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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Freilich vereinigt er auch beide Extreme in der Weise einer Zeit, welche
das Sittenbildliche noch nicht in einen besonderen Zweig abzulagern wußte,
wirft es zum Religiösen, setzt die Madonna an's Spinnrad u. dgl., aber
zugleich finden wir doch bei ihm in erster Lebensfülle das reine Sittenbild,
und zwar in einem Sinne behandelt, wodurch es zwischen das höhere,
plastisch stylisirte und das derbere, humoristische sich eigenthümlich in die
Mitte stellt: die Situation, an sich niedrig, wird durch den Geist südlicher
Schönheit, kummerloser Seligkeit der Armuth in einer freigebigen Natur
(vergl. Hegels schöne Charakteristik seiner Bettelknaben Aesth. B. 1 S. 218.
219), in einen Aether reiner Idealität erhoben; eine Auffassung, welcher
denn auch der größere Maaßstab entspricht. -- Das Porträt blüht bei diesen
Spaniern in der Fülle der Lebenswahrheit, der geistreiche Blick erhascht
den reinsten Phosphor der Persönlichkeit. Wir nennen nur Velasquez.
Der Nachdruck, womit sich diese Schule auf die Farbe wirft, zieht in
lebendiger Individualisirung der Form seine richtige Consequenz, führt aber
im Einzelnen, besonders in den Falten, zu nachläßiger Zeichnung. Diese
Farbe ist in ihrer localen Wirkung nicht so blutwarm und von innen
herausleuchtend, wie bei Rubens und den Venetianern, die Schwärze der
italienischen Naturalisten hat hier Einfluß gehabt, aber um so ahnungs-
voller drückt sich das mythisch tiefe Stimmungselement in dem dämmernden,
silberduftigen Schleier aus, der sich wie ein dünner Flor um Alles legt.

§. 736.

Auf der zweiten Stufe stößt das protestantische Holland auch den letzten
Rest von Transcendenz und höherem, plastischem Schwunge der Form aus. Doch
spaltet sich die neue Richtung noch einmal: Rembrandt wendet einen Styl,
der nur für Porträt und Sittenbild berufen ist, auch auf größere, selbst mythische
Stoffe an, rechtfertigt jedoch in gewissem Sinne dieß Verfahren durch ein düsteres
Pathos im Ausdruck und traumhaftes Helldunkel des Colorits. Die Kabi-
netsmaler
dagegen leiten den im engsten Sinne malerischen Styl in sein wahres
Bett: Landschaft, Thierstück, Sittenbild, sie werden die eigentlichen Begründer
dieser Zweige und retten vor dem allerwärts eindringenden falschen und forma-
listischen Idealismus den ganzen Theil der wahren Stoffwelt, der ohne positiven
Einfluß des plastischen Styls gedeihen kann.

Die Opposition gegen allen directen Idealismus der Form wird von
Rembrandt bis zur Consequenz des Cynismus vollendet, wovon sein
Ganymed Zeugniß ablegt. Wir dürfen statt weiterer Ausführung auf die
treffliche Charakteristik Kuglers verweisen und an das erinnern, was zu
§. 673 über sein Colorit gesagt ist Faßt man Alles zusammen, so steht

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 49

Freilich vereinigt er auch beide Extreme in der Weiſe einer Zeit, welche
das Sittenbildliche noch nicht in einen beſonderen Zweig abzulagern wußte,
wirft es zum Religiöſen, ſetzt die Madonna an’s Spinnrad u. dgl., aber
zugleich finden wir doch bei ihm in erſter Lebensfülle das reine Sittenbild,
und zwar in einem Sinne behandelt, wodurch es zwiſchen das höhere,
plaſtiſch ſtyliſirte und das derbere, humoriſtiſche ſich eigenthümlich in die
Mitte ſtellt: die Situation, an ſich niedrig, wird durch den Geiſt ſüdlicher
Schönheit, kummerloſer Seligkeit der Armuth in einer freigebigen Natur
(vergl. Hegels ſchöne Charakteriſtik ſeiner Bettelknaben Aeſth. B. 1 S. 218.
219), in einen Aether reiner Idealität erhoben; eine Auffaſſung, welcher
denn auch der größere Maaßſtab entſpricht. — Das Porträt blüht bei dieſen
Spaniern in der Fülle der Lebenswahrheit, der geiſtreiche Blick erhaſcht
den reinſten Phosphor der Perſönlichkeit. Wir nennen nur Velaſquez.
Der Nachdruck, womit ſich dieſe Schule auf die Farbe wirft, zieht in
lebendiger Individualiſirung der Form ſeine richtige Conſequenz, führt aber
im Einzelnen, beſonders in den Falten, zu nachläßiger Zeichnung. Dieſe
Farbe iſt in ihrer localen Wirkung nicht ſo blutwarm und von innen
herausleuchtend, wie bei Rubens und den Venetianern, die Schwärze der
italieniſchen Naturaliſten hat hier Einfluß gehabt, aber um ſo ahnungs-
voller drückt ſich das mythiſch tiefe Stimmungselement in dem dämmernden,
ſilberduftigen Schleier aus, der ſich wie ein dünner Flor um Alles legt.

