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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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und deren Werk das Weib lebhafter zu fühlen pflegt, als das des Malers.
Der Eindruck dieses Werks entspricht denn genau jenem Gleichgewicht
von Wärme und Kälte, Bewegung und Ruhe im Künstler. Es stellt ein
von innen heraus bewegtes subjectives Leben dar, aber diesem Leben
sind in dem Momente, wo es aus sich herausgehen, in Anderes übergehen
wollte, die Fäden, die lebenswarmen Beziehungen, welche die wirklich
lebendige Gestalt mit der umgebenden und zuschauenden Welt verbinden,
durch eine plötzliche Versteinerung durchschnitten, es ist plötzlich einsam
geworden und genöthigt, für sich ein Ganzes zu sein; es ruht nun einfach
in sich, ist in eine Thatsache verwandelt, die, fertig und vollendet, nach
keinem Freund und Feind fragt, die man nehmen muß, wie sie ist, kein
Werden mehr, sondern ein Gewordenes, ein Sein. Dieß ist die Ruhe
und Abgeschlossenheit der Statue in sich. Bewegtheit des dargestellten
Moments und sichtbare Bestimmung, die Phantasie des Zuschauers in
lebhafte Thätigkeit zu setzen, ist damit vollkommen vereinbar, und die
geistvolle Beweisführung A. Feuerbachs (D. vatic. Apollo) für die
Bewegtheit und den lebendig ergreifenden Eindruck als das Hauptziel,
worauf der antike Bildhauer arbeitete, hebt, wie wir sehen werden, jene
Merkmale nicht auf. Suchen darf allerdings das Werk den Zuschauer
nicht, kein Kunstwerk soll es, das Werk dieser Kunst am wenigsten; es
will gesucht sein ohne daß es selbst sucht, es trennt sich bei dem ersten
Anblick durch eine feste Scheidewand von ihm, es sagt: was geht es mich
an, wenn du mich liebst, aber es weiß doch, daß es geliebt werden muß.
Die Liebe ist eine ernste, die Statue will wie eine charaktervolle und
tiefe weibliche Natur erst verstanden sein, ehe sie geliebt wird; verstehen
muß man, was Gliederverhältniß, Rhythmus der Bildung und Bewegung,
gewichtiger, durch seinen Leib ergossener Ausdruck ist, ehe die warme
Empfindung, die Kunstfreude sich einstellt. Feuerbach sagt (a. a. O.
S. 9): "das plastische Kunstwerk ist weniger Seele, als Gestalt; es
will mehr begriffen und verstanden, als genossen, mehr beschaut, als
empfunden werden"; richtiger glauben wir beides in diesem Verhältniß
der Aufeinanderfolge aufzufassen, die dann, da der Genuß immer auf
das strenge Verständniß gegründet bleibt, in ein Gleichgewicht beider Mo-
mente sich aufhebt. So sehen wir denn im subjectiven Eindruck wie im
Werke selbst und im Künstler das Subjective in das Objective versenkt
und beide zu gleichen Theilen gemischt, und wir haben hiemit die reine
Mitte des Subjectiven und Objectiven in dieser mittleren Kunst unter
den bildenden Künsten. Hegel (Aesth. II, S. 359) bezieht diese Bestim-
mung unmittelbar auf das Substantielle des Geistes, wie ihn die Bild-
nerkunst zur Darstellung bringt; wir fassen die Sache noch nicht in dieser
näheren psychologischen Bestimmtheit, sondern begründen diese Sätze nur

und deren Werk das Weib lebhafter zu fühlen pflegt, als das des Malers.
Der Eindruck dieſes Werks entſpricht denn genau jenem Gleichgewicht
von Wärme und Kälte, Bewegung und Ruhe im Künſtler. Es ſtellt ein
von innen heraus bewegtes ſubjectives Leben dar, aber dieſem Leben
ſind in dem Momente, wo es aus ſich herausgehen, in Anderes übergehen
wollte, die Fäden, die lebenswarmen Beziehungen, welche die wirklich
lebendige Geſtalt mit der umgebenden und zuſchauenden Welt verbinden,
durch eine plötzliche Verſteinerung durchſchnitten, es iſt plötzlich einſam
geworden und genöthigt, für ſich ein Ganzes zu ſein; es ruht nun einfach
in ſich, iſt in eine Thatſache verwandelt, die, fertig und vollendet, nach
keinem Freund und Feind fragt, die man nehmen muß, wie ſie iſt, kein
Werden mehr, ſondern ein Gewordenes, ein Sein. Dieß iſt die Ruhe
und Abgeſchloſſenheit der Statue in ſich. Bewegtheit des dargeſtellten
Moments und ſichtbare Beſtimmung, die Phantaſie des Zuſchauers in
lebhafte Thätigkeit zu ſetzen, iſt damit vollkommen vereinbar, und die
geiſtvolle Beweisführung A. Feuerbachs (D. vatic. Apollo) für die
Bewegtheit und den lebendig ergreifenden Eindruck als das Hauptziel,
worauf der antike Bildhauer arbeitete, hebt, wie wir ſehen werden, jene
Merkmale nicht auf. Suchen darf allerdings das Werk den Zuſchauer
nicht, kein Kunſtwerk ſoll es, das Werk dieſer Kunſt am wenigſten; es
will geſucht ſein ohne daß es ſelbſt ſucht, es trennt ſich bei dem erſten
Anblick durch eine feſte Scheidewand von ihm, es ſagt: was geht es mich
an, wenn du mich liebſt, aber es weiß doch, daß es geliebt werden muß.
