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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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eines Kreises scharf und doch nie bis zur Verhärtung der einseitigen Eigenheit
unterschiedener Götterpersönlichkeiten. Neben der hohen Ruhe dieses Ideals
breitet sich die volle Bewegtheit der Handlung aus in Relief und Gie-
belgruppe; Schwung und Bewegung, in gewissem Sinn also das Male-
rische kommt hier zu voller Entfaltung und die Composition ist entwickelt
in dem Reichthum und der Gesetzlichkeit, wie sie oben dargestellt worden
ist. Die zwei Kreise treten auseinander, neben den göttlichen legt sich
der rein menschliche in Fest-Aufzügen, Tänzen, Kämpfen, belebten Sce-
nen aller Art; Porträtbildungen treten auf und sparsam wird neben sei-
ner Stellvertretung durch das Sagenhafte der wirkliche Stoff der Ge-
schichte (z. B. in den Perserkämpfen des Nike-Tempels) ergriffen. Nicht
im höchsten Sinne, dem des erhabensten Götter-Ideals, wird der Styl
der Würde ausgebildet von den peloponnesischen Meistern; sie wenden sich
mehr dem menschlich Starken in Heroen- und Athletenbildungen (auch
der Thierbildung) zu; so neben Polyklet (der nur durch seine Here jener
attischen Richtung angehört) namentlich Myron. Hier ist nun nicht nur
der Stoffkreis erweitert, sondern auch mehr Naturalismus, aber doch noch
von einer Strenge und Gewichtigkeit gehalten, welche den Charakter des
hohen Styls bewahrt. Bleiben wir bei unserem öfters gebrauchten Bilde,
so erscheint dagegen der Inhalt des Gefäßes im Style der Praxiteles
und Skopas, wie er zu §. 531 in seinen Grundzügen ebenfalls schon
geschildert ist, ungleich schwankender bewegt von reizendem, leichtem Wel-
lengekräusel bis zur heftigsten Aufwühlung, die ihn aus seinem Becken
zu reißen droht. Die Vorliebe zum Aphrodite- und Apollo-Ideal zeigt
den Uebergang von der Herrschaft der Würde zur Herrschaft der Anmuth,
zugleich dringt aber Affect und Leidenschaft in vorher ungekannter Stärke
ein, Werke wie die Niobidengruppe, die sterbende Jokaste von Sila-
nion erschüttern das Herz in seinen innersten Tiefen; mit der Welt
der Leidenschaft wird auch die des Komischen entfesselt und knüpft sich an
den dionysischen Kreis. Aber die Anmuth hat noch Würde, der Götter-
kreis ist das Herrschende und Bestimmende, die Leidenschaft bewahrt den
Adel des innern Gleichgewichts, das Komische ist zu plastischer Mäßigung
abgedämpft: Alles zu freierem Spiel entlassen und doch am Bande des
reinen Styls festgehalten, das Band sehr verlängert, aber noch nicht zer-
rissen. Diese Bereicherung, diese verstärkte Bewegung ist denn zugleich
eine innigere Versetzung der bildnerischen Phantasie mit einer Beimischung
der malerischen, musikalischen, lyrischen, namentlich aber auch der dra-
matischen, und doch auch so betrachtet bleibt das rein plastische Gefühl
fest auf seinem Boden stehen. Was nun die letzte, zunächst noch stylvolle
und an die dritte Stufe sich in engem Uebergang anknüpfende, dann all-
mählich abwärts führende Stylbildung betrifft, so sind zwei Seiten an ihr

eines Kreiſes ſcharf und doch nie bis zur Verhärtung der einſeitigen Eigenheit
unterſchiedener Götterperſönlichkeiten. Neben der hohen Ruhe dieſes Ideals
breitet ſich die volle Bewegtheit der Handlung aus in Relief und Gie-
belgruppe; Schwung und Bewegung, in gewiſſem Sinn alſo das Male-
riſche kommt hier zu voller Entfaltung und die Compoſition iſt entwickelt
in dem Reichthum und der Geſetzlichkeit, wie ſie oben dargeſtellt worden
iſt. Die zwei Kreiſe treten auseinander, neben den göttlichen legt ſich
der rein menſchliche in Feſt-Aufzügen, Tänzen, Kämpfen, belebten Sce-
nen aller Art; Porträtbildungen treten auf und ſparſam wird neben ſei-
ner Stellvertretung durch das Sagenhafte der wirkliche Stoff der Ge-
ſchichte (z. B. in den Perſerkämpfen des Nike-Tempels) ergriffen. Nicht
im höchſten Sinne, dem des erhabenſten Götter-Ideals, wird der Styl
der Würde ausgebildet von den peloponneſiſchen Meiſtern; ſie wenden ſich
mehr dem menſchlich Starken in Heroen- und Athletenbildungen (auch
der Thierbildung) zu; ſo neben Polyklet (der nur durch ſeine Here jener
attiſchen Richtung angehört) namentlich Myron. Hier iſt nun nicht nur
der Stoffkreis erweitert, ſondern auch mehr Naturaliſmus, aber doch noch
von einer Strenge und Gewichtigkeit gehalten, welche den Charakter des
hohen Styls bewahrt. Bleiben wir bei unſerem öfters gebrauchten Bilde,
ſo erſcheint dagegen der Inhalt des Gefäßes im Style der Praxiteles
und Skopas, wie er zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ebenfalls ſchon
geſchildert iſt, ungleich ſchwankender bewegt von reizendem, leichtem Wel-
lengekräuſel bis zur heftigſten Aufwühlung, die ihn aus ſeinem Becken
zu reißen droht. Die Vorliebe zum Aphrodite- und Apollo-Ideal zeigt
den Uebergang von der Herrſchaft der Würde zur Herrſchaft der Anmuth,
zugleich dringt aber Affect und Leidenſchaft in vorher ungekannter Stärke
ein, Werke wie die Niobidengruppe, die ſterbende Jokaſte von Sila-
nion erſchüttern das Herz in ſeinen innerſten Tiefen; mit der Welt
der Leidenſchaft wird auch die des Komiſchen entfeſſelt und knüpft ſich an
den dionyſiſchen Kreis. Aber die Anmuth hat noch Würde, der Götter-
kreis iſt das Herrſchende und Beſtimmende, die Leidenſchaft bewahrt den
Adel des innern Gleichgewichts, das Komiſche iſt zu plaſtiſcher Mäßigung
abgedämpft: Alles zu freierem Spiel entlaſſen und doch am Bande des
reinen Styls feſtgehalten, das Band ſehr verlängert, aber noch nicht zer-
riſſen. Dieſe Bereicherung, dieſe verſtärkte Bewegung iſt denn zugleich
eine innigere Verſetzung der bildneriſchen Phantaſie mit einer Beimiſchung
der maleriſchen, muſikaliſchen, lyriſchen, namentlich aber auch der dra-
matiſchen, und doch auch ſo betrachtet bleibt das rein plaſtiſche Gefühl
feſt auf ſeinem Boden ſtehen. Was nun die letzte, zunächſt noch ſtylvolle
und an die dritte Stufe ſich in engem Uebergang anknüpfende, dann all-
mählich abwärts führende Stylbildung betrifft, ſo ſind zwei Seiten an ihr

