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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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keine schönen Spiele mehr. Ein Fischer, eine Fischerinn, ein Ballon-
schläger, eine Amazone u. s. w., das tritt oft glücklich gelungen, aber in
kümmerlicher Vereinzelung auf. Das Auge sieht aber überhaupt nicht
mehr plastisch, die Phantasie ist nicht mehr plastisch gestimmt, dieß ist schon
in §. 468 ausgesprochen. Unter diesen Umständen hat die Rückführung
unserer Erkenntniß zur wahren Anschauung der Antike, vermittelt durch
den großen Winkelmann, dann durch die Wiederauffindung antiker Kunst-
werke aus der besten Zeit griechischer Sculptur zu keiner neuen Blüthe
dieser Kunst führen können. Wohl ist, nachdem Canova zwischen die
Ausläufer des Berninischen Styls und die Erneuerung der reinen pla-
stischen Schönheit in die Mitte getreten, ein Dannecker der letzteren schon
näher gekommen war, der große Regenerator Thorwaldsen erschienen,
wohl sind ihm bedeutende Künstler, namentlich auch in Deutschland, gefolgt,
aber es bleibt dabei, daß in dem idealen Gebiete Alles blos Reproduc-
tion durch geistvolle Rückversetzung in ein entschwundenes Phantasie- und
Kunstleben ist, ähnlich wie eine gelungene Aufführung griechischer Dramen
auf unseren Bühnen. Die ideal schöne Form bleibt für uns eine Restau-
ration wie der Olymp. Dagegen sucht nun der §. mit Rückweisung auf
§. 645, 2. eine Linie zu bezeichnen, auf welcher die moderne Sculptur
mit vollerer Kraft fortzuleben die Aussicht hat, in einem Zustande, worin
(um bei einem schon gebrauchten Bilde zu bleiben) der eine Lungenflügel,
der ihr geblieben, so erstarkt, daß der Verlust des andern verschmerzt
wird. Wir werden in andern Künsten deutlicher bestimmen können, von
was es sich hier handelt; wir werden in der Poesie sehen, wie es einen Styl
geben muß, der Shakespeares Naturalismus und Individualismus mit
dem Princip classisch idealer Schönheit zu einem Dritten, Höheren ver-
einigt, worin die Verirrungen und Barbarismen jenes nordischen Styl-
princips sich ausscheiden, während seine Charakterschärfe in der Läuterung
sich erhält. Nicht ebenso bestimmt können wir von der Bildnerkunst aus-
sagen, daß sie auf dieß Ziel loszusteuern habe; zu tief liegt in ihrem
Wesen die direct ideale Schönheit, als daß ein solcher mittlerer Styl
zwischen dem Antiken und Mittelalterlichen, dem Südlichen und Nordischen,
wenn sie ihn findet, nun eine volle Blüthe dieser Kunst genannt werden
könnte. Aber etwas ist daran; jener Styl Peter Vischers hat etwas von
Shakespeare; es muß dahinaus eine zwar nicht schwunghaft reiche,
aber doch tüchtige Zukunft liegen. Die besten Werke eines Rauch, Schwan-
thaler, Rietschel liegen, nachdem J. G. Schadow mit einem stylistisch unge-
bundneren, aber warmen Naturalismus vorausgegangen, auf diesem Wege
einer Durchdringung geschichtlich herberer, individuell charaktervoller Formen
mit einem Stylgesetz, das sie doch im Sinne strengerer Großheit und reineren
Maaßes bindet, als dieß die gothische Zeit, dann auf andere Weise die späte

keine ſchönen Spiele mehr. Ein Fiſcher, eine Fiſcherinn, ein Ballon-
ſchläger, eine Amazone u. ſ. w., das tritt oft glücklich gelungen, aber in
kümmerlicher Vereinzelung auf. Das Auge ſieht aber überhaupt nicht
mehr plaſtiſch, die Phantaſie iſt nicht mehr plaſtiſch geſtimmt, dieß iſt ſchon
in §. 468 ausgeſprochen. Unter dieſen Umſtänden hat die Rückführung
unſerer Erkenntniß zur wahren Anſchauung der Antike, vermittelt durch
den großen Winkelmann, dann durch die Wiederauffindung antiker Kunſt-
werke aus der beſten Zeit griechiſcher Sculptur zu keiner neuen Blüthe
dieſer Kunſt führen können. Wohl iſt, nachdem Canova zwiſchen die
Ausläufer des Berniniſchen Styls und die Erneuerung der reinen pla-
ſtiſchen Schönheit in die Mitte getreten, ein Dannecker der letzteren ſchon
näher gekommen war, der große Regenerator Thorwaldſen erſchienen,
wohl ſind ihm bedeutende Künſtler, namentlich auch in Deutſchland, gefolgt,
aber es bleibt dabei, daß in dem idealen Gebiete Alles blos Reproduc-
tion durch geiſtvolle Rückverſetzung in ein entſchwundenes Phantaſie- und
Kunſtleben iſt, ähnlich wie eine gelungene Aufführung griechiſcher Dramen
auf unſeren Bühnen. Die ideal ſchöne Form bleibt für uns eine Reſtau-
ration wie der Olymp. Dagegen ſucht nun der §. mit Rückweiſung auf
§. 645, 2. eine Linie zu bezeichnen, auf welcher die moderne Sculptur
mit vollerer Kraft fortzuleben die Ausſicht hat, in einem Zuſtande, worin
(um bei einem ſchon gebrauchten Bilde zu bleiben) der eine Lungenflügel,
der ihr geblieben, ſo erſtarkt, daß der Verluſt des andern verſchmerzt
wird. Wir werden in andern Künſten deutlicher beſtimmen können, von
was es ſich hier handelt; wir werden in der Poeſie ſehen, wie es einen Styl
geben muß, der Shakespeares Naturaliſmus und Individualiſmus mit
dem Princip claſſiſch idealer Schönheit zu einem Dritten, Höheren ver-
einigt, worin die Verirrungen und Barbariſmen jenes nordiſchen Styl-
princips ſich ausſcheiden, während ſeine Charakterſchärfe in der Läuterung
ſich erhält. Nicht ebenſo beſtimmt können wir von der Bildnerkunſt aus-
ſagen, daß ſie auf dieß Ziel loszuſteuern habe; zu tief liegt in ihrem
Weſen die direct ideale Schönheit, als daß ein ſolcher mittlerer Styl
zwiſchen dem Antiken und Mittelalterlichen, dem Südlichen und Nordiſchen,
wenn ſie ihn findet, nun eine volle Blüthe dieſer Kunſt genannt werden
könnte. Aber etwas iſt daran; jener Styl Peter Viſchers hat etwas von
Shakespeare; es muß dahinaus eine zwar nicht ſchwunghaft reiche,
aber doch tüchtige Zukunft liegen. Die beſten Werke eines Rauch, Schwan-
thaler, Rietſchel liegen, nachdem J. G. Schadow mit einem ſtyliſtiſch unge-
bundneren, aber warmen Naturaliſmus vorausgegangen, auf dieſem Wege
einer Durchdringung geſchichtlich herberer, individuell charaktervoller Formen
mit einem Stylgeſetz, das ſie doch im Sinne ſtrengerer Großheit und reineren
Maaßes bindet, als dieß die gothiſche Zeit, dann auf andere Weiſe die ſpäte

