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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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§. 681.

Wie die Malerei überhaupt von einem Geiste der Bewegtheit durchdrun-
gen ist, so wird sie im ächt malerischen Styl auch die wirkliche Bewegung
mit Vorliebe entfalten, wogegen der plastisch malerische neben dem Bilde statua-
rischer Ruhe, das ihm zwar vorzüglich zusagen muß, wohl auch reiche Bewe-
gung darstellen wird, doch so, daß sie von jener als einer in sie herüberwirken-
den Kraft gehalten ist. Beide aber haben die Behandlung zu vermeiden, welche
sich für die Bildnerkunst aus dem einzuhaltenden Gleichgewicht ergibt.

Der malerische Styl ist bewegt auch ohne eigentlich dargestellte Bewe-
gung, wie der plastische ruhig ist mitten in der Bewegung. Im Ueberschusse
des Ausdrucks über die Form liegt an sich eine gewisse Unruhe des Ver-
hältnisses, die sich der ganzen Haltung des Dargestellten auch in der Ruhe
mittheilen muß. Es ist ein Zittern, Strahlen, Wallen von innen heraus,
ein Fluthen des Lebens über die Ufer der festen Form, wie ja hier die ganze
Natur ein wogender, bebender Schleier ist, aus welchem eine Geister-
welt hervordämmert, hervorblitzt. Man betrachte nur die ganz ruhig ge-
haltenen Porträts eines Rubens, van Dyk, Rembrandt: sie haben alle
den geistreichen Wurf der Bewegtheit, als haben sie sich eben hergewen-
det, als schwebe eben ein Wort auf ihren Lippen; aber die Landschaft
selbst in ächt malerischer Behandlung sieht aus, als wollte sie eben etwas
sagen, oder als gebe sie ein Räthsel auf und halte seine Lösung noch zu-
rück. Aus diesem allgemeinen Charakter der Bewegtheit folgt denn auch,
daß die Malerei die wirkliche Bewegung (die sie ja in jeder Ausdehnung
wiederzugeben durch ihre Mittel befähigt ist, vergl. §. 651) ebenso prinzi-
piell darzustellen liebt, als die Bildnerkunst die Ruhe. M. Angelo ist
malerisch in der Bildhauerei, weil er allen Figuren den bewegten Wurf
gibt, er ist sculptorisch in der Malerei, weil er die Form, insbesondere
den Muskel, über das stellt, was die Farbe ausdrückt, allein die tiefe Be-
wegtheit und der Sturm der wirklichen Bewegung, der durch seine Ge-
mälde braust, weist ihnen dennoch ihre Stelle wieder entschieden im ma-
lerischen Gebiet an. Er kennt aber auch eine großartige Ruhe, wie seine
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria bewiesen: jene Stärke des
Formprinzips und diese statuarische Ruhe lassen trotz der übrigen Bewegt-
heit keinen Zweifel, daß er zur plastisch malerischen Richtung gehört.
Dieß Beispiel hat uns denn auf den Gegensatz des ächt malerischen und
des mehr plastischen Styls geführt, wie er auch in diesem Gebiete sich
aussprechen muß. Allerdings liegt es tief im Wesen des letzteren, daß
er die statuarische Ruhe edler und charaktervoller Gestalten liebt, aber es
fließt auch streng aus dem Wesen der Malerei, daß man nicht ebenso wie

§. 681.

Wie die Malerei überhaupt von einem Geiſte der Bewegtheit durchdrun-
gen iſt, ſo wird ſie im ächt maleriſchen Styl auch die wirkliche Bewegung
mit Vorliebe entfalten, wogegen der plaſtiſch maleriſche neben dem Bilde ſtatua-
riſcher Ruhe, das ihm zwar vorzüglich zuſagen muß, wohl auch reiche Bewe-
gung darſtellen wird, doch ſo, daß ſie von jener als einer in ſie herüberwirken-
den Kraft gehalten iſt. Beide aber haben die Behandlung zu vermeiden, welche
ſich für die Bildnerkunſt aus dem einzuhaltenden Gleichgewicht ergibt.

