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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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und bei den Griechen selbst finden wir einen Sokrates mit den Froschaugen
und der deutschen oder böhmischen Kartoffelnase. Verschlossen kann durch
diese Welt von härteren und eigensinnigeren Bildungen das Gebiet des
Porträt der Sculptur nicht sein, etwas des Individuellen muß ja selbst
der im engeren Sinn idealen Natur, dem Gotte zugewogen werden und
auch eine vorzüglich Götterbildende Plastik kann sich der Aufgabe nicht
entziehen wollen, zugleich den Zweig der Porträtstatue und Porträt-Büste an-
zubauen. Bei Völkern aber, die keine Mythologie mehr haben und daher
vorzüglich auf das Bildniß gewiesen sind, könnte es, wenn das Porträt
wegfiele, so gut als gar keine Bildnerkunst geben. Diese Völker sind
eben die nichtgriechischen, weniger schönen; von solchen härteren National-
typen ist in Anm. 1. die Rede gewesen, allein das Nationale und der
Grad der Eigenheit der Einzelbildung hängt zusammen, denn die allge-
meine Abweichung übrigens gebildeter Völker in ihren Körperformen vom
edelsten Menschentypus ist zugleich eine stärkere Ausbildung des Indivi-
duellen, wie namentlich bei den Deutschen. Die Bildnerkunst verlangt
nun mindestens, daß solche Formen, wo sie in harten und schwunglosen
Linien abspringen, doch noch Gediegenheit und Mächtigkeit haben; man
sehe z. B. den herben Kopf Kants auf Rauchs Denkmal Friedrichs d.
Gr.: er ist bei aller Härte doch in seiner strengen, gedanken- und charak-
tervollen, eckig zusammengefaßten Herbigkeit ganz plastisch. Es sind aber
unter den "härteren" Abweichungen auch solche verstanden, wo der Aus-
druck "hart" nur der Abweichung, nicht ihrer Art gilt, nämlich allzuzarte,
weiche, wie so häufig bei der weiblichen Bildung nordischen Schlags.
Eine Gediegenheit läßt sich jedoch auch bei solchen Formen finden, ein
Ausdruck ruhiger Einheit mit sich, innerer Ganzheit und Harmonie kann
der Erscheinung der schönen Seele eigen sein, die ihr trotz einiger Ver-
schwommenheit und Kleinlichkeit der Formen wieder plastische Haltung,
Guß und Fluß gibt. Immer aber hängt es vom Zufall ab, ob ein empi-
risches Individuum, auch ein bedeutendes, dem Bildner Formen ent-
gegenbringt, wie gerade er sie braucht. Da nun das geschichtlich Schöne
von dem allgemein menschlich Schönen sich dadurch unterscheidet, daß bestimmte
Personen in ihrer ganzen realen Bedingtheit in Situation und Handlung vor
uns auftreten, so erhellt, wie schmal der Spielraum der Sculptur, auch
ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, welche der Mangel eines Hin-
tergrundes in der plastischen Darstellung mit sich bringt, auf diesem Gebiete
sein und in welcher Bedrängniß sich daher eine Kunst befinden muß,
welche die Geschichte nicht mehr in den Göttern als ihrem stellvertretenden
Auszug anschaut.


und bei den Griechen ſelbſt finden wir einen Sokrates mit den Froſchaugen
und der deutſchen oder böhmiſchen Kartoffelnaſe. Verſchloſſen kann durch
dieſe Welt von härteren und eigenſinnigeren Bildungen das Gebiet des
Porträt der Sculptur nicht ſein, etwas des Individuellen muß ja ſelbſt
der im engeren Sinn idealen Natur, dem Gotte zugewogen werden und
auch eine vorzüglich Götterbildende Plaſtik kann ſich der Aufgabe nicht
entziehen wollen, zugleich den Zweig der Porträtſtatue und Porträt-Büſte an-
zubauen. Bei Völkern aber, die keine Mythologie mehr haben und daher
vorzüglich auf das Bildniß gewieſen ſind, könnte es, wenn das Porträt
wegfiele, ſo gut als gar keine Bildnerkunſt geben. Dieſe Völker ſind
eben die nichtgriechiſchen, weniger ſchönen; von ſolchen härteren National-
typen iſt in Anm. 1. die Rede geweſen, allein das Nationale und der
Grad der Eigenheit der Einzelbildung hängt zuſammen, denn die allge-
meine Abweichung übrigens gebildeter Völker in ihren Körperformen vom
edelſten Menſchentypus iſt zugleich eine ſtärkere Ausbildung des Indivi-
duellen, wie namentlich bei den Deutſchen. Die Bildnerkunſt verlangt
nun mindeſtens, daß ſolche Formen, wo ſie in harten und ſchwungloſen
Linien abſpringen, doch noch Gediegenheit und Mächtigkeit haben; man
ſehe z. B. den herben Kopf Kants auf Rauchs Denkmal Friedrichs d.
