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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Zeichnung als erstes Moment der Malerei allerdings über die Bildner-
kunst wesentlich hinaus. Dennoch bleibt es auch Angesichts dieser neu
eingetretenen Kunstbedingungen dabei, daß sie das plastische Moment in der
Malerei ist, was übrigens natürlich mehr von dem engeren Gebiete der
Verkürzung, als von der Perspective im Ganzen und Großen gilt. Das
Prinzip der directen Idealisirung wird sich daher nicht auf die ein-
fache Erscheinung der Gestalt beschränken, sondern auch auf ihre optischen
Verschiebungen werfen; ja der Meister der schönen Einzelgestalt, der styl-
vollen Zeichnung wird mit besonderer Vorliebe seine sichere und energische
Faust darin zeigen, daß er den Körper in allen kühnsten Wendungen und
der dadurch gegebenen Scheinveränderung der Formen vorführt; er wird
sogar in nicht geringer Versuchung sein, zu vergessen, daß das reflectirtere
Interesse, das die Formen durch die Verkürzung gewinnen, ohne bestimmte
Motivirung nicht aufzusuchen ist, daß hier eine Versuchung zur Manier
liegt, er wird mit seiner Macht über die Form prahlen, in das Gewalt-
same, Verdrehte gerathen und so mitten in seiner ursprünglich plastischen
Richtung gerade das plastische Schönheitsgesetz verletzen. Nur weil er
auch in seinen Verirrungen immer groß ist, verzeiht man diese Ausartung
des Styls in die Manier dem Mich. Angelo; die verderblichen Wirkungen
mußten sich einstellen, sobald die Genialität des Meisters diese Abwege
nicht mehr am Bande ihres erhabenen geistigen Feuers hielt. -- Die
Andeutung des Unbestimmten und die Perspective im Großen führt nun
bestimmter, als die Verkürzung, in das Spezifische der Malerei hinein,
denn hier handelt es sich vornämlich vom mitgegebenen Raum mit den
mancherlei unorganischen oder nur vegetabilisch organischen Körpern, aus
denen er sich zusammenbaut. Das Zurückweichen im Ganzen hat selbst
in der bloßen Zeichnung schon eine gewisse stimmende Wirkung, die drei
Gründe: Vorder-, Mittel-, Hintergrund unterscheiden sich bereits und
zeigen ihre mehr, als bloß äußerliche Bedeutung. Doch solange nicht das
Weitere des malerischen Verfahrens hinzutritt, bleibt diese Seite ein bloßer
Ansatz.

§. 664.

Da aber die Malerei den vollen Schein des Sichtbaren geben soll, so
bleibt die Zeichnung nur das erste Moment in dem Ganzen dieser Kunst. Sie
verhält sich zu diesem wie der Begriff zu seiner Wirklichkeit und entspricht der
Phantasie vor der Kunst im Systeme der Aesthetik. Sie kann sich trotzdem
von den weiteren Momenten abtrennen und als Umriß oder Skizze für sich
auftreten (vergl. §. 493, 2.). Diese Form ist geeignet für Kunsttalente, die
in der Erfindung stärker sind, als in der Ausführung, und für Stoffe, in de-

Zeichnung als erſtes Moment der Malerei allerdings über die Bildner-
kunſt weſentlich hinaus. Dennoch bleibt es auch Angeſichts dieſer neu
eingetretenen Kunſtbedingungen dabei, daß ſie das plaſtiſche Moment in der
Malerei iſt, was übrigens natürlich mehr von dem engeren Gebiete der
Verkürzung, als von der Perſpective im Ganzen und Großen gilt. Das
Prinzip der directen Idealiſirung wird ſich daher nicht auf die ein-
fache Erſcheinung der Geſtalt beſchränken, ſondern auch auf ihre optiſchen
Verſchiebungen werfen; ja der Meiſter der ſchönen Einzelgeſtalt, der ſtyl-
vollen Zeichnung wird mit beſonderer Vorliebe ſeine ſichere und energiſche
Fauſt darin zeigen, daß er den Körper in allen kühnſten Wendungen und
der dadurch gegebenen Scheinveränderung der Formen vorführt; er wird
ſogar in nicht geringer Verſuchung ſein, zu vergeſſen, daß das reflectirtere
Intereſſe, das die Formen durch die Verkürzung gewinnen, ohne beſtimmte
Motivirung nicht aufzuſuchen iſt, daß hier eine Verſuchung zur Manier
liegt, er wird mit ſeiner Macht über die Form prahlen, in das Gewalt-
ſame, Verdrehte gerathen und ſo mitten in ſeiner urſprünglich plaſtiſchen
Richtung gerade das plaſtiſche Schönheitsgeſetz verletzen. Nur weil er
auch in ſeinen Verirrungen immer groß iſt, verzeiht man dieſe Ausartung
des Styls in die Manier dem Mich. Angelo; die verderblichen Wirkungen
mußten ſich einſtellen, ſobald die Genialität des Meiſters dieſe Abwege
nicht mehr am Bande ihres erhabenen geiſtigen Feuers hielt. — Die
Andeutung des Unbeſtimmten und die Perſpective im Großen führt nun
beſtimmter, als die Verkürzung, in das Spezifiſche der Malerei hinein,
denn hier handelt es ſich vornämlich vom mitgegebenen Raum mit den
mancherlei unorganiſchen oder nur vegetabiliſch organiſchen Körpern, aus
denen er ſich zuſammenbaut. Das Zurückweichen im Ganzen hat ſelbſt
in der bloßen Zeichnung ſchon eine gewiſſe ſtimmende Wirkung, die drei
Gründe: Vorder-, Mittel-, Hintergrund unterſcheiden ſich bereits und
zeigen ihre mehr, als bloß äußerliche Bedeutung. Doch ſolange nicht das
Weitere des maleriſchen Verfahrens hinzutritt, bleibt dieſe Seite ein bloßer
Anſatz.

