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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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verknüpft sich ihm so mit dem individuell Seinigen, daß darin die tiefste
Versuchung liegt, für sich ein Ganzes, das Ganze sein zu wollen; daher
sagt und gesteht uns der Ausdruck der Hingebung an das wahrhaft All-
gemeine, daß das Opfer nicht leicht war. Nun tritt aber nothwendig auch
die wirkliche Empörung als Kunststoff ein, das Böse steigt aus seinem
Abgrund hervor. Ja es wird darstellbar auch ohne den Fortgang zur
Versöhnung. Eben weil das Einzelne unendlich bedeutend geworden ist,
kann auch den empörten Einzelwillen eine Geistigkeit, Genialität umwit-
tern, die als eine dämonische Tiefe mit Geisterschauern auf uns wirkt;
dabei darf allerdings der Ausdruck der Selbstzerstörung nicht fehlen, der
auch ohne den Fortgang zur positiven Versöhnung in negativer Form
dem Wahren und Guten die Ehre gibt. -- Bei der Landschaft haben wir
ein Wort vom Thierleben gesagt, wie ihm nämlich in der neuen Kunst-
form ein gemüthliches Interesse zugewendet wird. Es muß aber auch der
veränderte Standpunct, unter welchem die Persönlichkeit dargestellt wird,
eine gewisse Anwendung auf dasselbe finden. Wie nämlich in dieser nun
eine reichere, vielgetheilte Welt aufgeht, so wird auch die Lebensform des
Thiers als eine gefülltere, mit Trieben und Beziehungen, die den mensch-
lichen in's Einzelne analog sind, reicher ausgestattete in wärmerem, be-
wegterem Ton aufgefaßt und im wilden, zerstörenden Thiere gemahnt
der Ausdruck des Grimmen an jene dämonischen Tiefen des menschlich
Bösen.

§. 655.

Wie nun innerhalb der so aufgefaßten Persönlichkeit die Vielheit der ein-
zelnen Züge in Geltung eingesetzt ist, so erhält die ganze Persönlichkeit als
Individuum unter den vielen Individuen unendlichen Werth. Ihre Eigenheit,
wie sie sich in der Erscheinung ausdrückt, mag diese nach Form und äußerer
Bewegung noch so unscheinbar oder unregelmäßig sein, wenn nur geistige Tiefe
sich in ihr offenbart, ist zur ästhetischen Berechtigung erhoben, und dieß findet
auch auf die nicht begeistete Natur analoge Anwendung. Hiemit erst hat die
zunächst äußerlich begründete Zulassung einer unbestimmten Vielheit von Gestal-
ten ihre innere, positive Begründung und Bedeutung erhalten. Die Aristokratie
der Gestalt ist gefallen und die Demokratie der Gleichberechtigung unter Vor-
aussetzung des Ausdrucks inneren Werths ist eingetreten.

Wir haben in §. 654 die Persönlichkeit vor uns gehabt, wie sie in-
nerhalb ihrer selbst in zwei Seiten, die Vielheit und Einheit, zerfällt;
jetzt halten wir das Ganze der so beschaffenen Persönlichkeit als Indivi-
duum mit der unbestimmten, durch die Mittel der Malerei weit erschlosse-

verknüpft ſich ihm ſo mit dem individuell Seinigen, daß darin die tiefſte
Verſuchung liegt, für ſich ein Ganzes, das Ganze ſein zu wollen; daher
ſagt und geſteht uns der Ausdruck der Hingebung an das wahrhaft All-
gemeine, daß das Opfer nicht leicht war. Nun tritt aber nothwendig auch
die wirkliche Empörung als Kunſtſtoff ein, das Böſe ſteigt aus ſeinem
Abgrund hervor. Ja es wird darſtellbar auch ohne den Fortgang zur
Verſöhnung. Eben weil das Einzelne unendlich bedeutend geworden iſt,
kann auch den empörten Einzelwillen eine Geiſtigkeit, Genialität umwit-
tern, die als eine dämoniſche Tiefe mit Geiſterſchauern auf uns wirkt;
dabei darf allerdings der Ausdruck der Selbſtzerſtörung nicht fehlen, der
auch ohne den Fortgang zur poſitiven Verſöhnung in negativer Form
dem Wahren und Guten die Ehre gibt. — Bei der Landſchaft haben wir
ein Wort vom Thierleben geſagt, wie ihm nämlich in der neuen Kunſt-
form ein gemüthliches Intereſſe zugewendet wird. Es muß aber auch der
veränderte Standpunct, unter welchem die Perſönlichkeit dargeſtellt wird,
eine gewiſſe Anwendung auf daſſelbe finden. Wie nämlich in dieſer nun
eine reichere, vielgetheilte Welt aufgeht, ſo wird auch die Lebensform des
Thiers als eine gefülltere, mit Trieben und Beziehungen, die den menſch-
lichen in’s Einzelne analog ſind, reicher ausgeſtattete in wärmerem, be-
wegterem Ton aufgefaßt und im wilden, zerſtörenden Thiere gemahnt
der Ausdruck des Grimmen an jene dämoniſchen Tiefen des menſchlich
Böſen.

