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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Das Mittelalter bewegt sich also doch auch durch die in §. 636 aus-
gesprochenen Gegensätze, es sind trotz dem im vorh. §. Aufgestellten noch
verschiedene Proportionen, in denen die Styl-Elemente sich mischen, mög-
lich; aber wenn im Alterthum der Weg zu dem, was zuerst die Lysippi-
sche Schule ausbildet, der Weg der Auflösung seines Kunstideals ist, so
werden wir dagegen im Mittelalter das Umgekehrte finden: die zweite
Form, die der folg. §. zu schildern hat, widerspricht zwar dem Prinzip
der besondern Kunstgattung der Plastik, entspricht aber nur um so voll-
kommener dem Ganzen des romantischen Ideals. Vor uns liegen nun
zunächst die Entwicklungsstufen, die trotz ihrem bereits malerischen Cha-
rakter noch einen Rest plastischer Idealität gemein haben: der altchristliche
Styl, wie er, aus den Anfängen blos symbolischer Darstellung, die den
Anfängen der Plastik im Orient entsprechen, sich herausarbeitend von
den Resten unmittelbar überlieferter classischer Form zehrt, seine Erstar-
rung im Byzantinischen, dem doch eine gewisse Feierlichkeit und statuari-
sche Würde nicht abzusprechen ist, seine Neubelebung im sogenannten ro-
manischen (Ende des zehnten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts),
dann die innigere Beseelung in dem neuerdings so bezeichneten germani-
schen Style (bis in die ersten Jahrzehnte des vierzehnten Jahrhunderts).
Die zwei letztgenannten Style fließen aber fast unmerklich ineinander über:
was man noch zum romanischen Style rechnet, hat bereits, wenigstens in
Deutschland, schon etwas von dem Ausdruck tiefer Seelenmilde, der mit
dem germanischen Styl eindringt, und die schlanken Gestalten, die weiche
Haltung, Biegung, die langgezogenen, flüssig runden Falten des letzteren
kommen umgekehrt aus jener Erfrischung des Formensinns durch An-
schauung der Antike und gleichzeitige Naturstudien, wie sie in Deutschland
merkwürdiger Weise noch früher, als in Italien, eintraten, so Herrliches
in Wechselburg und Freiberg im Erzgebirge leisteten und den romanischen
Styl begründeten. Das Wichtigste ist, daß man in diesem zu neuer, tie-
fer Innigkeit beseelten romanischen Styl, den man den germanischen nennt,
nun die Probe geliefert sieht, wie der Ausdruck der tiefsten Demuth und der
ganzen Welt der Affecte, die in §. 624 als eine subjectiv innerliche von
der Bildnerkunst nach dem strengsten Maaßstab ausgeschlossen ist, in einer
gewissen Einschränkung doch noch ein plastischer Stoff sein kann: nämlich
in Einschränkung auf Affecte milder Art. Auch dieß wurde in §. 624,
Anm. 2. schon vorgesehen. Es ist die vollständige Hingebung an die Kirche
und die von ihr gebotene Geisteswelt, die das noch streng gebundene Mit-
telalter in diesen weichen Zügen mit den seitlich geneigten Köpfen aus-
drückt, ein weibliches Seelenleben der Demuth; die Seele des Weibs
bleibt in völliger Hingebung der Liebe ruhig sich selbst gleich, füllt mit
dem Ich des Geliebten ihr eigenes in einem Gleichgewichte, das bei aller

Das Mittelalter bewegt ſich alſo doch auch durch die in §. 636 aus-
geſprochenen Gegenſätze, es ſind trotz dem im vorh. §. Aufgeſtellten noch
verſchiedene Proportionen, in denen die Styl-Elemente ſich miſchen, mög-
lich; aber wenn im Alterthum der Weg zu dem, was zuerſt die Lyſippi-
ſche Schule ausbildet, der Weg der Auflöſung ſeines Kunſtideals iſt, ſo
werden wir dagegen im Mittelalter das Umgekehrte finden: die zweite
Form, die der folg. §. zu ſchildern hat, widerſpricht zwar dem Prinzip
der beſondern Kunſtgattung der Plaſtik, entſpricht aber nur um ſo voll-
kommener dem Ganzen des romantiſchen Ideals. Vor uns liegen nun
zunächſt die Entwicklungsſtufen, die trotz ihrem bereits maleriſchen Cha-
rakter noch einen Reſt plaſtiſcher Idealität gemein haben: der altchriſtliche
Styl, wie er, aus den Anfängen blos ſymboliſcher Darſtellung, die den
Anfängen der Plaſtik im Orient entſprechen, ſich herausarbeitend von
den Reſten unmittelbar überlieferter claſſiſcher Form zehrt, ſeine Erſtar-
rung im Byzantiniſchen, dem doch eine gewiſſe Feierlichkeit und ſtatuari-
ſche Würde nicht abzuſprechen iſt, ſeine Neubelebung im ſogenannten ro-
maniſchen (Ende des zehnten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts),
dann die innigere Beſeelung in dem neuerdings ſo bezeichneten germani-
ſchen Style (bis in die erſten Jahrzehnte des vierzehnten Jahrhunderts).
Die zwei letztgenannten Style fließen aber faſt unmerklich ineinander über:
was man noch zum romaniſchen Style rechnet, hat bereits, wenigſtens in
Deutſchland, ſchon etwas von dem Ausdruck tiefer Seelenmilde, der mit
dem germaniſchen Styl eindringt, und die ſchlanken Geſtalten, die weiche
Haltung, Biegung, die langgezogenen, flüſſig runden Falten des letzteren
kommen umgekehrt aus jener Erfriſchung des Formenſinns durch An-
ſchauung der Antike und gleichzeitige Naturſtudien, wie ſie in Deutſchland
merkwürdiger Weiſe noch früher, als in Italien, eintraten, ſo Herrliches
in Wechſelburg und Freiberg im Erzgebirge leiſteten und den romaniſchen
Styl begründeten. Das Wichtigſte iſt, daß man in dieſem zu neuer, tie-
fer Innigkeit beſeelten romaniſchen Styl, den man den germaniſchen nennt,
nun die Probe geliefert ſieht, wie der Ausdruck der tiefſten Demuth und der
ganzen Welt der Affecte, die in §. 624 als eine ſubjectiv innerliche von
der Bildnerkunſt nach dem ſtrengſten Maaßſtab ausgeſchloſſen iſt, in einer
gewiſſen Einſchränkung doch noch ein plaſtiſcher Stoff ſein kann: nämlich
in Einſchränkung auf Affecte milder Art. Auch dieß wurde in §. 624,
Anm. 2. ſchon vorgeſehen. Es iſt die vollſtändige Hingebung an die Kirche
und die von ihr gebotene Geiſteswelt, die das noch ſtreng gebundene Mit-
telalter in dieſen weichen Zügen mit den ſeitlich geneigten Köpfen aus-
drückt, ein weibliches Seelenleben der Demuth; die Seele des Weibs
bleibt in völliger Hingebung der Liebe ruhig ſich ſelbſt gleich, füllt mit
dem Ich des Geliebten ihr eigenes in einem Gleichgewichte, das bei aller