Gr.: er iſt bei aller Härte doch in ſeiner ſtrengen, gedanken- und charak-
tervollen, eckig zuſammengefaßten Herbigkeit ganz plaſtiſch. Es ſind aber
unter den „härteren“ Abweichungen auch ſolche verſtanden, wo der Aus-
druck „hart“ nur der Abweichung, nicht ihrer Art gilt, nämlich allzuzarte,
weiche, wie ſo häufig bei der weiblichen Bildung nordiſchen Schlags.
Eine Gediegenheit läßt ſich jedoch auch bei ſolchen Formen finden, ein
Ausdruck ruhiger Einheit mit ſich, innerer Ganzheit und Harmonie kann
der Erſcheinung der ſchönen Seele eigen ſein, die ihr trotz einiger Ver-
ſchwommenheit und Kleinlichkeit der Formen wieder plaſtiſche Haltung,
Guß und Fluß gibt. Immer aber hängt es vom Zufall ab, ob ein empi-
riſches Individuum, auch ein bedeutendes, dem Bildner Formen ent-
gegenbringt, wie gerade er ſie braucht. Da nun das geſchichtlich Schöne
von dem allgemein menſchlich Schönen ſich dadurch unterſcheidet, daß beſtimmte
Perſonen in ihrer ganzen realen Bedingtheit in Situation und Handlung vor
uns auftreten, ſo erhellt, wie ſchmal der Spielraum der Sculptur, auch
ganz abgeſehen von den Schwierigkeiten, welche der Mangel eines Hin-
tergrundes in der plaſtiſchen Darſtellung mit ſich bringt, auf dieſem Gebiete
ſein und in welcher Bedrängniß ſich daher eine Kunſt befinden muß,
welche die Geſchichte nicht mehr in den Göttern als ihrem ſtellvertretenden
Auszug anſchaut.


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[409/0083] und bei den Griechen ſelbſt finden wir einen Sokrates mit den Froſchaugen und der deutſchen oder böhmiſchen Kartoffelnaſe. Verſchloſſen kann durch dieſe Welt von härteren und eigenſinnigeren Bildungen das Gebiet des Porträt der Sculptur nicht ſein, etwas des Individuellen muß ja ſelbſt der im engeren Sinn idealen Natur, dem Gotte zugewogen werden und auch eine vorzüglich Götterbildende Plaſtik kann ſich der Aufgabe nicht entziehen wollen, zugleich den Zweig der Porträtſtatue und Porträt-Büſte an- zubauen. Bei Völkern aber, die keine Mythologie mehr haben und daher vorzüglich auf das Bildniß gewieſen ſind, könnte es, wenn das Porträt wegfiele, ſo gut als gar keine Bildnerkunſt geben. Dieſe Völker ſind eben die nichtgriechiſchen, weniger ſchönen; von ſolchen härteren National- typen iſt in Anm. 1. die Rede geweſen, allein das Nationale und der Grad der Eigenheit der Einzelbildung hängt zuſammen, denn die allge- meine Abweichung übrigens gebildeter Völker in ihren Körperformen vom edelſten Menſchentypus iſt zugleich eine ſtärkere Ausbildung des Indivi- duellen, wie namentlich bei den Deutſchen. Die Bildnerkunſt verlangt nun mindeſtens, daß ſolche Formen, wo ſie in harten und ſchwungloſen Linien abſpringen, doch noch Gediegenheit und Mächtigkeit haben; man ſehe z. B. den herben Kopf Kants auf Rauchs Denkmal Friedrichs d. Gr.: er iſt bei aller Härte doch in ſeiner ſtrengen, gedanken- und charak- tervollen, eckig zuſammengefaßten Herbigkeit ganz plaſtiſch. Es ſind aber unter den „härteren“ Abweichungen auch ſolche verſtanden, wo der Aus- druck „hart“ nur der Abweichung, nicht ihrer Art gilt, nämlich allzuzarte, weiche, wie ſo häufig bei der weiblichen Bildung nordiſchen Schlags. Eine Gediegenheit läßt ſich jedoch auch bei ſolchen Formen finden, ein Ausdruck ruhiger Einheit mit ſich, innerer Ganzheit und Harmonie kann der Erſcheinung der ſchönen Seele eigen ſein, die ihr trotz einiger Ver- ſchwommenheit und Kleinlichkeit der Formen wieder plaſtiſche Haltung, Guß und Fluß gibt. Immer aber hängt es vom Zufall ab, ob ein empi- riſches Individuum, auch ein bedeutendes, dem Bildner Formen ent- gegenbringt, wie gerade er ſie braucht. Da nun das geſchichtlich Schöne von dem allgemein menſchlich Schönen ſich dadurch unterſcheidet, daß beſtimmte Perſonen in ihrer ganzen realen Bedingtheit in Situation und Handlung vor uns auftreten, ſo erhellt, wie ſchmal der Spielraum der Sculptur, auch ganz abgeſehen von den Schwierigkeiten, welche der Mangel eines Hin- tergrundes in der plaſtiſchen Darſtellung mit ſich bringt, auf dieſem Gebiete ſein und in welcher Bedrängniß ſich daher eine Kunſt befinden muß, welche die Geſchichte nicht mehr in den Göttern als ihrem ſtellvertretenden Auszug anſchaut.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/83>, abgerufen am 20.04.2024.