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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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starr conventionellen Sinn ideal, obwohl nicht oder nur kurz und ganz
vereinzelt im Sinn der symbolisch häßlichen Formenzusammensetzung wie
im Morgenland, diesem dagegen fällt der Naturalismus zu. Zweitens:
man behandelt den Menschen mit überraschend scharfer, lebendiger Na-
turtreue, aber nur die Gestalt, ausgenommen den Kopf; dieser behielt in
allen Situationen das immer gleiche typische Lächeln und die gleiche Ge-
sichtsbildung; also hier Naturalismus ohne Individualismus (wovon etwa
nur schüchterne erste Versuche der Porträtbildung auf Stelen und And.
eine Ausnahme machen). Die Götter haben weder Individualität (denn
die bloße Bezeichnung durch Attribute ist keine), noch Naturtreue, die
Menschenbilder diese ohne jene. Inzwischen erweitert sich der Kreis der
Stoffe durch die Ausbildung einer Heroenwelt, wie sie in diesem Reich-
thum kein orientalisches Volk hatte, und ist so wenigstens im Stoffe das
Zwischenglied zur flüssigen Verbindung beider Welten gegeben. Das Co-
lossale herrscht von Anfang nicht in dem Uebermaaße wie im Orient und
die Lösung von der Baukunst tritt früher und völliger ein.

§. 641.

Der hohe oder erhaben schöne Styl steht im Mittelpuncte des We-
sens der Plastik; doch muß es eine reichere und freiere Ausbildung der An-
muth, des empfindungsvoll oder malerisch Bewegten, des Tragischen und Ko-
mischen und eine Erweiterung der Stoffwelt geben, die noch fest am Bande
der bildnerischen Schönheitsgesetze bleibt: der einfach schöne, reizende und
rührende Styl ist von demselben noch gehalten, zieht aber eine naturalistische,
individualistrende, über die geschichtlichen Stoffe sich erweiternde, selbstbewußte
Richtung nach sich, welche die feine Linie überspringt und der, in der römi-
schen Welt
sich vollendenden, Auflösung des plastischen Styls, die zugleich
Rückfall in orientalische Formen ist, das Thor öffnet.

Der Styl der ethischen Hoheit, wie ihn in Attika Phidias mit sei-
nen Schülern Agorakritos und Alkamenes, im Peloponnes namentlich ein
Polyklet ausgebildet, ist zu §. 531 in seinen Grundzügen schon dargestellt.
Seine Würde ist keineswegs anmuthlos, sondern jene "erhabene Gra-
zie", wie sie Winkelmann nennt; eine mäßige Neigung zum Colossalen
geht mit der vorherrschenden Darstellung der höchsten Götter-Ideale Hand
in Hand; das keusche Maaß des Naturalistischen und Individuellen of-
fenbart sich als jener "Duft der Belebung", der alle Form herausführt
in die warme Fülle der Natur und ihrer süßen Nachlässigkeit und doch
nie gemeine Natur, immer unendliche Natur vor uns enthüllt; das In-
dividuelle ist insbesondere in das Götterideal eingedrungen als Grundlage

ſtarr conventionellen Sinn ideal, obwohl nicht oder nur kurz und ganz
vereinzelt im Sinn der ſymboliſch häßlichen Formenzuſammenſetzung wie
im Morgenland, dieſem dagegen fällt der Naturaliſmus zu. Zweitens:
man behandelt den Menſchen mit überraſchend ſcharfer, lebendiger Na-
turtreue, aber nur die Geſtalt, ausgenommen den Kopf; dieſer behielt in
allen Situationen das immer gleiche typiſche Lächeln und die gleiche Ge-
ſichtsbildung; alſo hier Naturaliſmus ohne Individualiſmus (wovon etwa
nur ſchüchterne erſte Verſuche der Porträtbildung auf Stelen und And.
eine Ausnahme machen). Die Götter haben weder Individualität (denn
die bloße Bezeichnung durch Attribute iſt keine), noch Naturtreue, die
Menſchenbilder dieſe ohne jene. Inzwiſchen erweitert ſich der Kreis der
Stoffe durch die Ausbildung einer Heroenwelt, wie ſie in dieſem Reich-
thum kein orientaliſches Volk hatte, und iſt ſo wenigſtens im Stoffe das
Zwiſchenglied zur flüſſigen Verbindung beider Welten gegeben. Das Co-
loſſale herrſcht von Anfang nicht in dem Uebermaaße wie im Orient und
die Löſung von der Baukunſt tritt früher und völliger ein.

§. 641.