§. 664.

Da aber die Malerei den vollen Schein des Sichtbaren geben ſoll, ſo
bleibt die Zeichnung nur das erſte Moment in dem Ganzen dieſer Kunſt. Sie
verhält ſich zu dieſem wie der Begriff zu ſeiner Wirklichkeit und entſpricht der
Phantaſie vor der Kunſt im Syſteme der Aeſthetik. Sie kann ſich trotzdem
von den weiteren Momenten abtrennen und als Umriß oder Skizze für ſich
auftreten (vergl. §. 493, 2.). Dieſe Form iſt geeignet für Kunſttalente, die
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[551/0059] Zeichnung als erſtes Moment der Malerei allerdings über die Bildner- kunſt weſentlich hinaus. Dennoch bleibt es auch Angeſichts dieſer neu eingetretenen Kunſtbedingungen dabei, daß ſie das plaſtiſche Moment in der Malerei iſt, was übrigens natürlich mehr von dem engeren Gebiete der Verkürzung, als von der Perſpective im Ganzen und Großen gilt. Das Prinzip der directen Idealiſirung wird ſich daher nicht auf die ein- fache Erſcheinung der Geſtalt beſchränken, ſondern auch auf ihre optiſchen Verſchiebungen werfen; ja der Meiſter der ſchönen Einzelgeſtalt, der ſtyl- vollen Zeichnung wird mit beſonderer Vorliebe ſeine ſichere und energiſche Fauſt darin zeigen, daß er den Körper in allen kühnſten Wendungen und der dadurch gegebenen Scheinveränderung der Formen vorführt; er wird ſogar in nicht geringer Verſuchung ſein, zu vergeſſen, daß das reflectirtere Intereſſe, das die Formen durch die Verkürzung gewinnen, ohne beſtimmte Motivirung nicht aufzuſuchen iſt, daß hier eine Verſuchung zur Manier liegt, er wird mit ſeiner Macht über die Form prahlen, in das Gewalt- ſame, Verdrehte gerathen und ſo mitten in ſeiner urſprünglich plaſtiſchen Richtung gerade das plaſtiſche Schönheitsgeſetz verletzen. Nur weil er auch in ſeinen Verirrungen immer groß iſt, verzeiht man dieſe Ausartung des Styls in die Manier dem Mich. Angelo; die verderblichen Wirkungen mußten ſich einſtellen, ſobald die Genialität des Meiſters dieſe Abwege nicht mehr am Bande ihres erhabenen geiſtigen Feuers hielt. — Die Andeutung des Unbeſtimmten und die Perſpective im Großen führt nun beſtimmter, als die Verkürzung, in das Spezifiſche der Malerei hinein, denn hier handelt es ſich vornämlich vom mitgegebenen Raum mit den mancherlei unorganiſchen oder nur vegetabiliſch organiſchen Körpern, aus denen er ſich zuſammenbaut. Das Zurückweichen im Ganzen hat ſelbſt in der bloßen Zeichnung ſchon eine gewiſſe ſtimmende Wirkung, die drei Gründe: Vorder-, Mittel-, Hintergrund unterſcheiden ſich bereits und zeigen ihre mehr, als bloß äußerliche Bedeutung. Doch ſolange nicht das Weitere des maleriſchen Verfahrens hinzutritt, bleibt dieſe Seite ein bloßer Anſatz. §. 664. Da aber die Malerei den vollen Schein des Sichtbaren geben ſoll, ſo bleibt die Zeichnung nur das erſte Moment in dem Ganzen dieſer Kunſt. Sie verhält ſich zu dieſem wie der Begriff zu ſeiner Wirklichkeit und entſpricht der Phantaſie vor der Kunſt im Syſteme der Aeſthetik. Sie kann ſich trotzdem von den weiteren Momenten abtrennen und als Umriß oder Skizze für ſich auftreten (vergl. §. 493, 2.). Dieſe Form iſt geeignet für Kunſttalente, die in der Erfindung ſtärker ſind, als in der Ausführung, und für Stoffe, in de-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/59>, abgerufen am 28.03.2024.