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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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bis zum fast Unerkennbaren auflöst. Das ist aber auch wieder in ge-
wissem Sinn mythisch, indem darin der eben gewonnene Boden der Wirk-
lichkeit sich verflüchtigt.

§. 675.

Zusammengefaßt mit diesen Momenten und Consequenzen des Verfahrens,
in denen er sich niederlegt, gestaltet sich nun der innere Geist der Malerei
zum Stylgesetze mit den in ihm enthaltenen besondern Bestimmungen für die
Hauptgebiete des nun in so großem Umfang erweiterten Stoffs. Zugleich aber
treten jetzt auch die Grenzen dieser Erweiterung, wie sie aus dem Mangel der
wirklichen Bewegung und ihres wesentlichen Ausdrucks, des Tons und Wortes,
fließen (vergl. §. 658), deutlich an das Licht.

Wir sind also jetzt an dem Punct angekommen, wo das Stylgesetz
und die Stylgesetze für die einzelnen Sphären, die es in sich begreift, zur
Darstellung gelangen; erst jetzt, denn das Stylgesetz ist das Ergebniß des
im ganzen Umfang seines innern Wesens und der äußern Bedingungen
seiner Darstellung begriffenen Geistes einer Kunst. Was die nähere Be-
grenzung des Umfangs des Darstellbaren betrifft, so wurde diese in der
Lehre von der Bildnerkunst früher, nämlich im Abschnitte von der äußern
Bestimmtheit, vorgenommen. Diese Anordnung verlangte die Natur einer
Kunst, an welcher zuerst ihre große Beschränkung gegenüber dem Umfange
des Naturschönen in's Auge fällt: hier mußte zuerst der Boden des Dar-
stellbaren scharf abgegrenzt werden, ehe die Qualität der Darstellung näher
erörtert wurde. Die Malerei aber hat das Gebiet des Sichtbaren in
allen seinen Hauptgebieten gewonnen, und die einzelnen Beschränkungen,
denen ihre Darstellungsfähigkeit dennoch unterliegt, erscheinen nur als die
Grenzen dieser Umfangs-Erweiterung, welche zuerst in's Auge fällt. Da-
her bedarf es hier keiner gesonderten vorangehenden Aufzeigung dieser
Grenzen, sondern nachdem auf das Bestehen der Grenze überhaupt schon
in der allgemeinen Erörterung hingewiesen ist, kann sich das Speziellere
den Stylgesetzen anschließen.

§. 676.

Das Prinzip der indirecten Idealisirung bestimmt sich nun näher zu dem1.
Stylgesetze der Erzielung vorherrschender Tiefe des Ausdrucks durch natura-
listische
und individualisirende Behandlung der Formen. Die Einheit2.
von zwei Prinzipien, die das Wesen der Malerei in sich schließt, muß sich
aber, obwohl das eine zu blos relativer Gültigkeit herabgesetzt ist (§. 657),

bis zum faſt Unerkennbaren auflöst. Das iſt aber auch wieder in ge-
wiſſem Sinn mythiſch, indem darin der eben gewonnene Boden der Wirk-
lichkeit ſich verflüchtigt.

§. 675.

Zuſammengefaßt mit dieſen Momenten und Conſequenzen des Verfahrens,
in denen er ſich niederlegt, geſtaltet ſich nun der innere Geiſt der Malerei
zum Stylgeſetze mit den in ihm enthaltenen beſondern Beſtimmungen für die
Hauptgebiete des nun in ſo großem Umfang erweiterten Stoffs. Zugleich aber
treten jetzt auch die Grenzen dieſer Erweiterung, wie ſie aus dem Mangel der
wirklichen Bewegung und ihres weſentlichen Ausdrucks, des Tons und Wortes,
fließen (vergl. §. 658), deutlich an das Licht.

