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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Reihe der berühmtesten Compositionen auf ein ungefähres räumliches
Schema zu reduziren.

§. 692.

Die Schroffheit, welche durch dieß Wechselverhältniß des Einen und Vie-
len noch nicht aufgehoben ist, tilgt sich schließlich durch den Ausdruck, welchen
die überleitenden Momente des Vorbereitens, Motivirens, Auflösens selbst im
rein malerischen Styl irgendwie in der Form und Linie studen müssen, um im
Verein mit der Farbe die rhythmische, vorherrschend dreigliedrige, Bewe-
gung des Ganzen herzustellen.

Der Rhythmus liegt in der Gesammtheit der entwickelten Momente
der Composition, in der Farbenharmonie, der linearen Anordnung und
dem Zusammenwirken beider. Ein Accord von Accorden, ein aus zwei
für sich einstimmigen Haupt-Klängen sich erzeugender dritter liegt eigentlich
schon in diesem Bunde der zwei wesentlichen Elemente. Durch das lineare
Element für sich haben wir den Dreiklang der Vereinigung von Gegen-
übergestellten in einem Dritten sich ziehen sehen; im Stimmungs-Elemente
der Farbe klingt Licht und Schatten mit Helldunkel, Localfarbe und Local-
ton mit dem Haupt-Tone, klingt die Drei der Hauptfarben mit ihren un-
endlichen Uebergängen zu einer Welt von Accorden zusammen. Die
Dreiklänge schreiten in der Mehrung der Gruppen in Zahlengruppen
fort, die irgendwie als eine Verzweigung der Drei erscheinen; eine Drei-
zahl von Haupt-Gruppen wird sich aber bei allen reicheren Compositionen,
worin die Gegenstände nicht entschieden gegen das Gewicht der in den
allgemeinen Medien liegenden Stimmung zurücktreten, ganz absichtslos als
die naturgemäßeste ergeben. Der Rhythmus hat nun aber auch hier sein
inneres Wesen als fließende Bewegung durch eine Reihe überleitender
Mittel, ein System der Divergenzen und Convergenzen zu äußern, welche
die Momente der Vorbereitung, Motivirung, Lösung, wie sie innerlich
im Gehalte des Kunstwerks liegen, dem Auge herausstellen. Die Zufällig-
keit, die unbefangene Nachläßigkeit der Natur, die Mannigfaltigkeit, die
Individualität, welche noch weit eingreifender, als in der Sculptur, jede
Herrschaft eines abstracten Schema in der Malerei durchschneidet und die-
selbe zum bloßen Anklang heruntersetzt, ist schon in der Grundauffassung
des Malers als die lebendige Macht und Opposition gegen geometrische
Starrheit und Gleichheit gesetzt; die Composition entwickelt diese Macht
noch bestimmter durch einen Act ausdrücklicher Intention, prägt die leben-
digen Unterschiede und ihre Wechsel-Ergänzung in den Linien aus, läßt
diese sich fliehen, sich wieder finden, die Gruppen sich ungleich bauen und

Reihe der berühmteſten Compoſitionen auf ein ungefähres räumliches
Schema zu reduziren.

§. 692.

Die Schroffheit, welche durch dieß Wechſelverhältniß des Einen und Vie-
len noch nicht aufgehoben iſt, tilgt ſich ſchließlich durch den Ausdruck, welchen
die überleitenden Momente des Vorbereitens, Motivirens, Auflöſens ſelbſt im
rein maleriſchen Styl irgendwie in der Form und Linie ſtuden müſſen, um im
Verein mit der Farbe die rhythmiſche, vorherrſchend dreigliedrige, Bewe-
gung des Ganzen herzuſtellen.

