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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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persönlichen Einheit, ohne ihre Bestimmtheit zu verlöschen, mit dem Aus-
drucke der höchsten Einheit des absoluten Lebens durchdringt, worin alle Ge-
gensätze schwinden.

1. Die Aufregung der Leidenschaft wickelt die in Seele und Leib ent-
haltenen Kräfte ab und zeigt sie dadurch in ihrer Ausdrücklichkeit, das
Ganze selbst ist aber dadurch in der Art aufgelöst, daß es aus seinen
Theilen als eine aus dem Verborgenen ihrer Empörung entgegenwir-
kende Einheit nur mittelbar erkannt wird; der Sieg, die wirkliche Her-
stellung des erfüllten, gleichwirkenden Ganzen mag als gesichert, als ver-
bürgt erscheinen, wir wollen ihn aber auch vollzogen sehen; die Dishar-
monie soll zum Ausbruch kommen, um die Harmonie in ihrem Wesen
zu zeigen, die Harmonie selbst aber soll nun auch der Disharmonie ge-
genüber in ihrer Wirklichkeit auftreten. Andere Künste nun mögen in
der Mehrzahl ihrer Werke Beides verbinden und vom ruhigen Anfang
durch die empörte Mitte zum ruhigen Schlusse eigentlich oder uneigentlich,
d. h. wirklich in Zeitform oder in einer reichen räumlichen Composition sich
fortbewegen; aber in der Sculptur muß nothwendig die Darstellung der
wirklichen Ruhe die herrschende sein, weil sie die erste Form der Fort-
bewegung gar nicht, die zweite in sehr beschränktem Maaße hat und in
der einzelnen Gestalt die Schönheit als Ausdruck des mitten im Sturme
ruhigen Meeresgrunds so schwer zu retten ist. Hier gilt es, die Herr-
lichkeit der ruhigen See darzustellen, der Meeresstille, die freilich nie eine
absolute ist, sondern durch ihr ahnungsvolles Rauschen vergangene und
künftige Stürme ahnen läßt, also das Menschenbild in unendlicher Be-
weglichkeit und doch in unbewegter Ruhe der Seele. Die große und
edle Seele erleidet selten Stürme, ihre Fassung und Ruhe wird stetig
und diese Stetigkeit drückt sich in der Bildnerkunst so aus, daß sie in
der Mehrzahl der Darstellungen als Stoff auftritt, daß sie der herrschende
Gegenstand ist. Wir sind von allen Seiten, von den äußern und innern
Bedingungen so bestimmt auf diesen Satz, der daher auch öfters schon
ausgesprochen worden, hingedrängt, daß es jetzt nur noch der ausdrück-
lichen Aufstellung bedurfte. Der Unterschied ist aber der, daß dieser
Satz uns jetzt Resultat ist, daß er aus einer Reihe von Bestimmungen,
die ihn aufzuheben schienen, reif und gesichert hervorspringt. Die Ruhe
hat nun natürlich wieder ihre verschiedenen Formen und Stufen. For-
men: sie ist das einemal mehr sinnlich, natürlich nicht seelenlos, aber
doch nicht positiver Ausdruck sittlicher Mächtigkeit der Seele; am nächsten
der blos sinnlichen Ruhe liegt der Schlummer, ein behagliches Sitzen,
ein Stehen mit angelehntem Rücken, aufgestütztem Arme, oder auch frei
mit dem Ausdruck naiver Beschaulichkeit; aber in diese letzteren Formen

perſönlichen Einheit, ohne ihre Beſtimmtheit zu verlöſchen, mit dem Aus-
drucke der höchſten Einheit des abſoluten Lebens durchdringt, worin alle Ge-
genſätze ſchwinden.