§. 736.

Auf der zweiten Stufe ſtößt das proteſtantiſche Holland auch den letzten
Reſt von Tranſcendenz und höherem, plaſtiſchem Schwunge der Form aus. Doch
ſpaltet ſich die neue Richtung noch einmal: Rembrandt wendet einen Styl,
der nur für Porträt und Sittenbild berufen iſt, auch auf größere, ſelbſt mythiſche
Stoffe an, rechtfertigt jedoch in gewiſſem Sinne dieß Verfahren durch ein düſteres
Pathos im Ausdruck und traumhaftes Helldunkel des Colorits. Die Kabi-
netsmaler
dagegen leiten den im engſten Sinne maleriſchen Styl in ſein wahres
Bett: Landſchaft, Thierſtück, Sittenbild, ſie werden die eigentlichen Begründer
dieſer Zweige und retten vor dem allerwärts eindringenden falſchen und forma-
liſtiſchen Idealiſmus den ganzen Theil der wahren Stoffwelt, der ohne poſitiven
Einfluß des plaſtiſchen Styls gedeihen kann.

Die Oppoſition gegen allen directen Idealiſmus der Form wird von
Rembrandt bis zur Conſequenz des Cyniſmus vollendet, wovon ſein
Ganymed Zeugniß ablegt. Wir dürfen ſtatt weiterer Ausführung auf die
treffliche Charakteriſtik Kuglers verweiſen und an das erinnern, was zu
§. 673 über ſein Colorit geſagt iſt Faßt man Alles zuſammen, ſo ſteht

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 49
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[745/0253] Freilich vereinigt er auch beide Extreme in der Weiſe einer Zeit, welche das Sittenbildliche noch nicht in einen beſonderen Zweig abzulagern wußte, wirft es zum Religiöſen, ſetzt die Madonna an’s Spinnrad u. dgl., aber zugleich finden wir doch bei ihm in erſter Lebensfülle das reine Sittenbild, und zwar in einem Sinne behandelt, wodurch es zwiſchen das höhere, plaſtiſch ſtyliſirte und das derbere, humoriſtiſche ſich eigenthümlich in die Mitte ſtellt: die Situation, an ſich niedrig, wird durch den Geiſt ſüdlicher Schönheit, kummerloſer Seligkeit der Armuth in einer freigebigen Natur (vergl. Hegels ſchöne Charakteriſtik ſeiner Bettelknaben Aeſth. B. 1 S. 218. 219), in einen Aether reiner Idealität erhoben; eine Auffaſſung, welcher denn auch der größere Maaßſtab entſpricht. — Das Porträt blüht bei dieſen Spaniern in der Fülle der Lebenswahrheit, der geiſtreiche Blick erhaſcht den reinſten Phosphor der Perſönlichkeit. Wir nennen nur Velaſquez. Der Nachdruck, womit ſich dieſe Schule auf die Farbe wirft, zieht in lebendiger Individualiſirung der Form ſeine richtige Conſequenz, führt aber im Einzelnen, beſonders in den Falten, zu nachläßiger Zeichnung. Dieſe Farbe iſt in ihrer localen Wirkung nicht ſo blutwarm und von innen herausleuchtend, wie bei Rubens und den Venetianern, die Schwärze der italieniſchen Naturaliſten hat hier Einfluß gehabt, aber um ſo ahnungs- voller drückt ſich das mythiſch tiefe Stimmungselement in dem dämmernden, ſilberduftigen Schleier aus, der ſich wie ein dünner Flor um Alles legt. §. 736. Auf der zweiten Stufe ſtößt das proteſtantiſche Holland auch den letzten Reſt von Tranſcendenz und höherem, plaſtiſchem Schwunge der Form aus. Doch ſpaltet ſich die neue Richtung noch einmal: Rembrandt wendet einen Styl, der nur für Porträt und Sittenbild berufen iſt, auch auf größere, ſelbſt mythiſche Stoffe an, rechtfertigt jedoch in gewiſſem Sinne dieß Verfahren durch ein düſteres Pathos im Ausdruck und traumhaftes Helldunkel des Colorits. Die Kabi- netsmaler dagegen leiten den im engſten Sinne maleriſchen Styl in ſein wahres Bett: Landſchaft, Thierſtück, Sittenbild, ſie werden die eigentlichen Begründer dieſer Zweige und retten vor dem allerwärts eindringenden falſchen und forma- liſtiſchen Idealiſmus den ganzen Theil der wahren Stoffwelt, der ohne poſitiven Einfluß des plaſtiſchen Styls gedeihen kann. Die Oppoſition gegen allen directen Idealiſmus der Form wird von Rembrandt bis zur Conſequenz des Cyniſmus vollendet, wovon ſein Ganymed Zeugniß ablegt. Wir dürfen ſtatt weiterer Ausführung auf die treffliche Charakteriſtik Kuglers verweiſen und an das erinnern, was zu §. 673 über ſein Colorit geſagt iſt Faßt man Alles zuſammen, ſo ſteht Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 49

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 745. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/253>, abgerufen am 28.03.2024.