Der Rhythmus liegt in der Geſammtheit der entwickelten Momente
der Compoſition, in der Farbenharmonie, der linearen Anordnung und
dem Zuſammenwirken beider. Ein Accord von Accorden, ein aus zwei
für ſich einſtimmigen Haupt-Klängen ſich erzeugender dritter liegt eigentlich
ſchon in dieſem Bunde der zwei weſentlichen Elemente. Durch das lineare
Element für ſich haben wir den Dreiklang der Vereinigung von Gegen-
übergeſtellten in einem Dritten ſich ziehen ſehen; im Stimmungs-Elemente
der Farbe klingt Licht und Schatten mit Helldunkel, Localfarbe und Local-
ton mit dem Haupt-Tone, klingt die Drei der Hauptfarben mit ihren un-
endlichen Uebergängen zu einer Welt von Accorden zuſammen. Die
Dreiklänge ſchreiten in der Mehrung der Gruppen in Zahlengruppen
fort, die irgendwie als eine Verzweigung der Drei erſcheinen; eine Drei-
zahl von Haupt-Gruppen wird ſich aber bei allen reicheren Compoſitionen,
worin die Gegenſtände nicht entſchieden gegen das Gewicht der in den
allgemeinen Medien liegenden Stimmung zurücktreten, ganz abſichtslos als
die naturgemäßeſte ergeben. Der Rhythmus hat nun aber auch hier ſein
inneres Weſen als fließende Bewegung durch eine Reihe überleitender
Mittel, ein Syſtem der Divergenzen und Convergenzen zu äußern, welche
die Momente der Vorbereitung, Motivirung, Löſung, wie ſie innerlich
im Gehalte des Kunſtwerks liegen, dem Auge herausſtellen. Die Zufällig-
keit, die unbefangene Nachläßigkeit der Natur, die Mannigfaltigkeit, die
Individualität, welche noch weit eingreifender, als in der Sculptur, jede
Herrſchaft eines abſtracten Schema in der Malerei durchſchneidet und die-
ſelbe zum bloßen Anklang herunterſetzt, iſt ſchon in der Grundauffaſſung
des Malers als die lebendige Macht und Oppoſition gegen geometriſche
Starrheit und Gleichheit geſetzt; die Compoſition entwickelt dieſe Macht
noch beſtimmter durch einen Act ausdrücklicher Intention, prägt die leben-
digen Unterſchiede und ihre Wechſel-Ergänzung in den Linien aus, läßt
dieſe ſich fliehen, ſich wieder finden, die Gruppen ſich ungleich bauen und

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[631/0139] Reihe der berühmteſten Compoſitionen auf ein ungefähres räumliches Schema zu reduziren. §. 692. Die Schroffheit, welche durch dieß Wechſelverhältniß des Einen und Vie- len noch nicht aufgehoben iſt, tilgt ſich ſchließlich durch den Ausdruck, welchen die überleitenden Momente des Vorbereitens, Motivirens, Auflöſens ſelbſt im rein maleriſchen Styl irgendwie in der Form und Linie ſtuden müſſen, um im Verein mit der Farbe die rhythmiſche, vorherrſchend dreigliedrige, Bewe- gung des Ganzen herzuſtellen. Der Rhythmus liegt in der Geſammtheit der entwickelten Momente der Compoſition, in der Farbenharmonie, der linearen Anordnung und dem Zuſammenwirken beider. Ein Accord von Accorden, ein aus zwei für ſich einſtimmigen Haupt-Klängen ſich erzeugender dritter liegt eigentlich ſchon in dieſem Bunde der zwei weſentlichen Elemente. Durch das lineare Element für ſich haben wir den Dreiklang der Vereinigung von Gegen- übergeſtellten in einem Dritten ſich ziehen ſehen; im Stimmungs-Elemente der Farbe klingt Licht und Schatten mit Helldunkel, Localfarbe und Local- ton mit dem Haupt-Tone, klingt die Drei der Hauptfarben mit ihren un- endlichen Uebergängen zu einer Welt von Accorden zuſammen. Die Dreiklänge ſchreiten in der Mehrung der Gruppen in Zahlengruppen fort, die irgendwie als eine Verzweigung der Drei erſcheinen; eine Drei- zahl von Haupt-Gruppen wird ſich aber bei allen reicheren Compoſitionen, worin die Gegenſtände nicht entſchieden gegen das Gewicht der in den allgemeinen Medien liegenden Stimmung zurücktreten, ganz abſichtslos als die naturgemäßeſte ergeben. Der Rhythmus hat nun aber auch hier ſein inneres Weſen als fließende Bewegung durch eine Reihe überleitender Mittel, ein Syſtem der Divergenzen und Convergenzen zu äußern, welche die Momente der Vorbereitung, Motivirung, Löſung, wie ſie innerlich im Gehalte des Kunſtwerks liegen, dem Auge herausſtellen. Die Zufällig- keit, die unbefangene Nachläßigkeit der Natur, die Mannigfaltigkeit, die Individualität, welche noch weit eingreifender, als in der Sculptur, jede Herrſchaft eines abſtracten Schema in der Malerei durchſchneidet und die- ſelbe zum bloßen Anklang herunterſetzt, iſt ſchon in der Grundauffaſſung des Malers als die lebendige Macht und Oppoſition gegen geometriſche Starrheit und Gleichheit geſetzt; die Compoſition entwickelt dieſe Macht noch beſtimmter durch einen Act ausdrücklicher Intention, prägt die leben- digen Unterſchiede und ihre Wechſel-Ergänzung in den Linien aus, läßt dieſe ſich fliehen, ſich wieder finden, die Gruppen ſich ungleich bauen und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/139>, abgerufen am 28.03.2024.