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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Gestalten, Individualität, natürliche Leichtigkeit und Abwechslung in den
Bewegungen. Ein einfacheres, besonders klares Beispiel symmetrisch pyra-
midaler, mythischer Anordnung ist die sixt. Madonna. Die Composition des
jüngsten Gerichts, wie sie durch Oreagna im Campo santo zu Pisa als Mu-
ster festgestellt und von M. Angelo zur furchtbarsten Handlung belebt ist, zieht
das Pyramidale in der Grundform, das sich hier ebenfalls aus dem mythisch
geöffneten Himmel über der Erde, aus den aufschwebenden Seligen links,
abstürzenden Verdammter rechts vom Zuschauer ergibt, durch Kreise von Ver-
klärten und Engeln, die sich oben seitlich neben der Gruppe Christi, Mariä
und Johannis ausbreiten, durch darüber schwebende Engel vielgestaltiger,
doch im Wesentlichen durchaus symmetrisch auseinander. In neuerer Zeit
sehen wir aus der mythischen Auffassung ebenfalls eine gebundenere, geome-
trische Art von Anordnung und Pyramidalform sich ergeben. So z. B. in
Kaulbachs "Zerstörung von Jerusalem": im Tempel symmetrisch durch den
Altar getrennt, welcher die Mitte bildet, vor welchem der Hohepriester
sich ermordet, um welchen Gruppen der Hungernden, Verzweifelnden sich
gebildet, links die nach dem brennenden Allerheiligsten zurückgedrängten
Zeloten, rechts die eindringenden Römer, Titus an der Spitze; diese
Symmetrie der menschlich natürlichen Handlung wird nun nach oben in
stumpf pyramidalem Gipfel abgeschlossen durch die Propheten in Wolken,
nach unten wird sie verdoppelt durch den von Furien fortgepeitschten
ewigen Juden links, die abziehenden, von Engeln geleiteten Christen
rechts. Die phantastische, doch großartige Composition der Hunnenschlacht
zeigt ebenfalls, wie sich, wenn der Zug der Handlung in die Luft geht,
immer eine pyramidenähnlich abgeschlossene Symmetrie von selbst ergibt.

§. 689.

Die ausgebildete Malerei ist in Gefahr, die aus §. 686 sich ergebende
Freiheit der räumlichen Anordnung zu mißbrauchen und durch Verwirrung der
Gegenstände, insbesondere durch solche, die aus einem Uebermaaß im Umfange
des Dargestellten entsteht, in den Fehler der unruhigen Composition zu
verfallen. Ein Gesetz der Vertheilung und Bindung, wodurch diesem Uebel be-
gegnet wird, muß bestehen, obwohl nun die Style und Zweige sich spalten.

Die ausgebildete Malerei ist diejenige, welche erkannt hat, daß in
der ganzen Natur des malerischen Verfahrens die Forderung liegt, alle
Stoffe in die Bedingungen der realen Wirklichkeit hereinzuversetzen, also
das Naturgesetz anzuerkennen und z. B. nicht eine Handlung in der Luft
vor sich gehen, menschlich gebildete Gestalten auf Wolken stehen und sitzen
zu lassen u. s. w. Sie kann, wie wir gesehen, noch diese mythischen

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Geſtalten, Individualität, natürliche Leichtigkeit und Abwechslung in den
Bewegungen. Ein einfacheres, beſonders klares Beiſpiel ſymmetriſch pyra-
midaler, mythiſcher Anordnung iſt die ſixt. Madonna. Die Compoſition des
jüngſten Gerichts, wie ſie durch Oreagna im Campo ſanto zu Piſa als Mu-
ſter feſtgeſtellt und von M. Angelo zur furchtbarſten Handlung belebt iſt, zieht
das Pyramidale in der Grundform, das ſich hier ebenfalls aus dem mythiſch
geöffneten Himmel über der Erde, aus den aufſchwebenden Seligen links,
abſtürzenden Verdammter rechts vom Zuſchauer ergibt, durch Kreiſe von Ver-
klärten und Engeln, die ſich oben ſeitlich neben der Gruppe Chriſti, Mariä
und Johannis ausbreiten, durch darüber ſchwebende Engel vielgeſtaltiger,
doch im Weſentlichen durchaus ſymmetriſch auseinander. In neuerer Zeit
ſehen wir aus der mythiſchen Auffaſſung ebenfalls eine gebundenere, geome-
triſche Art von Anordnung und Pyramidalform ſich ergeben. So z. B. in
Kaulbachs „Zerſtörung von Jeruſalem“: im Tempel ſymmetriſch durch den
Altar getrennt, welcher die Mitte bildet, vor welchem der Hoheprieſter
ſich ermordet, um welchen Gruppen der Hungernden, Verzweifelnden ſich
gebildet, links die nach dem brennenden Allerheiligſten zurückgedrängten
Zeloten, rechts die eindringenden Römer, Titus an der Spitze; dieſe
Symmetrie der menſchlich natürlichen Handlung wird nun nach oben in
ſtumpf pyramidalem Gipfel abgeſchloſſen durch die Propheten in Wolken,
nach unten wird ſie verdoppelt durch den von Furien fortgepeitſchten
ewigen Juden links, die abziehenden, von Engeln geleiteten Chriſten
rechts. Die phantaſtiſche, doch großartige Compoſition der Hunnenſchlacht
zeigt ebenfalls, wie ſich, wenn der Zug der Handlung in die Luft geht,
immer eine pyramidenähnlich abgeſchloſſene Symmetrie von ſelbſt ergibt.