1. Die Aufregung der Leidenſchaft wickelt die in Seele und Leib ent-
haltenen Kräfte ab und zeigt ſie dadurch in ihrer Ausdrücklichkeit, das
Ganze ſelbſt iſt aber dadurch in der Art aufgelöſt, daß es aus ſeinen
Theilen als eine aus dem Verborgenen ihrer Empörung entgegenwir-
kende Einheit nur mittelbar erkannt wird; der Sieg, die wirkliche Her-
ſtellung des erfüllten, gleichwirkenden Ganzen mag als geſichert, als ver-
bürgt erſcheinen, wir wollen ihn aber auch vollzogen ſehen; die Dishar-
monie ſoll zum Ausbruch kommen, um die Harmonie in ihrem Weſen
zu zeigen, die Harmonie ſelbſt aber ſoll nun auch der Disharmonie ge-
genüber in ihrer Wirklichkeit auftreten. Andere Künſte nun mögen in
der Mehrzahl ihrer Werke Beides verbinden und vom ruhigen Anfang
durch die empörte Mitte zum ruhigen Schluſſe eigentlich oder uneigentlich,
d. h. wirklich in Zeitform oder in einer reichen räumlichen Compoſition ſich
fortbewegen; aber in der Sculptur muß nothwendig die Darſtellung der
wirklichen Ruhe die herrſchende ſein, weil ſie die erſte Form der Fort-
bewegung gar nicht, die zweite in ſehr beſchränktem Maaße hat und in
der einzelnen Geſtalt die Schönheit als Ausdruck des mitten im Sturme
ruhigen Meeresgrunds ſo ſchwer zu retten iſt. Hier gilt es, die Herr-
lichkeit der ruhigen See darzuſtellen, der Meeresſtille, die freilich nie eine
abſolute iſt, ſondern durch ihr ahnungsvolles Rauſchen vergangene und
künftige Stürme ahnen läßt, alſo das Menſchenbild in unendlicher Be-
weglichkeit und doch in unbewegter Ruhe der Seele. Die große und
edle Seele erleidet ſelten Stürme, ihre Faſſung und Ruhe wird ſtetig
und dieſe Stetigkeit drückt ſich in der Bildnerkunſt ſo aus, daß ſie in
der Mehrzahl der Darſtellungen als Stoff auftritt, daß ſie der herrſchende
Gegenſtand iſt. Wir ſind von allen Seiten, von den äußern und innern
Bedingungen ſo beſtimmt auf dieſen Satz, der daher auch öfters ſchon
ausgeſprochen worden, hingedrängt, daß es jetzt nur noch der ausdrück-
lichen Aufſtellung bedurfte. Der Unterſchied iſt aber der, daß dieſer
Satz uns jetzt Reſultat iſt, daß er aus einer Reihe von Beſtimmungen,
die ihn aufzuheben ſchienen, reif und geſichert hervorſpringt. Die Ruhe
hat nun natürlich wieder ihre verſchiedenen Formen und Stufen. For-
men: ſie iſt das einemal mehr ſinnlich, natürlich nicht ſeelenlos, aber
doch nicht poſitiver Ausdruck ſittlicher Mächtigkeit der Seele; am nächſten
der blos ſinnlichen Ruhe liegt der Schlummer, ein behagliches Sitzen,
ein Stehen mit angelehntem Rücken, aufgeſtütztem Arme, oder auch frei
mit dem Ausdruck naiver Beſchaulichkeit; aber in dieſe letzteren Formen

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[438/0112] perſönlichen Einheit, ohne ihre Beſtimmtheit zu verlöſchen, mit dem Aus- drucke der höchſten Einheit des abſoluten Lebens durchdringt, worin alle Ge- genſätze ſchwinden. 1. Die Aufregung der Leidenſchaft wickelt die in Seele und Leib ent- haltenen Kräfte ab und zeigt ſie dadurch in ihrer Ausdrücklichkeit, das Ganze ſelbſt iſt aber dadurch in der Art aufgelöſt, daß es aus ſeinen Theilen als eine aus dem Verborgenen ihrer Empörung entgegenwir- kende Einheit nur mittelbar erkannt wird; der Sieg, die wirkliche Her- ſtellung des erfüllten, gleichwirkenden Ganzen mag als geſichert, als ver- bürgt erſcheinen, wir wollen ihn aber auch vollzogen ſehen; die Dishar- monie ſoll zum Ausbruch kommen, um die Harmonie in ihrem Weſen zu zeigen, die Harmonie ſelbſt aber ſoll nun auch der Disharmonie ge- genüber in ihrer Wirklichkeit auftreten. Andere Künſte nun mögen in der Mehrzahl ihrer Werke Beides verbinden und vom ruhigen Anfang durch die empörte Mitte zum ruhigen Schluſſe eigentlich oder uneigentlich, d. h. wirklich in Zeitform oder in einer reichen räumlichen Compoſition ſich fortbewegen; aber in der Sculptur muß nothwendig die Darſtellung der wirklichen Ruhe die herrſchende ſein, weil ſie die erſte Form der Fort- bewegung gar nicht, die zweite in ſehr beſchränktem Maaße hat und in der einzelnen Geſtalt die Schönheit als Ausdruck des mitten im Sturme ruhigen Meeresgrunds ſo ſchwer zu retten iſt. Hier gilt es, die Herr- lichkeit der ruhigen See darzuſtellen, der Meeresſtille, die freilich nie eine abſolute iſt, ſondern durch ihr ahnungsvolles Rauſchen vergangene und künftige Stürme ahnen läßt, alſo das Menſchenbild in unendlicher Be- weglichkeit und doch in unbewegter Ruhe der Seele. Die große und edle Seele erleidet ſelten Stürme, ihre Faſſung und Ruhe wird ſtetig und dieſe Stetigkeit drückt ſich in der Bildnerkunſt ſo aus, daß ſie in der Mehrzahl der Darſtellungen als Stoff auftritt, daß ſie der herrſchende Gegenſtand iſt. Wir ſind von allen Seiten, von den äußern und innern Bedingungen ſo beſtimmt auf dieſen Satz, der daher auch öfters ſchon ausgeſprochen worden, hingedrängt, daß es jetzt nur noch der ausdrück- lichen Aufſtellung bedurfte. Der Unterſchied iſt aber der, daß dieſer Satz uns jetzt Reſultat iſt, daß er aus einer Reihe von Beſtimmungen, die ihn aufzuheben ſchienen, reif und geſichert hervorſpringt. Die Ruhe hat nun natürlich wieder ihre verſchiedenen Formen und Stufen. For- men: ſie iſt das einemal mehr ſinnlich, natürlich nicht ſeelenlos, aber doch nicht poſitiver Ausdruck ſittlicher Mächtigkeit der Seele; am nächſten der blos ſinnlichen Ruhe liegt der Schlummer, ein behagliches Sitzen, ein Stehen mit angelehntem Rücken, aufgeſtütztem Arme, oder auch frei mit dem Ausdruck naiver Beſchaulichkeit; aber in dieſe letzteren Formen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/112>, abgerufen am 19.04.2024.