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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Malerei das System der einzelnen Bewegungen noch einen plastischen
Rhythmus bilden soll: man bemerke den edeln Antagonismus der Linien
zwischen dem linken Arm jenes Jünglings und dem ausgestreckten des
Alten. Die zwei andern Bilder führen zu einer interessanten näheren
Bestimmung. Drei Hauptgruppen treten auch hier auseinander, die
mittlere steigt pyramidalisch, aber die Spitze wird nicht oder nicht un-
zweifelhaft durch die Hauptperson gebildet. In den pontinischen Schnit-
tern mag der herrliche, ernste Bursche, der vorn in der Mitte zwischen
den Arbeiterinnen links und den tanzenden, pfeifenden Schnittern rechts
an sein Büffelgespann gelehnt steht, als die Hauptperson erscheinen, allein
die Männer auf dem Wagen und die höchste Figur, die Madonnen-artig
schöne Frau mit dem Kinde, sind durch die Wirkung der Höhe idealisirt:
da unterscheiden sich denn zwei Formen der höheren Bedeutung, die auf
verschiedene Weise durch die Symbolik des Raumes ausgezeichnet sind: die
Jugendkraft durch Stellung in der Mitte (wiewohl mit den Büffeln wie-
der einen herrlichen pyramidalen Gegensatz gegen die thierische Kraft
bildend), das reife Mannessalter und dann noch mehr weibliche Idealität
durch Stellung in der Höhe: ein belehrendes Beispiel des Zusammen-
laufens verschiedener Beziehungen; der Bursche gehört aber zur Basis
der Pyramide und drückt so aus, wie auf thätige Jugendkraft das Fami-
lienleben sich stützt und baut. In der Madonna dell' Arco ist das schöne
Mädchen mit dem Thyrsus-artigen, von Obstpflanzen umwundenen Stab
auf dem Karren als Hauptperson zu bezeichnen, aber ein junger Bursche
hebt sich noch über sie, wiewohl er entschieden unbedeutender ist. Dieß
Beispiel beweist allerdings, daß, wie die höchste Wichtigkeit nicht noth-
wendig die höchste Raumstellung mit sich bringt, so diese nicht nothwendig
als Ausdruck für jene anzusehen ist. Oft ist es einfach ein Bedürfniß
des Auges, was den Maler bestimmt, noch höher zu gehen, irgendwie
durch weiteren Linien-Aufbau befriedigender abzuschließen; ganz ohne Zu-
sammenhang mit innerer Bedeutung kann dieß zwar nicht sein, aber die-
selbe kann sich mit so zarten Fäden in Anderes, Weiteres verlieren, daß wir
diese Seite hier nicht weiter verfolgen, sondern nur soviel sagen können:
umgestoßen wird die Wahrheit des innern Zusammenhangs zwischen Dig-
nität und Höhe dadurch nicht, daß ein solcher Bautrieb zugleich auch mehr
nur formell wirkt, und wenn derselbe ohne fühlbare Beziehung auf
den Werth der Gegenstände allzu sichtbar auftritt, so geräth die Malerei
in frostigen, auf unerfreuliche Weise an plastische Herrschaft des Conturs
erinnernden Formalismus. Von gesuchter Pyramidal-Composition ist z. B.