§. 689.

Die ausgebildete Malerei iſt in Gefahr, die aus §. 686 ſich ergebende
Freiheit der räumlichen Anordnung zu mißbrauchen und durch Verwirrung der
Gegenſtände, insbeſondere durch ſolche, die aus einem Uebermaaß im Umfange
des Dargeſtellten entſteht, in den Fehler der unruhigen Compoſition zu
verfallen. Ein Geſetz der Vertheilung und Bindung, wodurch dieſem Uebel be-
gegnet wird, muß beſtehen, obwohl nun die Style und Zweige ſich ſpalten.

Die ausgebildete Malerei iſt diejenige, welche erkannt hat, daß in
der ganzen Natur des maleriſchen Verfahrens die Forderung liegt, alle
Stoffe in die Bedingungen der realen Wirklichkeit hereinzuverſetzen, alſo
das Naturgeſetz anzuerkennen und z. B. nicht eine Handlung in der Luft
vor ſich gehen, menſchlich gebildete Geſtalten auf Wolken ſtehen und ſitzen
zu laſſen u. ſ. w. Sie kann, wie wir geſehen, noch dieſe mythiſchen

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[619/0127] Geſtalten, Individualität, natürliche Leichtigkeit und Abwechslung in den Bewegungen. Ein einfacheres, beſonders klares Beiſpiel ſymmetriſch pyra- midaler, mythiſcher Anordnung iſt die ſixt. Madonna. Die Compoſition des jüngſten Gerichts, wie ſie durch Oreagna im Campo ſanto zu Piſa als Mu- ſter feſtgeſtellt und von M. Angelo zur furchtbarſten Handlung belebt iſt, zieht das Pyramidale in der Grundform, das ſich hier ebenfalls aus dem mythiſch geöffneten Himmel über der Erde, aus den aufſchwebenden Seligen links, abſtürzenden Verdammter rechts vom Zuſchauer ergibt, durch Kreiſe von Ver- klärten und Engeln, die ſich oben ſeitlich neben der Gruppe Chriſti, Mariä und Johannis ausbreiten, durch darüber ſchwebende Engel vielgeſtaltiger, doch im Weſentlichen durchaus ſymmetriſch auseinander. In neuerer Zeit ſehen wir aus der mythiſchen Auffaſſung ebenfalls eine gebundenere, geome- triſche Art von Anordnung und Pyramidalform ſich ergeben. So z. B. in Kaulbachs „Zerſtörung von Jeruſalem“: im Tempel ſymmetriſch durch den Altar getrennt, welcher die Mitte bildet, vor welchem der Hoheprieſter ſich ermordet, um welchen Gruppen der Hungernden, Verzweifelnden ſich gebildet, links die nach dem brennenden Allerheiligſten zurückgedrängten Zeloten, rechts die eindringenden Römer, Titus an der Spitze; dieſe Symmetrie der menſchlich natürlichen Handlung wird nun nach oben in ſtumpf pyramidalem Gipfel abgeſchloſſen durch die Propheten in Wolken, nach unten wird ſie verdoppelt durch den von Furien fortgepeitſchten ewigen Juden links, die abziehenden, von Engeln geleiteten Chriſten rechts. Die phantaſtiſche, doch großartige Compoſition der Hunnenſchlacht zeigt ebenfalls, wie ſich, wenn der Zug der Handlung in die Luft geht, immer eine pyramidenähnlich abgeſchloſſene Symmetrie von ſelbſt ergibt. §. 689. Die ausgebildete Malerei iſt in Gefahr, die aus §. 686 ſich ergebende Freiheit der räumlichen Anordnung zu mißbrauchen und durch Verwirrung der Gegenſtände, insbeſondere durch ſolche, die aus einem Uebermaaß im Umfange des Dargeſtellten entſteht, in den Fehler der unruhigen Compoſition zu verfallen. Ein Geſetz der Vertheilung und Bindung, wodurch dieſem Uebel be- gegnet wird, muß beſtehen, obwohl nun die Style und Zweige ſich ſpalten. Die ausgebildete Malerei iſt diejenige, welche erkannt hat, daß in der ganzen Natur des maleriſchen Verfahrens die Forderung liegt, alle Stoffe in die Bedingungen der realen Wirklichkeit hereinzuverſetzen, alſo das Naturgeſetz anzuerkennen und z. B. nicht eine Handlung in der Luft vor ſich gehen, menſchlich gebildete Geſtalten auf Wolken ſtehen und ſitzen zu laſſen u. ſ. w. Sie kann, wie wir geſehen, noch dieſe mythiſchen 41*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/127>, abgerufen am 25.04.2024.