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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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reinste Reiz, die streng gemessene Kraft der Linie in den Formen und
doch ist Alles malerisch individuell und bewegt; neben den Idealgestalten
breitet sich zudem eine Welt von markirten, porträtartigen Charakteren
aus, die dem ächt malerischen Style noch viel näher steht, und doch zeigt
der erste Blick auf die Deutschen und Niederländer den tiefen Unterschied
der Stylprinzipien. -- Es leuchtet nun ein, wie ganz anders die Malerei
durch ihr Stylgesetz zum Bildniß und zum geschichtlichen Stoffe gestellt
ist, als die Sculptur. Kann ja doch ihre ganze Auffassung Bildniß-artig
genannt und gesagt werden, sie müsse auch die in direct idealen oder sonst
allgemeineren Zusammenhang gestellte Persönlichkeit dem Porträt nähern;
zum geschichtlichen Stoffe aber verhält sich das Porträt wie der Baustein
zum Gebäude. Wo das Feld der Bildnerkunst sich zu Ende neigt, da
beginnt erst in ganzer Breite das Feld der Malerei.

§. 680.

Doch ist nicht die ganze Thierwelt für die Malerei darstellbar und nicht
jede Abweichung vom reinen Typus, Entstellung, Zerstörung der menschlichen
Gestalt läßt sich durch die Mittel der Malerei ästhetisch auflösen; auch ein
hoher Grad von Mechanistrung der Culturformen bereitet ihr schwere Hin-
dernisse.

Es ist der Mangel an wirklicher Bewegung und die Unmöglichkeit,
von der Gestalt auf den Ton abzulenken, was auch die hier bezeichneten
Grenzen steckt. Zu §. 295, 1. ist berührt, wie der Maler sehr kleine, un-
reif gebildete Thiere noch einzeln anbringen kann; eigentlich aber zählt
die untergeordnete Thierwelt nur in Massen und hier hat auch die Malerei
ein Ende, denn es ist klar, daß sie z. B. mit Insectenschwärmen nichts
anzufangen weiß. Bei Wasserthieren kommt hinzu, daß dem Auge das Ele-
ment nicht in dem Grade durchsichtig ist, um seine Bewohner darzustellen,
wenn auch ihre Gestalt und seelisches Leben so viel Bedeutung hätte, um
es zu thun; sie müssen daher, um sie zur Darstellung zu bringen, aus
ihrem Elemente gerissen und in anderweitigen Zusammenhang gebracht
werden. -- Daß Häßlichkeit der Bildung auch in der Thierwelt ein He-
bel des Furchtbaren und Komischen werden kann, versteht sich; das Häß-
liche der Zerstörung, Auflösung führt der §. der Kürze wegen erst bei der
menschlichen Welt auf. Was nun dieß höchste Gebiet des Schönen be-
trifft, so gilt trotz dem erweiterten Umfang auch für die Malerei die äu-
ßerste Grenze in Aufnahme der Racen, wie sie in §. 324, 2. bestimmt ist:
die stark gegen das Thierische hin abweichenden Formen werden an-
ders, als in Contrastwirkungen, nicht zu verwenden sein. Aber auch in

reinſte Reiz, die ſtreng gemeſſene Kraft der Linie in den Formen und
doch iſt Alles maleriſch individuell und bewegt; neben den Idealgeſtalten
breitet ſich zudem eine Welt von markirten, porträtartigen Charakteren
aus, die dem ächt maleriſchen Style noch viel näher ſteht, und doch zeigt
der erſte Blick auf die Deutſchen und Niederländer den tiefen Unterſchied
der Stylprinzipien. — Es leuchtet nun ein, wie ganz anders die Malerei
durch ihr Stylgeſetz zum Bildniß und zum geſchichtlichen Stoffe geſtellt
iſt, als die Sculptur. Kann ja doch ihre ganze Auffaſſung Bildniß-artig
genannt und geſagt werden, ſie müſſe auch die in direct idealen oder ſonſt
allgemeineren Zuſammenhang geſtellte Perſönlichkeit dem Porträt nähern;
zum geſchichtlichen Stoffe aber verhält ſich das Porträt wie der Bauſtein
zum Gebäude. Wo das Feld der Bildnerkunſt ſich zu Ende neigt, da
beginnt erſt in ganzer Breite das Feld der Malerei.

§. 680.

Doch iſt nicht die ganze Thierwelt für die Malerei darſtellbar und nicht
jede Abweichung vom reinen Typus, Entſtellung, Zerſtörung der menſchlichen
Geſtalt läßt ſich durch die Mittel der Malerei äſthetiſch auflöſen; auch ein
hoher Grad von Mechaniſtrung der Culturformen bereitet ihr ſchwere Hin-
derniſſe.