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[495/0169] keine ſchönen Spiele mehr. Ein Fiſcher, eine Fiſcherinn, ein Ballon- ſchläger, eine Amazone u. ſ. w., das tritt oft glücklich gelungen, aber in kümmerlicher Vereinzelung auf. Das Auge ſieht aber überhaupt nicht mehr plaſtiſch, die Phantaſie iſt nicht mehr plaſtiſch geſtimmt, dieß iſt ſchon in §. 468 ausgeſprochen. Unter dieſen Umſtänden hat die Rückführung unſerer Erkenntniß zur wahren Anſchauung der Antike, vermittelt durch den großen Winkelmann, dann durch die Wiederauffindung antiker Kunſt- werke aus der beſten Zeit griechiſcher Sculptur zu keiner neuen Blüthe dieſer Kunſt führen können. Wohl iſt, nachdem Canova zwiſchen die Ausläufer des Berniniſchen Styls und die Erneuerung der reinen pla- ſtiſchen Schönheit in die Mitte getreten, ein Dannecker der letzteren ſchon näher gekommen war, der große Regenerator Thorwaldſen erſchienen, wohl ſind ihm bedeutende Künſtler, namentlich auch in Deutſchland, gefolgt, aber es bleibt dabei, daß in dem idealen Gebiete Alles blos Reproduc- tion durch geiſtvolle Rückverſetzung in ein entſchwundenes Phantaſie- und Kunſtleben iſt, ähnlich wie eine gelungene Aufführung griechiſcher Dramen auf unſeren Bühnen. Die ideal ſchöne Form bleibt für uns eine Reſtau- ration wie der Olymp. Dagegen ſucht nun der §. mit Rückweiſung auf §. 645, 2. eine Linie zu bezeichnen, auf welcher die moderne Sculptur mit vollerer Kraft fortzuleben die Ausſicht hat, in einem Zuſtande, worin (um bei einem ſchon gebrauchten Bilde zu bleiben) der eine Lungenflügel, der ihr geblieben, ſo erſtarkt, daß der Verluſt des andern verſchmerzt wird. Wir werden in andern Künſten deutlicher beſtimmen können, von was es ſich hier handelt; wir werden in der Poeſie ſehen, wie es einen Styl geben muß, der Shakespeares Naturaliſmus und Individualiſmus mit dem Princip claſſiſch idealer Schönheit zu einem Dritten, Höheren ver- einigt, worin die Verirrungen und Barbariſmen jenes nordiſchen Styl- princips ſich ausſcheiden, während ſeine Charakterſchärfe in der Läuterung ſich erhält. Nicht ebenſo beſtimmt können wir von der Bildnerkunſt aus- ſagen, daß ſie auf dieß Ziel loszuſteuern habe; zu tief liegt in ihrem Weſen die direct ideale Schönheit, als daß ein ſolcher mittlerer Styl zwiſchen dem Antiken und Mittelalterlichen, dem Südlichen und Nordiſchen, wenn ſie ihn findet, nun eine volle Blüthe dieſer Kunſt genannt werden könnte. Aber etwas iſt daran; jener Styl Peter Viſchers hat etwas von Shakespeare; es muß dahinaus eine zwar nicht ſchwunghaft reiche, aber doch tüchtige Zukunft liegen. Die beſten Werke eines Rauch, Schwan- thaler, Rietſchel liegen, nachdem J. G. Schadow mit einem ſtyliſtiſch unge- bundneren, aber warmen Naturaliſmus vorausgegangen, auf dieſem Wege einer Durchdringung geſchichtlich herberer, individuell charaktervoller Formen mit einem Stylgeſetz, das ſie doch im Sinne ſtrengerer Großheit und reineren Maaßes bindet, als dieß die gothiſche Zeit, dann auf andere Weiſe die ſpäte

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/169>, abgerufen am 19.04.2024.