracht; der ſchwerſte
iſt noch zu behandeln, ſofern er irgend Falten wirft und die Form an-
deutet, wie der dünnſte und leichteſte, ſo fern er nur nicht im Gefälte
charakterlos wie geknittertes Papier erſcheint. Auf jene ſcheinbar ſo un-
günſtige Tracht zurück zu kommen, ſo iſt auch der Dreimaſter unendlich
mehr plaſtiſch, als der modern runde Hut. Rauherer, farbiger betonter
Stein oder Erz eignet ſich jedoch für dieſen Tracht-Typus beſſer, als
Marmor. Reichen Beleg für unſere Sätze gibt das Friedrichs-Denkmal
in Berlin. Intereſſant iſt beſonders die Debatte über die Göthe- und
Schiller-Gruppe, die für Weimar beſtimmt iſt. Beide Perſönlichkeiten
würden ſich nach der obigen Bemerkung für die ideale Tracht eignen, aber
dann müßte die Gruppe von den idealen Kunſtformen eines Theaters,
eines kleinen Tempels umſchloſſen ſein; zwiſchen den deutſchen Häuſern,
in der vertrauten nordiſchen Umgebung wollen wir unſere heimiſchen
Dichter in lebenswahrer Culturform ſehen und Rietſchel genießt den Vor-
theil der günſtigeren Rokoko-Tracht, die er bei der Leſſings-Statue ſo
glücklich zu verarbeiten wußte. — Die Frauentracht hat im faltenreich
langen Rock immer einen Reſt von Idealem bewahrt; die übrigen An-
hängſel laſſen ſich, da dieß lange Kleid das Hauptſtück iſt, ohne Ge-
waltſamkeit ausſcheiden.

§. 621.

Die reiche Welt beſonderer Formen, zu welchem die allgemeine
Schönheit der Geſtalt durch die Unterſchiede der Natur und Sitte ſich entfaltet,
hat ihre Grenze für die Bildnerkunſt da, wo die Form zu unreif oder unbe-
ſtimmt, durch Leiden oder Alter entſtellt, durch mangelhafte Entwicklung ge-
hemmt iſt. Innerhalb dieſer Grenze verlangt das Stylgeſetz beziehungsweiſe
Verſchmelzung der verſchiedenen Formen zu einem Inbegriffe des vollkommenen
Lebens, ohne daß doch die Kraft ihres Unterſchieds verwiſcht wird.

Die beſonderen Formen ſind theilweiſe ſchon in §. 615 erwähnt; es
konnte von der Schönheit der menſchlichen Geſtalt überhaupt und von
dem allgemeinen Prinzip ihrer plaſtiſchen Behandlung nicht die Rede wer-
den, ohne daß ein erſter Blick auf dieſes Gebiet geworfen wurde,
namentlich auf Menſchenracen und Stämme, deren Typus zu weit vom

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[425/0099] harte Käferſchaale gleicht dem gewichtig Schwerlöthigen, was wir bei harten Körper- und Geſichtsformen der Individualität als Erſatz für die Welle der Schönheit forderten, und eine architektoniſche Starrheit liegt der Plaſtik weit nicht ſo fern, als maleriſch weiche Formen, die aber ein ironiſches Zerrbild der Geſtalt geben. Achnlich verhält es ſich mit der Nachbildung ſehr ſchwerer Stoffe in jeder Art von Tracht; der ſchwerſte iſt noch zu behandeln, ſofern er irgend Falten wirft und die Form an- deutet, wie der dünnſte und leichteſte, ſo fern er nur nicht im Gefälte charakterlos wie geknittertes Papier erſcheint. Auf jene ſcheinbar ſo un- günſtige Tracht zurück zu kommen, ſo iſt auch der Dreimaſter unendlich mehr plaſtiſch, als der modern runde Hut. Rauherer, farbiger betonter Stein oder Erz eignet ſich jedoch für dieſen Tracht-Typus beſſer, als Marmor. Reichen Beleg für unſere Sätze gibt das Friedrichs-Denkmal in Berlin. Intereſſant iſt beſonders die Debatte über die Göthe- und Schiller-Gruppe, die für Weimar beſtimmt iſt. Beide Perſönlichkeiten würden ſich nach der obigen Bemerkung für die ideale Tracht eignen, aber dann müßte die Gruppe von den idealen Kunſtformen eines Theaters, eines kleinen Tempels umſchloſſen ſein; zwiſchen den deutſchen Häuſern, in der vertrauten nordiſchen Umgebung wollen wir unſere heimiſchen Dichter in lebenswahrer Culturform ſehen und Rietſchel genießt den Vor- theil der günſtigeren Rokoko-Tracht, die er bei der Leſſings-Statue ſo glücklich zu verarbeiten wußte. — Die Frauentracht hat im faltenreich langen Rock immer einen Reſt von Idealem bewahrt; die übrigen An- hängſel laſſen ſich, da dieß lange Kleid das Hauptſtück iſt, ohne Ge- waltſamkeit ausſcheiden. §. 621. Die reiche Welt beſonderer Formen, zu welchem die allgemeine Schönheit der Geſtalt durch die Unterſchiede der Natur und Sitte ſich entfaltet, hat ihre Grenze für die Bildnerkunſt da, wo die Form zu unreif oder unbe- ſtimmt, durch Leiden oder Alter entſtellt, durch mangelhafte Entwicklung ge- hemmt iſt. Innerhalb dieſer Grenze verlangt das Stylgeſetz beziehungsweiſe Verſchmelzung der verſchiedenen Formen zu einem Inbegriffe des vollkommenen Lebens, ohne daß doch die Kraft ihres Unterſchieds verwiſcht wird. Die beſonderen Formen ſind theilweiſe ſchon in §. 615 erwähnt; es konnte von der Schönheit der menſchlichen Geſtalt überhaupt und von dem allgemeinen Prinzip ihrer plaſtiſchen Behandlung nicht die Rede wer- den, ohne daß ein erſter Blick auf dieſes Gebiet geworfen wurde, namentlich auf Menſchenracen und Stämme, deren Typus zu weit vom

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/99>, abgerufen am 23.04.2024.