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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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in sich aufnehmen kann. Was die alte Kunst für alle Zeiten ist, das ist
dieser Styl vom sechzehnten Jahrhundert an für die weitere Zukunft:
ein anderer Styl, der spezifisch malerische, stets in Gefahr, das Maaß,
den Adel, den festen Halt zu verlieren, hat für immer an diesem reinen
und ewigen Muster hinaufzublicken und jene Stätten, wo seine reine, aus
dem Herzen der Romantik getränkte Götterwelt thront, sind das Athen,
wohin jeder Maler wallfahren sollte. Die neuere Zeit hat nun also zwei
große Muster, die Antike und die großen Italiener. Tiefer genommen
enthalten diese bereits jene in sich, stellen bereits eine angeeignete Antike
dar. Der Rückgang auf die Antike selbst ist uns darum nicht erspart,
wir sollen sie uns selbstthätig aneignen, aber zugleich ist es unendliche
Förderung, daß wir bereits eine vollendete Form warmer und freier An-
eignung vor uns haben, daß es nicht ein einfacher, sondern ein getheilter
Takt ist, durch den wir auf das Alterthum zurück und von da wieder zur
Gegenwart her blicken. Die weitere Geschichte wird dieß zeigen.

§. 724.

Diese ideale Stylbildung, auf Grundlage neuen, ernsten Naturstudiums
und wissenschaftlicher Erkenntniß geschaffen von Leonardo da Vinci, theilt
sich aber noch einmal, und zwar so, daß das Erhabene in der Energie der
Form, der plastische Styl in gewaltig bewegter Erscheinung durch den Florentiner
M. Angelo seine Höhe erreicht, wogegen Raphael vom Stadpuncte der
reinen Schönheit das Ganze erfaßt, indem er mit der umbrischen Farbe und
Grazie der gemüthvollen Innigkeit die florentinische Zeichnung, Composition, Fülle
der Charaktere, Individualität, Handlung bis zur vollen Kraft des Erhabenen
vereinigt.

Alles Studium und Bewußtsein der Kunstgesetze, das in der floren-
tinischen Schule sich bereits entwickelt hat, faßt sich in Leonardo da Vinci
zusammen. Er ist der eigentliche Lehrmeister der Blüthezeit. Schon die
vorhergehende Epoche schöpfte ihre Kraft neben der classischen Kunst aus
der ewigen Quelle der Natur; Leonardo mit seinem Denkergeiste lehrt
und zeigt erst gründlich, wie man schöpfen muß. Er ist aber ebensosehr
schaffender Künstler, nur kein fruchtbarer; denn außer dem theoretischen
Drange theilt auch die in mehr, als Einer, Kunst geniale Vielseitigkeit,
die ihn wie die andern großen Meister dieser Zeit auszeichnet, seine
Thätigkeit. Leonardo ist der Schöpfer des vollendeten Styls und darf
als die Einheit dessen aufgefaßt werden, was sich auch auf dieser höchsten
Stufe noch einmal spaltet. Denn zur florentinischen Klarheit bringt er
zugleich das Gefühl der Innigkeit, das weiche Gemüth und die ent-

in ſich aufnehmen kann. Was die alte Kunſt für alle Zeiten iſt, das iſt
dieſer Styl vom ſechzehnten Jahrhundert an für die weitere Zukunft:
ein anderer Styl, der ſpezifiſch maleriſche, ſtets in Gefahr, das Maaß,
den Adel, den feſten Halt zu verlieren, hat für immer an dieſem reinen
und ewigen Muſter hinaufzublicken und jene Stätten, wo ſeine reine, aus
dem Herzen der Romantik getränkte Götterwelt thront, ſind das Athen,
wohin jeder Maler wallfahren ſollte. Die neuere Zeit hat nun alſo zwei
große Muſter, die Antike und die großen Italiener. Tiefer genommen
enthalten dieſe bereits jene in ſich, ſtellen bereits eine angeeignete Antike
dar. Der Rückgang auf die Antike ſelbſt iſt uns darum nicht erſpart,
wir ſollen ſie uns ſelbſtthätig aneignen, aber zugleich iſt es unendliche
Förderung, daß wir bereits eine vollendete Form warmer und freier An-
eignung vor uns haben, daß es nicht ein einfacher, ſondern ein getheilter
Takt iſt, durch den wir auf das Alterthum zurück und von da wieder zur
Gegenwart her blicken. Die weitere Geſchichte wird dieß zeigen.

§. 724.

Dieſe ideale Stylbildung, auf Grundlage neuen, ernſten Naturſtudiums
und wiſſenſchaftlicher Erkenntniß geſchaffen von Leonardo da Vinci, theilt
ſich aber noch einmal, und zwar ſo, daß das Erhabene in der Energie der
Form, der plaſtiſche Styl in gewaltig bewegter Erſcheinung durch den Florentiner
M. Angelo ſeine Höhe erreicht, wogegen Raphael vom Stadpuncte der
reinen Schönheit das Ganze erfaßt, indem er mit der umbriſchen Farbe und
Grazie der gemüthvollen Innigkeit die florentiniſche Zeichnung, Compoſition, Fülle
der Charaktere, Individualität, Handlung bis zur vollen Kraft des Erhabenen
vereinigt.