Der maleriſche Styl iſt bewegt auch ohne eigentlich dargeſtellte Bewe-
gung, wie der plaſtiſche ruhig iſt mitten in der Bewegung. Im Ueberſchuſſe
des Ausdrucks über die Form liegt an ſich eine gewiſſe Unruhe des Ver-
hältniſſes, die ſich der ganzen Haltung des Dargeſtellten auch in der Ruhe
mittheilen muß. Es iſt ein Zittern, Strahlen, Wallen von innen heraus,
ein Fluthen des Lebens über die Ufer der feſten Form, wie ja hier die ganze
Natur ein wogender, bebender Schleier iſt, aus welchem eine Geiſter-
welt hervordämmert, hervorblitzt. Man betrachte nur die ganz ruhig ge-
haltenen Porträts eines Rubens, van Dyk, Rembrandt: ſie haben alle
den geiſtreichen Wurf der Bewegtheit, als haben ſie ſich eben hergewen-
det, als ſchwebe eben ein Wort auf ihren Lippen; aber die Landſchaft
ſelbſt in ächt maleriſcher Behandlung ſieht aus, als wollte ſie eben etwas
ſagen, oder als gebe ſie ein Räthſel auf und halte ſeine Löſung noch zu-
rück. Aus dieſem allgemeinen Charakter der Bewegtheit folgt denn auch,
daß die Malerei die wirkliche Bewegung (die ſie ja in jeder Ausdehnung
wiederzugeben durch ihre Mittel befähigt iſt, vergl. §. 651) ebenſo prinzi-
piell darzuſtellen liebt, als die Bildnerkunſt die Ruhe. M. Angelo iſt
maleriſch in der Bildhauerei, weil er allen Figuren den bewegten Wurf
gibt, er iſt ſculptoriſch in der Malerei, weil er die Form, insbeſondere
den Muſkel, über das ſtellt, was die Farbe ausdrückt, allein die tiefe Be-
wegtheit und der Sturm der wirklichen Bewegung, der durch ſeine Ge-
mälde braust, weist ihnen dennoch ihre Stelle wieder entſchieden im ma-
leriſchen Gebiet an. Er kennt aber auch eine großartige Ruhe, wie ſeine
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria bewieſen: jene Stärke des
Formprinzips und dieſe ſtatuariſche Ruhe laſſen trotz der übrigen Bewegt-
heit keinen Zweifel, daß er zur plaſtiſch maleriſchen Richtung gehört.
Dieß Beiſpiel hat uns denn auf den Gegenſatz des ächt maleriſchen und
des mehr plaſtiſchen Styls geführt, wie er auch in dieſem Gebiete ſich
ausſprechen muß. Allerdings liegt es tief im Weſen des letzteren, daß
er die ſtatuariſche Ruhe edler und charaktervoller Geſtalten liebt, aber es
fließt auch ſtreng aus dem Weſen der Malerei, daß man nicht ebenſo wie

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[591/0099] §. 681. Wie die Malerei überhaupt von einem Geiſte der Bewegtheit durchdrun- gen iſt, ſo wird ſie im ächt maleriſchen Styl auch die wirkliche Bewegung mit Vorliebe entfalten, wogegen der plaſtiſch maleriſche neben dem Bilde ſtatua- riſcher Ruhe, das ihm zwar vorzüglich zuſagen muß, wohl auch reiche Bewe- gung darſtellen wird, doch ſo, daß ſie von jener als einer in ſie herüberwirken- den Kraft gehalten iſt. Beide aber haben die Behandlung zu vermeiden, welche ſich für die Bildnerkunſt aus dem einzuhaltenden Gleichgewicht ergibt. Der maleriſche Styl iſt bewegt auch ohne eigentlich dargeſtellte Bewe- gung, wie der plaſtiſche ruhig iſt mitten in der Bewegung. Im Ueberſchuſſe des Ausdrucks über die Form liegt an ſich eine gewiſſe Unruhe des Ver- hältniſſes, die ſich der ganzen Haltung des Dargeſtellten auch in der Ruhe mittheilen muß. Es iſt ein Zittern, Strahlen, Wallen von innen heraus, ein Fluthen des Lebens über die Ufer der feſten Form, wie ja hier die ganze Natur ein wogender, bebender Schleier iſt, aus welchem eine Geiſter- welt hervordämmert, hervorblitzt. Man betrachte nur die ganz ruhig ge- haltenen Porträts eines Rubens, van Dyk, Rembrandt: ſie haben alle den geiſtreichen Wurf der Bewegtheit, als haben ſie ſich eben hergewen- det, als ſchwebe eben ein Wort auf ihren Lippen; aber die Landſchaft ſelbſt in ächt maleriſcher Behandlung ſieht aus, als wollte ſie eben etwas ſagen, oder als gebe ſie ein Räthſel auf und halte ſeine Löſung noch zu- rück. Aus dieſem allgemeinen Charakter der Bewegtheit folgt denn auch, daß die Malerei die wirkliche Bewegung (die ſie ja in jeder Ausdehnung wiederzugeben durch ihre Mittel befähigt iſt, vergl. §. 651) ebenſo prinzi- piell darzuſtellen liebt, als die Bildnerkunſt die Ruhe. M. Angelo iſt maleriſch in der Bildhauerei, weil er allen Figuren den bewegten Wurf gibt, er iſt ſculptoriſch in der Malerei, weil er die Form, insbeſondere den Muſkel, über das ſtellt, was die Farbe ausdrückt, allein die tiefe Be- wegtheit und der Sturm der wirklichen Bewegung, der durch ſeine Ge- mälde braust, weist ihnen dennoch ihre Stelle wieder entſchieden im ma- leriſchen Gebiet an. Er kennt aber auch eine großartige Ruhe, wie ſeine Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria bewieſen: jene Stärke des Formprinzips und dieſe ſtatuariſche Ruhe laſſen trotz der übrigen Bewegt- heit keinen Zweifel, daß er zur plaſtiſch maleriſchen Richtung gehört. Dieß Beiſpiel hat uns denn auf den Gegenſatz des ächt maleriſchen und des mehr plaſtiſchen Styls geführt, wie er auch in dieſem Gebiete ſich ausſprechen muß. Allerdings liegt es tief im Weſen des letzteren, daß er die ſtatuariſche Ruhe edler und charaktervoller Geſtalten liebt, aber es fließt auch ſtreng aus dem Weſen der Malerei, daß man nicht ebenſo wie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/99>, abgerufen am 25.04.2024.