Es iſt der Mangel an wirklicher Bewegung und die Unmöglichkeit,
von der Geſtalt auf den Ton abzulenken, was auch die hier bezeichneten
Grenzen ſteckt. Zu §. 295, 1. iſt berührt, wie der Maler ſehr kleine, un-
reif gebildete Thiere noch einzeln anbringen kann; eigentlich aber zählt
die untergeordnete Thierwelt nur in Maſſen und hier hat auch die Malerei
ein Ende, denn es iſt klar, daß ſie z. B. mit Inſectenſchwärmen nichts
anzufangen weiß. Bei Waſſerthieren kommt hinzu, daß dem Auge das Ele-
ment nicht in dem Grade durchſichtig iſt, um ſeine Bewohner darzuſtellen,
wenn auch ihre Geſtalt und ſeeliſches Leben ſo viel Bedeutung hätte, um
es zu thun; ſie müſſen daher, um ſie zur Darſtellung zu bringen, aus
ihrem Elemente geriſſen und in anderweitigen Zuſammenhang gebracht
werden. — Daß Häßlichkeit der Bildung auch in der Thierwelt ein He-
bel des Furchtbaren und Komiſchen werden kann, verſteht ſich; das Häß-
liche der Zerſtörung, Auflöſung führt der §. der Kürze wegen erſt bei der
menſchlichen Welt auf. Was nun dieß höchſte Gebiet des Schönen be-
trifft, ſo gilt trotz dem erweiterten Umfang auch für die Malerei die äu-
ßerſte Grenze in Aufnahme der Racen, wie ſie in §. 324, 2. beſtimmt iſt:
die ſtark gegen das Thieriſche hin abweichenden Formen werden an-
ders, als in Contraſtwirkungen, nicht zu verwenden ſein. Aber auch in

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[589/0097] reinſte Reiz, die ſtreng gemeſſene Kraft der Linie in den Formen und doch iſt Alles maleriſch individuell und bewegt; neben den Idealgeſtalten breitet ſich zudem eine Welt von markirten, porträtartigen Charakteren aus, die dem ächt maleriſchen Style noch viel näher ſteht, und doch zeigt der erſte Blick auf die Deutſchen und Niederländer den tiefen Unterſchied der Stylprinzipien. — Es leuchtet nun ein, wie ganz anders die Malerei durch ihr Stylgeſetz zum Bildniß und zum geſchichtlichen Stoffe geſtellt iſt, als die Sculptur. Kann ja doch ihre ganze Auffaſſung Bildniß-artig genannt und geſagt werden, ſie müſſe auch die in direct idealen oder ſonſt allgemeineren Zuſammenhang geſtellte Perſönlichkeit dem Porträt nähern; zum geſchichtlichen Stoffe aber verhält ſich das Porträt wie der Bauſtein zum Gebäude. Wo das Feld der Bildnerkunſt ſich zu Ende neigt, da beginnt erſt in ganzer Breite das Feld der Malerei. §. 680. Doch iſt nicht die ganze Thierwelt für die Malerei darſtellbar und nicht jede Abweichung vom reinen Typus, Entſtellung, Zerſtörung der menſchlichen Geſtalt läßt ſich durch die Mittel der Malerei äſthetiſch auflöſen; auch ein hoher Grad von Mechaniſtrung der Culturformen bereitet ihr ſchwere Hin- derniſſe. Es iſt der Mangel an wirklicher Bewegung und die Unmöglichkeit, von der Geſtalt auf den Ton abzulenken, was auch die hier bezeichneten Grenzen ſteckt. Zu §. 295, 1. iſt berührt, wie der Maler ſehr kleine, un- reif gebildete Thiere noch einzeln anbringen kann; eigentlich aber zählt die untergeordnete Thierwelt nur in Maſſen und hier hat auch die Malerei ein Ende, denn es iſt klar, daß ſie z. B. mit Inſectenſchwärmen nichts anzufangen weiß. Bei Waſſerthieren kommt hinzu, daß dem Auge das Ele- ment nicht in dem Grade durchſichtig iſt, um ſeine Bewohner darzuſtellen, wenn auch ihre Geſtalt und ſeeliſches Leben ſo viel Bedeutung hätte, um es zu thun; ſie müſſen daher, um ſie zur Darſtellung zu bringen, aus ihrem Elemente geriſſen und in anderweitigen Zuſammenhang gebracht werden. — Daß Häßlichkeit der Bildung auch in der Thierwelt ein He- bel des Furchtbaren und Komiſchen werden kann, verſteht ſich; das Häß- liche der Zerſtörung, Auflöſung führt der §. der Kürze wegen erſt bei der menſchlichen Welt auf. Was nun dieß höchſte Gebiet des Schönen be- trifft, ſo gilt trotz dem erweiterten Umfang auch für die Malerei die äu- ßerſte Grenze in Aufnahme der Racen, wie ſie in §. 324, 2. beſtimmt iſt: die ſtark gegen das Thieriſche hin abweichenden Formen werden an- ders, als in Contraſtwirkungen, nicht zu verwenden ſein. Aber auch in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/97>, abgerufen am 29.03.2024.