Der hohe oder erhaben ſchöne Styl ſteht im Mittelpuncte des We-
ſens der Plaſtik; doch muß es eine reichere und freiere Ausbildung der An-
muth, des empfindungsvoll oder maleriſch Bewegten, des Tragiſchen und Ko-
miſchen und eine Erweiterung der Stoffwelt geben, die noch feſt am Bande
der bildneriſchen Schönheitsgeſetze bleibt: der einfach ſchöne, reizende und
rührende Styl iſt von demſelben noch gehalten, zieht aber eine naturaliſtiſche,
individualiſtrende, über die geſchichtlichen Stoffe ſich erweiternde, ſelbſtbewußte
Richtung nach ſich, welche die feine Linie überſpringt und der, in der römi-
ſchen Welt
ſich vollendenden, Auflöſung des plaſtiſchen Styls, die zugleich
Rückfall in orientaliſche Formen iſt, das Thor öffnet.

Der Styl der ethiſchen Hoheit, wie ihn in Attika Phidias mit ſei-
nen Schülern Agorakritos und Alkamenes, im Peloponnes namentlich ein
Polyklet ausgebildet, iſt zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ſchon dargeſtellt.
Seine Würde iſt keineswegs anmuthlos, ſondern jene „erhabene Gra-
zie“, wie ſie Winkelmann nennt; eine mäßige Neigung zum Coloſſalen
geht mit der vorherrſchenden Darſtellung der höchſten Götter-Ideale Hand
in Hand; das keuſche Maaß des Naturaliſtiſchen und Individuellen of-
fenbart ſich als jener „Duft der Belebung“, der alle Form herausführt
in die warme Fülle der Natur und ihrer ſüßen Nachläſſigkeit und doch
nie gemeine Natur, immer unendliche Natur vor uns enthüllt; das In-
dividuelle iſt insbeſondere in das Götterideal eingedrungen als Grundlage

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[478/0152] ſtarr conventionellen Sinn ideal, obwohl nicht oder nur kurz und ganz vereinzelt im Sinn der ſymboliſch häßlichen Formenzuſammenſetzung wie im Morgenland, dieſem dagegen fällt der Naturaliſmus zu. Zweitens: man behandelt den Menſchen mit überraſchend ſcharfer, lebendiger Na- turtreue, aber nur die Geſtalt, ausgenommen den Kopf; dieſer behielt in allen Situationen das immer gleiche typiſche Lächeln und die gleiche Ge- ſichtsbildung; alſo hier Naturaliſmus ohne Individualiſmus (wovon etwa nur ſchüchterne erſte Verſuche der Porträtbildung auf Stelen und And. eine Ausnahme machen). Die Götter haben weder Individualität (denn die bloße Bezeichnung durch Attribute iſt keine), noch Naturtreue, die Menſchenbilder dieſe ohne jene. Inzwiſchen erweitert ſich der Kreis der Stoffe durch die Ausbildung einer Heroenwelt, wie ſie in dieſem Reich- thum kein orientaliſches Volk hatte, und iſt ſo wenigſtens im Stoffe das Zwiſchenglied zur flüſſigen Verbindung beider Welten gegeben. Das Co- loſſale herrſcht von Anfang nicht in dem Uebermaaße wie im Orient und die Löſung von der Baukunſt tritt früher und völliger ein. §. 641. Der hohe oder erhaben ſchöne Styl ſteht im Mittelpuncte des We- ſens der Plaſtik; doch muß es eine reichere und freiere Ausbildung der An- muth, des empfindungsvoll oder maleriſch Bewegten, des Tragiſchen und Ko- miſchen und eine Erweiterung der Stoffwelt geben, die noch feſt am Bande der bildneriſchen Schönheitsgeſetze bleibt: der einfach ſchöne, reizende und rührende Styl iſt von demſelben noch gehalten, zieht aber eine naturaliſtiſche, individualiſtrende, über die geſchichtlichen Stoffe ſich erweiternde, ſelbſtbewußte Richtung nach ſich, welche die feine Linie überſpringt und der, in der römi- ſchen Welt ſich vollendenden, Auflöſung des plaſtiſchen Styls, die zugleich Rückfall in orientaliſche Formen iſt, das Thor öffnet. Der Styl der ethiſchen Hoheit, wie ihn in Attika Phidias mit ſei- nen Schülern Agorakritos und Alkamenes, im Peloponnes namentlich ein Polyklet ausgebildet, iſt zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ſchon dargeſtellt. Seine Würde iſt keineswegs anmuthlos, ſondern jene „erhabene Gra- zie“, wie ſie Winkelmann nennt; eine mäßige Neigung zum Coloſſalen geht mit der vorherrſchenden Darſtellung der höchſten Götter-Ideale Hand in Hand; das keuſche Maaß des Naturaliſtiſchen und Individuellen of- fenbart ſich als jener „Duft der Belebung“, der alle Form herausführt in die warme Fülle der Natur und ihrer ſüßen Nachläſſigkeit und doch nie gemeine Natur, immer unendliche Natur vor uns enthüllt; das In- dividuelle iſt insbeſondere in das Götterideal eingedrungen als Grundlage

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/152>, abgerufen am 28.03.2024.