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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Theatralische statt des Poetischen gerathen. Das Letztere besonders haben
wir zu fürchten und uns zu hüten, daß wir mehr, als gut ist, von den
Franzosen lernen. Niemand versteht es besser, als sie, den schlagenden
Moment herauszugreifen, aber sie sind es auch, von denen das Ueber-
maaß, die Absichtlichkeit, der galvanische, zuckende Schlag und der eitle
Ausdruck des Wissens um den Zuschauer ausgegangen ist.

3. Wir haben nun einen Ueberblick über die Schranken unserer Kunst;
wir haben früher gesehen, daß der Maler nicht dem Musiker und Dichter
überhaupt oder gar dem Lehrer, wir haben jetzt gesehen, daß er auch
dem dramatischen, für die Bühne wirkenden Dichter nicht in sein Gebiet
greifen, nicht in dem mit ihm wetteifern soll, was nur er allein vermag.
Dafür vermag der Maler etwas, worin es ihm keine Kunst oder geistige
Thätigkeit gleich thut, die nur für das Ohr und Gefühl, nur für das
Ohr oder das blos lesende Auge und die innere Vorstellung darstellt: die
ruhige Ausbreitung der Erscheinungen als ein Nebeneinander, das vor
dem Zuschauer stehen bleibt, daß sein Auge verweile, nach dem ersten
Ueberblick Einzelnes um Einzelnes durchwandle und dann wieder zum
Ganzen zusammenfasse. Wir werden sehen, wie nahe der Musik und
Poesie die Verführung liegt, dem Maler in sein Land zu fallen, zu han-
deln, als könnten sie ein Bild geben, das dem Auge stille hält; da ver-
gessen sie, daß sie für Verzichtleistung auf diese Wirkungsart den unend-
lichen Vortheil der wirklichen Bewegung eintauschen; umgekehrt vergißt
der Maler, welcher malt, als tönten, sprächen, bewegten sich seine Bilder
wirklich, daß er für das Opfer des Versuchs, also zu wirken, den unend-
lichen Vortheil dieser stillehaltenden räumlichen Entfaltung eintauscht: "daß
doch der gute bildende Künstler mit dem Poeten wetteifern will, da er
doch eigentlich durch das, was er allein machen kann und zu machen
hätte, den Dichter zur Verzweiflung bringen könnte"! (Göthe W. B. 43
S. 87.)

§. 685.

Die reiche Welt von Formen, Bewegungen, Affecten faßt sich nur durch
die feste Einheit des Charakters im Sinne des mit einem bestimmten Inhalt
stetig erfüllten Willens zum Bilde der Handlung zusammen. Die Malerei ist
unerachtet ihres viel weiteren Gebiets und des Unterschieds ihrer Auffassung
ebensosehr, ja in gewissem Sinne noch mehr, als die Plastik, Kunst der Cha-
rakterdarstellung. Wie aber der einzelne Charakter im malerischen Styl als
eine Willens-Einheit erscheint, die einen mannigfaltigeren und verwickelteren
Stoff beherrscht, so ist auch die Mannigfaltigkeit der Charakterbilder überhaupt,
verglichen mit der sparsamen Typen-Bildung der Plastik, in der Malerei eine

Theatraliſche ſtatt des Poetiſchen gerathen. Das Letztere beſonders haben
wir zu fürchten und uns zu hüten, daß wir mehr, als gut iſt, von den
Franzoſen lernen. Niemand verſteht es beſſer, als ſie, den ſchlagenden
Moment herauszugreifen, aber ſie ſind es auch, von denen das Ueber-
maaß, die Abſichtlichkeit, der galvaniſche, zuckende Schlag und der eitle
Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ausgegangen iſt.

3. Wir haben nun einen Ueberblick über die Schranken unſerer Kunſt;
wir haben früher geſehen, daß der Maler nicht dem Muſiker und Dichter
überhaupt oder gar dem Lehrer, wir haben jetzt geſehen, daß er auch
dem dramatiſchen, für die Bühne wirkenden Dichter nicht in ſein Gebiet
greifen, nicht in dem mit ihm wetteifern ſoll, was nur er allein vermag.
Dafür vermag der Maler etwas, worin es ihm keine Kunſt oder geiſtige
Thätigkeit gleich thut, die nur für das Ohr und Gefühl, nur für das
Ohr oder das blos leſende Auge und die innere Vorſtellung darſtellt: die
ruhige Ausbreitung der Erſcheinungen als ein Nebeneinander, das vor
dem Zuſchauer ſtehen bleibt, daß ſein Auge verweile, nach dem erſten
Ueberblick Einzelnes um Einzelnes durchwandle und dann wieder zum
Ganzen zuſammenfaſſe. Wir werden ſehen, wie nahe der Muſik und
Poeſie die Verführung liegt, dem Maler in ſein Land zu fallen, zu han-
deln, als könnten ſie ein Bild geben, das dem Auge ſtille hält; da ver-
geſſen ſie, daß ſie für Verzichtleiſtung auf dieſe Wirkungsart den unend-
lichen Vortheil der wirklichen Bewegung eintauſchen; umgekehrt vergißt
der Maler, welcher malt, als tönten, ſprächen, bewegten ſich ſeine Bilder
wirklich, daß er für das Opfer des Verſuchs, alſo zu wirken, den unend-
lichen Vortheil dieſer ſtillehaltenden räumlichen Entfaltung eintauſcht: „daß
doch der gute bildende Künſtler mit dem Poeten wetteifern will, da er
doch eigentlich durch das, was er allein machen kann und zu machen
hätte, den Dichter zur Verzweiflung bringen könnte“! (Göthe W. B. 43
S. 87.)