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[479/0153] eines Kreiſes ſcharf und doch nie bis zur Verhärtung der einſeitigen Eigenheit unterſchiedener Götterperſönlichkeiten. Neben der hohen Ruhe dieſes Ideals breitet ſich die volle Bewegtheit der Handlung aus in Relief und Gie- belgruppe; Schwung und Bewegung, in gewiſſem Sinn alſo das Male- riſche kommt hier zu voller Entfaltung und die Compoſition iſt entwickelt in dem Reichthum und der Geſetzlichkeit, wie ſie oben dargeſtellt worden iſt. Die zwei Kreiſe treten auseinander, neben den göttlichen legt ſich der rein menſchliche in Feſt-Aufzügen, Tänzen, Kämpfen, belebten Sce- nen aller Art; Porträtbildungen treten auf und ſparſam wird neben ſei- ner Stellvertretung durch das Sagenhafte der wirkliche Stoff der Ge- ſchichte (z. B. in den Perſerkämpfen des Nike-Tempels) ergriffen. Nicht im höchſten Sinne, dem des erhabenſten Götter-Ideals, wird der Styl der Würde ausgebildet von den peloponneſiſchen Meiſtern; ſie wenden ſich mehr dem menſchlich Starken in Heroen- und Athletenbildungen (auch der Thierbildung) zu; ſo neben Polyklet (der nur durch ſeine Here jener attiſchen Richtung angehört) namentlich Myron. Hier iſt nun nicht nur der Stoffkreis erweitert, ſondern auch mehr Naturaliſmus, aber doch noch von einer Strenge und Gewichtigkeit gehalten, welche den Charakter des hohen Styls bewahrt. Bleiben wir bei unſerem öfters gebrauchten Bilde, ſo erſcheint dagegen der Inhalt des Gefäßes im Style der Praxiteles und Skopas, wie er zu §. 531 in ſeinen Grundzügen ebenfalls ſchon geſchildert iſt, ungleich ſchwankender bewegt von reizendem, leichtem Wel- lengekräuſel bis zur heftigſten Aufwühlung, die ihn aus ſeinem Becken zu reißen droht. Die Vorliebe zum Aphrodite- und Apollo-Ideal zeigt den Uebergang von der Herrſchaft der Würde zur Herrſchaft der Anmuth, zugleich dringt aber Affect und Leidenſchaft in vorher ungekannter Stärke ein, Werke wie die Niobidengruppe, die ſterbende Jokaſte von Sila- nion erſchüttern das Herz in ſeinen innerſten Tiefen; mit der Welt der Leidenſchaft wird auch die des Komiſchen entfeſſelt und knüpft ſich an den dionyſiſchen Kreis. Aber die Anmuth hat noch Würde, der Götter- kreis iſt das Herrſchende und Beſtimmende, die Leidenſchaft bewahrt den Adel des innern Gleichgewichts, das Komiſche iſt zu plaſtiſcher Mäßigung abgedämpft: Alles zu freierem Spiel entlaſſen und doch am Bande des reinen Styls feſtgehalten, das Band ſehr verlängert, aber noch nicht zer- riſſen. Dieſe Bereicherung, dieſe verſtärkte Bewegung iſt denn zugleich eine innigere Verſetzung der bildneriſchen Phantaſie mit einer Beimiſchung der maleriſchen, muſikaliſchen, lyriſchen, namentlich aber auch der dra- matiſchen, und doch auch ſo betrachtet bleibt das rein plaſtiſche Gefühl feſt auf ſeinem Boden ſtehen. Was nun die letzte, zunächſt noch ſtylvolle und an die dritte Stufe ſich in engem Uebergang anknüpfende, dann all- mählich abwärts führende Stylbildung betrifft, ſo ſind zwei Seiten an ihr

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/153>, abgerufen am 18.04.2024.