§. 655.

Wie nun innerhalb der ſo aufgefaßten Perſönlichkeit die Vielheit der ein-
zelnen Züge in Geltung eingeſetzt iſt, ſo erhält die ganze Perſönlichkeit als
Individuum unter den vielen Individuen unendlichen Werth. Ihre Eigenheit,
wie ſie ſich in der Erſcheinung ausdrückt, mag dieſe nach Form und äußerer
Bewegung noch ſo unſcheinbar oder unregelmäßig ſein, wenn nur geiſtige Tiefe
ſich in ihr offenbart, iſt zur äſthetiſchen Berechtigung erhoben, und dieß findet
auch auf die nicht begeiſtete Natur analoge Anwendung. Hiemit erſt hat die
zunächſt äußerlich begründete Zulaſſung einer unbeſtimmten Vielheit von Geſtal-
ten ihre innere, poſitive Begründung und Bedeutung erhalten. Die Ariſtokratie
der Geſtalt iſt gefallen und die Demokratie der Gleichberechtigung unter Vor-
ausſetzung des Ausdrucks inneren Werths iſt eingetreten.

Wir haben in §. 654 die Perſönlichkeit vor uns gehabt, wie ſie in-
nerhalb ihrer ſelbſt in zwei Seiten, die Vielheit und Einheit, zerfällt;
jetzt halten wir das Ganze der ſo beſchaffenen Perſönlichkeit als Indivi-
duum mit der unbeſtimmten, durch die Mittel der Malerei weit erſchloſſe-

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[528/0036] verknüpft ſich ihm ſo mit dem individuell Seinigen, daß darin die tiefſte Verſuchung liegt, für ſich ein Ganzes, das Ganze ſein zu wollen; daher ſagt und geſteht uns der Ausdruck der Hingebung an das wahrhaft All- gemeine, daß das Opfer nicht leicht war. Nun tritt aber nothwendig auch die wirkliche Empörung als Kunſtſtoff ein, das Böſe ſteigt aus ſeinem Abgrund hervor. Ja es wird darſtellbar auch ohne den Fortgang zur Verſöhnung. Eben weil das Einzelne unendlich bedeutend geworden iſt, kann auch den empörten Einzelwillen eine Geiſtigkeit, Genialität umwit- tern, die als eine dämoniſche Tiefe mit Geiſterſchauern auf uns wirkt; dabei darf allerdings der Ausdruck der Selbſtzerſtörung nicht fehlen, der auch ohne den Fortgang zur poſitiven Verſöhnung in negativer Form dem Wahren und Guten die Ehre gibt. — Bei der Landſchaft haben wir ein Wort vom Thierleben geſagt, wie ihm nämlich in der neuen Kunſt- form ein gemüthliches Intereſſe zugewendet wird. Es muß aber auch der veränderte Standpunct, unter welchem die Perſönlichkeit dargeſtellt wird, eine gewiſſe Anwendung auf daſſelbe finden. Wie nämlich in dieſer nun eine reichere, vielgetheilte Welt aufgeht, ſo wird auch die Lebensform des Thiers als eine gefülltere, mit Trieben und Beziehungen, die den menſch- lichen in’s Einzelne analog ſind, reicher ausgeſtattete in wärmerem, be- wegterem Ton aufgefaßt und im wilden, zerſtörenden Thiere gemahnt der Ausdruck des Grimmen an jene dämoniſchen Tiefen des menſchlich Böſen. §. 655. Wie nun innerhalb der ſo aufgefaßten Perſönlichkeit die Vielheit der ein- zelnen Züge in Geltung eingeſetzt iſt, ſo erhält die ganze Perſönlichkeit als Individuum unter den vielen Individuen unendlichen Werth. Ihre Eigenheit, wie ſie ſich in der Erſcheinung ausdrückt, mag dieſe nach Form und äußerer Bewegung noch ſo unſcheinbar oder unregelmäßig ſein, wenn nur geiſtige Tiefe ſich in ihr offenbart, iſt zur äſthetiſchen Berechtigung erhoben, und dieß findet auch auf die nicht begeiſtete Natur analoge Anwendung. Hiemit erſt hat die zunächſt äußerlich begründete Zulaſſung einer unbeſtimmten Vielheit von Geſtal- ten ihre innere, poſitive Begründung und Bedeutung erhalten. Die Ariſtokratie der Geſtalt iſt gefallen und die Demokratie der Gleichberechtigung unter Vor- ausſetzung des Ausdrucks inneren Werths iſt eingetreten. Wir haben in §. 654 die Perſönlichkeit vor uns gehabt, wie ſie in- nerhalb ihrer ſelbſt in zwei Seiten, die Vielheit und Einheit, zerfällt; jetzt halten wir das Ganze der ſo beſchaffenen Perſönlichkeit als Indivi- duum mit der unbeſtimmten, durch die Mittel der Malerei weit erſchloſſe-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/36>, abgerufen am 28.03.2024.