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[486/0160] Das Mittelalter bewegt ſich alſo doch auch durch die in §. 636 aus- geſprochenen Gegenſätze, es ſind trotz dem im vorh. §. Aufgeſtellten noch verſchiedene Proportionen, in denen die Styl-Elemente ſich miſchen, mög- lich; aber wenn im Alterthum der Weg zu dem, was zuerſt die Lyſippi- ſche Schule ausbildet, der Weg der Auflöſung ſeines Kunſtideals iſt, ſo werden wir dagegen im Mittelalter das Umgekehrte finden: die zweite Form, die der folg. §. zu ſchildern hat, widerſpricht zwar dem Prinzip der beſondern Kunſtgattung der Plaſtik, entſpricht aber nur um ſo voll- kommener dem Ganzen des romantiſchen Ideals. Vor uns liegen nun zunächſt die Entwicklungsſtufen, die trotz ihrem bereits maleriſchen Cha- rakter noch einen Reſt plaſtiſcher Idealität gemein haben: der altchriſtliche Styl, wie er, aus den Anfängen blos ſymboliſcher Darſtellung, die den Anfängen der Plaſtik im Orient entſprechen, ſich herausarbeitend von den Reſten unmittelbar überlieferter claſſiſcher Form zehrt, ſeine Erſtar- rung im Byzantiniſchen, dem doch eine gewiſſe Feierlichkeit und ſtatuari- ſche Würde nicht abzuſprechen iſt, ſeine Neubelebung im ſogenannten ro- maniſchen (Ende des zehnten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts), dann die innigere Beſeelung in dem neuerdings ſo bezeichneten germani- ſchen Style (bis in die erſten Jahrzehnte des vierzehnten Jahrhunderts). Die zwei letztgenannten Style fließen aber faſt unmerklich ineinander über: was man noch zum romaniſchen Style rechnet, hat bereits, wenigſtens in Deutſchland, ſchon etwas von dem Ausdruck tiefer Seelenmilde, der mit dem germaniſchen Styl eindringt, und die ſchlanken Geſtalten, die weiche Haltung, Biegung, die langgezogenen, flüſſig runden Falten des letzteren kommen umgekehrt aus jener Erfriſchung des Formenſinns durch An- ſchauung der Antike und gleichzeitige Naturſtudien, wie ſie in Deutſchland merkwürdiger Weiſe noch früher, als in Italien, eintraten, ſo Herrliches in Wechſelburg und Freiberg im Erzgebirge leiſteten und den romaniſchen Styl begründeten. Das Wichtigſte iſt, daß man in dieſem zu neuer, tie- fer Innigkeit beſeelten romaniſchen Styl, den man den germaniſchen nennt, nun die Probe geliefert ſieht, wie der Ausdruck der tiefſten Demuth und der ganzen Welt der Affecte, die in §. 624 als eine ſubjectiv innerliche von der Bildnerkunſt nach dem ſtrengſten Maaßſtab ausgeſchloſſen iſt, in einer gewiſſen Einſchränkung doch noch ein plaſtiſcher Stoff ſein kann: nämlich in Einſchränkung auf Affecte milder Art. Auch dieß wurde in §. 624, Anm. 2. ſchon vorgeſehen. Es iſt die vollſtändige Hingebung an die Kirche und die von ihr gebotene Geiſteswelt, die das noch ſtreng gebundene Mit- telalter in dieſen weichen Zügen mit den ſeitlich geneigten Köpfen aus- drückt, ein weibliches Seelenleben der Demuth; die Seele des Weibs bleibt in völliger Hingebung der Liebe ruhig ſich ſelbſt gleich, füllt mit dem Ich des Geliebten ihr eigenes in einem Gleichgewichte, das bei aller

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/160>, abgerufen am 23.04.2024.