Alles Studium und Bewußtſein der Kunſtgeſetze, das in der floren-
tiniſchen Schule ſich bereits entwickelt hat, faßt ſich in Leonardo da Vinci
zuſammen. Er iſt der eigentliche Lehrmeiſter der Blüthezeit. Schon die
vorhergehende Epoche ſchöpfte ihre Kraft neben der claſſiſchen Kunſt aus
der ewigen Quelle der Natur; Leonardo mit ſeinem Denkergeiſte lehrt
und zeigt erſt gründlich, wie man ſchöpfen muß. Er iſt aber ebenſoſehr
ſchaffender Künſtler, nur kein fruchtbarer; denn außer dem theoretiſchen
Drange theilt auch die in mehr, als Einer, Kunſt geniale Vielſeitigkeit,
die ihn wie die andern großen Meiſter dieſer Zeit auszeichnet, ſeine
Thätigkeit. Leonardo iſt der Schöpfer des vollendeten Styls und darf
als die Einheit deſſen aufgefaßt werden, was ſich auch auf dieſer höchſten
Stufe noch einmal ſpaltet. Denn zur florentiniſchen Klarheit bringt er
zugleich das Gefühl der Innigkeit, das weiche Gemüth und die ent-

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[714/0222] in ſich aufnehmen kann. Was die alte Kunſt für alle Zeiten iſt, das iſt dieſer Styl vom ſechzehnten Jahrhundert an für die weitere Zukunft: ein anderer Styl, der ſpezifiſch maleriſche, ſtets in Gefahr, das Maaß, den Adel, den feſten Halt zu verlieren, hat für immer an dieſem reinen und ewigen Muſter hinaufzublicken und jene Stätten, wo ſeine reine, aus dem Herzen der Romantik getränkte Götterwelt thront, ſind das Athen, wohin jeder Maler wallfahren ſollte. Die neuere Zeit hat nun alſo zwei große Muſter, die Antike und die großen Italiener. Tiefer genommen enthalten dieſe bereits jene in ſich, ſtellen bereits eine angeeignete Antike dar. Der Rückgang auf die Antike ſelbſt iſt uns darum nicht erſpart, wir ſollen ſie uns ſelbſtthätig aneignen, aber zugleich iſt es unendliche Förderung, daß wir bereits eine vollendete Form warmer und freier An- eignung vor uns haben, daß es nicht ein einfacher, ſondern ein getheilter Takt iſt, durch den wir auf das Alterthum zurück und von da wieder zur Gegenwart her blicken. Die weitere Geſchichte wird dieß zeigen. §. 724. Dieſe ideale Stylbildung, auf Grundlage neuen, ernſten Naturſtudiums und wiſſenſchaftlicher Erkenntniß geſchaffen von Leonardo da Vinci, theilt ſich aber noch einmal, und zwar ſo, daß das Erhabene in der Energie der Form, der plaſtiſche Styl in gewaltig bewegter Erſcheinung durch den Florentiner M. Angelo ſeine Höhe erreicht, wogegen Raphael vom Stadpuncte der reinen Schönheit das Ganze erfaßt, indem er mit der umbriſchen Farbe und Grazie der gemüthvollen Innigkeit die florentiniſche Zeichnung, Compoſition, Fülle der Charaktere, Individualität, Handlung bis zur vollen Kraft des Erhabenen vereinigt. Alles Studium und Bewußtſein der Kunſtgeſetze, das in der floren- tiniſchen Schule ſich bereits entwickelt hat, faßt ſich in Leonardo da Vinci zuſammen. Er iſt der eigentliche Lehrmeiſter der Blüthezeit. Schon die vorhergehende Epoche ſchöpfte ihre Kraft neben der claſſiſchen Kunſt aus der ewigen Quelle der Natur; Leonardo mit ſeinem Denkergeiſte lehrt und zeigt erſt gründlich, wie man ſchöpfen muß. Er iſt aber ebenſoſehr ſchaffender Künſtler, nur kein fruchtbarer; denn außer dem theoretiſchen Drange theilt auch die in mehr, als Einer, Kunſt geniale Vielſeitigkeit, die ihn wie die andern großen Meiſter dieſer Zeit auszeichnet, ſeine Thätigkeit. Leonardo iſt der Schöpfer des vollendeten Styls und darf als die Einheit deſſen aufgefaßt werden, was ſich auch auf dieſer höchſten Stufe noch einmal ſpaltet. Denn zur florentiniſchen Klarheit bringt er zugleich das Gefühl der Innigkeit, das weiche Gemüth und die ent-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/222>, abgerufen am 19.04.2024.