Die Liebe iſt eine ernſte, die Statue will wie eine charaktervolle und
tiefe weibliche Natur erſt verſtanden ſein, ehe ſie geliebt wird; verſtehen
muß man, was Gliederverhältniß, Rhythmus der Bildung und Bewegung,
gewichtiger, durch ſeinen Leib ergoſſener Ausdruck iſt, ehe die warme
Empfindung, die Kunſtfreude ſich einſtellt. Feuerbach ſagt (a. a. O.
S. 9): „das plaſtiſche Kunſtwerk iſt weniger Seele, als Geſtalt; es
will mehr begriffen und verſtanden, als genoſſen, mehr beſchaut, als
empfunden werden“; richtiger glauben wir beides in dieſem Verhältniß
der Aufeinanderfolge aufzufaſſen, die dann, da der Genuß immer auf
das ſtrenge Verſtändniß gegründet bleibt, in ein Gleichgewicht beider Mo-
mente ſich aufhebt. So ſehen wir denn im ſubjectiven Eindruck wie im
Werke ſelbſt und im Künſtler das Subjective in das Objective verſenkt
und beide zu gleichen Theilen gemiſcht, und wir haben hiemit die reine
Mitte des Subjectiven und Objectiven in dieſer mittleren Kunſt unter
den bildenden Künſten. Hegel (Aeſth. II, S. 359) bezieht dieſe Beſtim-
mung unmittelbar auf das Subſtantielle des Geiſtes, wie ihn die Bild-
nerkunſt zur Darſtellung bringt; wir faſſen die Sache noch nicht in dieſer
näheren pſychologiſchen Beſtimmtheit, ſondern begründen dieſe Sätze nur

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[356/0030] und deren Werk das Weib lebhafter zu fühlen pflegt, als das des Malers. Der Eindruck dieſes Werks entſpricht denn genau jenem Gleichgewicht von Wärme und Kälte, Bewegung und Ruhe im Künſtler. Es ſtellt ein von innen heraus bewegtes ſubjectives Leben dar, aber dieſem Leben ſind in dem Momente, wo es aus ſich herausgehen, in Anderes übergehen wollte, die Fäden, die lebenswarmen Beziehungen, welche die wirklich lebendige Geſtalt mit der umgebenden und zuſchauenden Welt verbinden, durch eine plötzliche Verſteinerung durchſchnitten, es iſt plötzlich einſam geworden und genöthigt, für ſich ein Ganzes zu ſein; es ruht nun einfach in ſich, iſt in eine Thatſache verwandelt, die, fertig und vollendet, nach keinem Freund und Feind fragt, die man nehmen muß, wie ſie iſt, kein Werden mehr, ſondern ein Gewordenes, ein Sein. Dieß iſt die Ruhe und Abgeſchloſſenheit der Statue in ſich. Bewegtheit des dargeſtellten Moments und ſichtbare Beſtimmung, die Phantaſie des Zuſchauers in lebhafte Thätigkeit zu ſetzen, iſt damit vollkommen vereinbar, und die geiſtvolle Beweisführung A. Feuerbachs (D. vatic. Apollo) für die Bewegtheit und den lebendig ergreifenden Eindruck als das Hauptziel, worauf der antike Bildhauer arbeitete, hebt, wie wir ſehen werden, jene Merkmale nicht auf. Suchen darf allerdings das Werk den Zuſchauer nicht, kein Kunſtwerk ſoll es, das Werk dieſer Kunſt am wenigſten; es will geſucht ſein ohne daß es ſelbſt ſucht, es trennt ſich bei dem erſten Anblick durch eine feſte Scheidewand von ihm, es ſagt: was geht es mich an, wenn du mich liebſt, aber es weiß doch, daß es geliebt werden muß. Die Liebe iſt eine ernſte, die Statue will wie eine charaktervolle und tiefe weibliche Natur erſt verſtanden ſein, ehe ſie geliebt wird; verſtehen muß man, was Gliederverhältniß, Rhythmus der Bildung und Bewegung, gewichtiger, durch ſeinen Leib ergoſſener Ausdruck iſt, ehe die warme Empfindung, die Kunſtfreude ſich einſtellt. Feuerbach ſagt (a. a. O. S. 9): „das plaſtiſche Kunſtwerk iſt weniger Seele, als Geſtalt; es will mehr begriffen und verſtanden, als genoſſen, mehr beſchaut, als empfunden werden“; richtiger glauben wir beides in dieſem Verhältniß der Aufeinanderfolge aufzufaſſen, die dann, da der Genuß immer auf das ſtrenge Verſtändniß gegründet bleibt, in ein Gleichgewicht beider Mo- mente ſich aufhebt. So ſehen wir denn im ſubjectiven Eindruck wie im Werke ſelbſt und im Künſtler das Subjective in das Objective verſenkt und beide zu gleichen Theilen gemiſcht, und wir haben hiemit die reine Mitte des Subjectiven und Objectiven in dieſer mittleren Kunſt unter den bildenden Künſten. Hegel (Aeſth. II, S. 359) bezieht dieſe Beſtim- mung unmittelbar auf das Subſtantielle des Geiſtes, wie ihn die Bild- nerkunſt zur Darſtellung bringt; wir faſſen die Sache noch nicht in dieſer näheren pſychologiſchen Beſtimmtheit, ſondern begründen dieſe Sätze nur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/30>, abgerufen am 29.03.2024.