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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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C.
Die Malerei.
a.
Das Wesen der Malerei.
a. Ueberhaupt.
§. 648.

Indem die Bildnerkunst nur die Seite der Erscheinung, nach welcher die-1.
selbe Gegenstand des tastenden Sehens ist, erfaßt und darstellt, ist in aller Ge-
diegenheit ihres Werks doch zugleich ein tiefer Mangel und ein Drang, ihn
zu überwinden, zum Vorschein gekommen. Die Aeußerungen dieses Dranges
weisen bereits auf eine andere Art der Phantasie hin, welche auch im verschö-
nernden Spieltrieb (§. 515, 2.) ihren ersten Ausdruck findet, nun aber in Wir-
kung treten muß: es ist diejenige, welche auf das eigentliche Sehen gestellt2
ist (§. 404). Das verhüllte Tasten ist auch in diesem noch enthalten, aber
nicht mehr als das Bestimmende, indem es die feste Form nur in und
unter einem Ganzen von Licht- und Farbenwirkung erfaßt und im Rahmen der
einzelnen Anschauung zugleich wesentlich mehr begreift, als die geschlossene or-
ganische Gestalt. Auch diese Art des Sehens schließt ein Messen in sich, aber
im Sinne freierer Auffassung allgemeiner Verhältnisse des Lichts und der Farbe,
so wie der Entfernungen.

1. Es versteht sich von selbst, daß die Lehre von jeder einzelnen
Kunst eine Darstellung sowohl ihrer Mängel als Vollkommenheiten ist, bei der
Bildnerkunst aber mußte die erstere Seite, welche uns nun zur Malerei
herüberführt, mit besonderem Nachdruck hervortreten, weil nicht zwei
Künste in so eigenthümlichem Zusammenhange stehen, sich so eigenthümlich
in die untheilbaren Momente der Erscheinung theilen, wie die Bildnerkunst
und die Malerei. Wir mußten ja in der Erläuterung von §. 597 fragen,
warum denn nicht bei dem ersten Schritte zur Nachbildung des persön-

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 34
C.
Die Malerei.
a.
Das Weſen der Malerei.
α. Ueberhaupt.
§. 648.

Indem die Bildnerkunſt nur die Seite der Erſcheinung, nach welcher die-1.
ſelbe Gegenſtand des taſtenden Sehens iſt, erfaßt und darſtellt, iſt in aller Ge-
diegenheit ihres Werks doch zugleich ein tiefer Mangel und ein Drang, ihn
zu überwinden, zum Vorſchein gekommen. Die Aeußerungen dieſes Dranges
weiſen bereits auf eine andere Art der Phantaſie hin, welche auch im verſchö-
nernden Spieltrieb (§. 515, 2.) ihren erſten Ausdruck findet, nun aber in Wir-
kung treten muß: es iſt diejenige, welche auf das eigentliche Sehen geſtellt2
iſt (§. 404). Das verhüllte Taſten iſt auch in dieſem noch enthalten, aber
nicht mehr als das Beſtimmende, indem es die feſte Form nur in und
unter einem Ganzen von Licht- und Farbenwirkung erfaßt und im Rahmen der
einzelnen Anſchauung zugleich weſentlich mehr begreift, als die geſchloſſene or-
ganiſche Geſtalt. Auch dieſe Art des Sehens ſchließt ein Meſſen in ſich, aber
im Sinne freierer Auffaſſung allgemeiner Verhältniſſe des Lichts und der Farbe,
ſo wie der Entfernungen.

1. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Lehre von jeder einzelnen
Kunſt eine Darſtellung ſowohl ihrer Mängel als Vollkommenheiten iſt, bei der
Bildnerkunſt aber mußte die erſtere Seite, welche uns nun zur Malerei
herüberführt, mit beſonderem Nachdruck hervortreten, weil nicht zwei
Künſte in ſo eigenthümlichem Zuſammenhange ſtehen, ſich ſo eigenthümlich
in die untheilbaren Momente der Erſcheinung theilen, wie die Bildnerkunſt
und die Malerei. Wir mußten ja in der Erläuterung von §. 597 fragen,
warum denn nicht bei dem erſten Schritte zur Nachbildung des perſön-

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 34
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[[505]/0013] C. Die Malerei. a. Das Weſen der Malerei. α. Ueberhaupt. §. 648. Indem die Bildnerkunſt nur die Seite der Erſcheinung, nach welcher die- ſelbe Gegenſtand des taſtenden Sehens iſt, erfaßt und darſtellt, iſt in aller Ge- diegenheit ihres Werks doch zugleich ein tiefer Mangel und ein Drang, ihn zu überwinden, zum Vorſchein gekommen. Die Aeußerungen dieſes Dranges weiſen bereits auf eine andere Art der Phantaſie hin, welche auch im verſchö- nernden Spieltrieb (§. 515, 2.) ihren erſten Ausdruck findet, nun aber in Wir- kung treten muß: es iſt diejenige, welche auf das eigentliche Sehen geſtellt iſt (§. 404). Das verhüllte Taſten iſt auch in dieſem noch enthalten, aber nicht mehr als das Beſtimmende, indem es die feſte Form nur in und unter einem Ganzen von Licht- und Farbenwirkung erfaßt und im Rahmen der einzelnen Anſchauung zugleich weſentlich mehr begreift, als die geſchloſſene or- ganiſche Geſtalt. Auch dieſe Art des Sehens ſchließt ein Meſſen in ſich, aber im Sinne freierer Auffaſſung allgemeiner Verhältniſſe des Lichts und der Farbe, ſo wie der Entfernungen. 1. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Lehre von jeder einzelnen Kunſt eine Darſtellung ſowohl ihrer Mängel als Vollkommenheiten iſt, bei der Bildnerkunſt aber mußte die erſtere Seite, welche uns nun zur Malerei herüberführt, mit beſonderem Nachdruck hervortreten, weil nicht zwei Künſte in ſo eigenthümlichem Zuſammenhange ſtehen, ſich ſo eigenthümlich in die untheilbaren Momente der Erſcheinung theilen, wie die Bildnerkunſt und die Malerei. Wir mußten ja in der Erläuterung von §. 597 fragen, warum denn nicht bei dem erſten Schritte zur Nachbildung des perſön- Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 34

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. [505]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/13>, abgerufen am 19.04.2024.