§. 685.

Die reiche Welt von Formen, Bewegungen, Affecten faßt ſich nur durch
die feſte Einheit des Charakters im Sinne des mit einem beſtimmten Inhalt
ſtetig erfüllten Willens zum Bilde der Handlung zuſammen. Die Malerei iſt
unerachtet ihres viel weiteren Gebiets und des Unterſchieds ihrer Auffaſſung
ebenſoſehr, ja in gewiſſem Sinne noch mehr, als die Plaſtik, Kunſt der Cha-
rakterdarſtellung. Wie aber der einzelne Charakter im maleriſchen Styl als
eine Willens-Einheit erſcheint, die einen mannigfaltigeren und verwickelteren
Stoff beherrſcht, ſo iſt auch die Mannigfaltigkeit der Charakterbilder überhaupt,
verglichen mit der ſparſamen Typen-Bildung der Plaſtik, in der Malerei eine

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[605/0113] Theatraliſche ſtatt des Poetiſchen gerathen. Das Letztere beſonders haben wir zu fürchten und uns zu hüten, daß wir mehr, als gut iſt, von den Franzoſen lernen. Niemand verſteht es beſſer, als ſie, den ſchlagenden Moment herauszugreifen, aber ſie ſind es auch, von denen das Ueber- maaß, die Abſichtlichkeit, der galvaniſche, zuckende Schlag und der eitle Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ausgegangen iſt. 3. Wir haben nun einen Ueberblick über die Schranken unſerer Kunſt; wir haben früher geſehen, daß der Maler nicht dem Muſiker und Dichter überhaupt oder gar dem Lehrer, wir haben jetzt geſehen, daß er auch dem dramatiſchen, für die Bühne wirkenden Dichter nicht in ſein Gebiet greifen, nicht in dem mit ihm wetteifern ſoll, was nur er allein vermag. Dafür vermag der Maler etwas, worin es ihm keine Kunſt oder geiſtige Thätigkeit gleich thut, die nur für das Ohr und Gefühl, nur für das Ohr oder das blos leſende Auge und die innere Vorſtellung darſtellt: die ruhige Ausbreitung der Erſcheinungen als ein Nebeneinander, das vor dem Zuſchauer ſtehen bleibt, daß ſein Auge verweile, nach dem erſten Ueberblick Einzelnes um Einzelnes durchwandle und dann wieder zum Ganzen zuſammenfaſſe. Wir werden ſehen, wie nahe der Muſik und Poeſie die Verführung liegt, dem Maler in ſein Land zu fallen, zu han- deln, als könnten ſie ein Bild geben, das dem Auge ſtille hält; da ver- geſſen ſie, daß ſie für Verzichtleiſtung auf dieſe Wirkungsart den unend- lichen Vortheil der wirklichen Bewegung eintauſchen; umgekehrt vergißt der Maler, welcher malt, als tönten, ſprächen, bewegten ſich ſeine Bilder wirklich, daß er für das Opfer des Verſuchs, alſo zu wirken, den unend- lichen Vortheil dieſer ſtillehaltenden räumlichen Entfaltung eintauſcht: „daß doch der gute bildende Künſtler mit dem Poeten wetteifern will, da er doch eigentlich durch das, was er allein machen kann und zu machen hätte, den Dichter zur Verzweiflung bringen könnte“! (Göthe W. B. 43 S. 87.) §. 685. Die reiche Welt von Formen, Bewegungen, Affecten faßt ſich nur durch die feſte Einheit des Charakters im Sinne des mit einem beſtimmten Inhalt ſtetig erfüllten Willens zum Bilde der Handlung zuſammen. Die Malerei iſt unerachtet ihres viel weiteren Gebiets und des Unterſchieds ihrer Auffaſſung ebenſoſehr, ja in gewiſſem Sinne noch mehr, als die Plaſtik, Kunſt der Cha- rakterdarſtellung. Wie aber der einzelne Charakter im maleriſchen Styl als eine Willens-Einheit erſcheint, die einen mannigfaltigeren und verwickelteren Stoff beherrſcht, ſo iſt auch die Mannigfaltigkeit der Charakterbilder überhaupt, verglichen mit der ſparſamen Typen-Bildung der Plaſtik, in der Malerei eine

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/113>, abgerufen am 18.04.2024.