Wir ſind alſo jetzt an dem Punct angekommen, wo das Stylgeſetz
und die Stylgeſetze für die einzelnen Sphären, die es in ſich begreift, zur
Darſtellung gelangen; erſt jetzt, denn das Stylgeſetz iſt das Ergebniß des
im ganzen Umfang ſeines innern Weſens und der äußern Bedingungen
ſeiner Darſtellung begriffenen Geiſtes einer Kunſt. Was die nähere Be-
grenzung des Umfangs des Darſtellbaren betrifft, ſo wurde dieſe in der
Lehre von der Bildnerkunſt früher, nämlich im Abſchnitte von der äußern
Beſtimmtheit, vorgenommen. Dieſe Anordnung verlangte die Natur einer
Kunſt, an welcher zuerſt ihre große Beſchränkung gegenüber dem Umfange
des Naturſchönen in’s Auge fällt: hier mußte zuerſt der Boden des Dar-
ſtellbaren ſcharf abgegrenzt werden, ehe die Qualität der Darſtellung näher
erörtert wurde. Die Malerei aber hat das Gebiet des Sichtbaren in
allen ſeinen Hauptgebieten gewonnen, und die einzelnen Beſchränkungen,
denen ihre Darſtellungsfähigkeit dennoch unterliegt, erſcheinen nur als die
Grenzen dieſer Umfangs-Erweiterung, welche zuerſt in’s Auge fällt. Da-
her bedarf es hier keiner geſonderten vorangehenden Aufzeigung dieſer
Grenzen, ſondern nachdem auf das Beſtehen der Grenze überhaupt ſchon
in der allgemeinen Erörterung hingewieſen iſt, kann ſich das Speziellere
den Stylgeſetzen anſchließen.

§. 676.

Das Prinzip der indirecten Idealiſirung beſtimmt ſich nun näher zu dem1.
Stylgeſetze der Erzielung vorherrſchender Tiefe des Ausdrucks durch natura-
liſtiſche
und individualiſirende Behandlung der Formen. Die Einheit2.
von zwei Prinzipien, die das Weſen der Malerei in ſich ſchließt, muß ſich
aber, obwohl das eine zu blos relativer Gültigkeit herabgeſetzt iſt (§. 657),

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[577/0085] bis zum faſt Unerkennbaren auflöst. Das iſt aber auch wieder in ge- wiſſem Sinn mythiſch, indem darin der eben gewonnene Boden der Wirk- lichkeit ſich verflüchtigt. §. 675. Zuſammengefaßt mit dieſen Momenten und Conſequenzen des Verfahrens, in denen er ſich niederlegt, geſtaltet ſich nun der innere Geiſt der Malerei zum Stylgeſetze mit den in ihm enthaltenen beſondern Beſtimmungen für die Hauptgebiete des nun in ſo großem Umfang erweiterten Stoffs. Zugleich aber treten jetzt auch die Grenzen dieſer Erweiterung, wie ſie aus dem Mangel der wirklichen Bewegung und ihres weſentlichen Ausdrucks, des Tons und Wortes, fließen (vergl. §. 658), deutlich an das Licht. Wir ſind alſo jetzt an dem Punct angekommen, wo das Stylgeſetz und die Stylgeſetze für die einzelnen Sphären, die es in ſich begreift, zur Darſtellung gelangen; erſt jetzt, denn das Stylgeſetz iſt das Ergebniß des im ganzen Umfang ſeines innern Weſens und der äußern Bedingungen ſeiner Darſtellung begriffenen Geiſtes einer Kunſt. Was die nähere Be- grenzung des Umfangs des Darſtellbaren betrifft, ſo wurde dieſe in der Lehre von der Bildnerkunſt früher, nämlich im Abſchnitte von der äußern Beſtimmtheit, vorgenommen. Dieſe Anordnung verlangte die Natur einer Kunſt, an welcher zuerſt ihre große Beſchränkung gegenüber dem Umfange des Naturſchönen in’s Auge fällt: hier mußte zuerſt der Boden des Dar- ſtellbaren ſcharf abgegrenzt werden, ehe die Qualität der Darſtellung näher erörtert wurde. Die Malerei aber hat das Gebiet des Sichtbaren in allen ſeinen Hauptgebieten gewonnen, und die einzelnen Beſchränkungen, denen ihre Darſtellungsfähigkeit dennoch unterliegt, erſcheinen nur als die Grenzen dieſer Umfangs-Erweiterung, welche zuerſt in’s Auge fällt. Da- her bedarf es hier keiner geſonderten vorangehenden Aufzeigung dieſer Grenzen, ſondern nachdem auf das Beſtehen der Grenze überhaupt ſchon in der allgemeinen Erörterung hingewieſen iſt, kann ſich das Speziellere den Stylgeſetzen anſchließen. §. 676. Das Prinzip der indirecten Idealiſirung beſtimmt ſich nun näher zu dem Stylgeſetze der Erzielung vorherrſchender Tiefe des Ausdrucks durch natura- liſtiſche und individualiſirende Behandlung der Formen. Die Einheit von zwei Prinzipien, die das Weſen der Malerei in ſich ſchließt, muß ſich aber, obwohl das eine zu blos relativer Gültigkeit herabgeſetzt iſt (§. 657),

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/85>, abgerufen am 28.03.2024.