Raphaels größeres Bild der heil. Familie in München nicht ganz frei-
zusprechen. -- Wir haben bisher nur von der Hauptperson oder Haupt-
gruppe gesprochen; der pyramidale Bautrieb wird sich aber bei mehreren

Malerei das Syſtem der einzelnen Bewegungen noch einen plaſtiſchen
Rhythmus bilden ſoll: man bemerke den edeln Antagoniſmus der Linien
zwiſchen dem linken Arm jenes Jünglings und dem ausgeſtreckten des
Alten. Die zwei andern Bilder führen zu einer intereſſanten näheren
Beſtimmung. Drei Hauptgruppen treten auch hier auseinander, die
mittlere ſteigt pyramidaliſch, aber die Spitze wird nicht oder nicht un-
zweifelhaft durch die Hauptperſon gebildet. In den pontiniſchen Schnit-
tern mag der herrliche, ernſte Burſche, der vorn in der Mitte zwiſchen
den Arbeiterinnen links und den tanzenden, pfeifenden Schnittern rechts
an ſein Büffelgeſpann gelehnt ſteht, als die Hauptperſon erſcheinen, allein
die Männer auf dem Wagen und die höchſte Figur, die Madonnen-artig
ſchöne Frau mit dem Kinde, ſind durch die Wirkung der Höhe idealiſirt:
da unterſcheiden ſich denn zwei Formen der höheren Bedeutung, die auf
verſchiedene Weiſe durch die Symbolik des Raumes ausgezeichnet ſind: die
Jugendkraft durch Stellung in der Mitte (wiewohl mit den Büffeln wie-
der einen herrlichen pyramidalen Gegenſatz gegen die thieriſche Kraft
bildend), das reife Mannessalter und dann noch mehr weibliche Idealität
durch Stellung in der Höhe: ein belehrendes Beiſpiel des Zuſammen-
laufens verſchiedener Beziehungen; der Burſche gehört aber zur Baſis
der Pyramide und drückt ſo aus, wie auf thätige Jugendkraft das Fami-
lienleben ſich ſtützt und baut. In der Madonna dell’ Arco iſt das ſchöne
Mädchen mit dem Thyrſus-artigen, von Obſtpflanzen umwundenen Stab
auf dem Karren als Hauptperſon zu bezeichnen, aber ein junger Burſche
hebt ſich noch über ſie, wiewohl er entſchieden unbedeutender iſt. Dieß
Beiſpiel beweist allerdings, daß, wie die höchſte Wichtigkeit nicht noth-
wendig die höchſte Raumſtellung mit ſich bringt, ſo dieſe nicht nothwendig
als Ausdruck für jene anzuſehen iſt. Oft iſt es einfach ein Bedürfniß
des Auges, was den Maler beſtimmt, noch höher zu gehen, irgendwie
durch weiteren Linien-Aufbau befriedigender abzuſchließen; ganz ohne Zu-
ſammenhang mit innerer Bedeutung kann dieß zwar nicht ſein, aber die-
ſelbe kann ſich mit ſo zarten Fäden in Anderes, Weiteres verlieren, daß wir
dieſe Seite hier nicht weiter verfolgen, ſondern nur ſoviel ſagen können:
umgeſtoßen wird die Wahrheit des innern Zuſammenhangs zwiſchen Dig-
nität und Höhe dadurch nicht, daß ein ſolcher Bautrieb zugleich auch mehr
nur formell wirkt, und wenn derſelbe ohne fühlbare Beziehung auf
den Werth der Gegenſtände allzu ſichtbar auftritt, ſo geräth die Malerei
in froſtigen, auf unerfreuliche Weiſe an plaſtiſche Herrſchaft des Conturs
erinnernden Formaliſmus. Von geſuchter Pyramidal-Compoſition iſt z. B.
Raphaels größeres Bild der heil. Familie in München nicht ganz frei-
zuſprechen. — Wir haben bisher nur von der Hauptperſon oder Haupt-
gruppe geſprochen; der pyramidale Bautrieb wird ſich aber bei mehreren

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[629/0137] Malerei das Syſtem der einzelnen Bewegungen noch einen plaſtiſchen Rhythmus bilden ſoll: man bemerke den edeln Antagoniſmus der Linien zwiſchen dem linken Arm jenes Jünglings und dem ausgeſtreckten des Alten. Die zwei andern Bilder führen zu einer intereſſanten näheren Beſtimmung. Drei Hauptgruppen treten auch hier auseinander, die mittlere ſteigt pyramidaliſch, aber die Spitze wird nicht oder nicht un- zweifelhaft durch die Hauptperſon gebildet. In den pontiniſchen Schnit- tern mag der herrliche, ernſte Burſche, der vorn in der Mitte zwiſchen den Arbeiterinnen links und den tanzenden, pfeifenden Schnittern rechts an ſein Büffelgeſpann gelehnt ſteht, als die Hauptperſon erſcheinen, allein die Männer auf dem Wagen und die höchſte Figur, die Madonnen-artig ſchöne Frau mit dem Kinde, ſind durch die Wirkung der Höhe idealiſirt: da unterſcheiden ſich denn zwei Formen der höheren Bedeutung, die auf verſchiedene Weiſe durch die Symbolik des Raumes ausgezeichnet ſind: die Jugendkraft durch Stellung in der Mitte (wiewohl mit den Büffeln wie- der einen herrlichen pyramidalen Gegenſatz gegen die thieriſche Kraft bildend), das reife Mannessalter und dann noch mehr weibliche Idealität durch Stellung in der Höhe: ein belehrendes Beiſpiel des Zuſammen- laufens verſchiedener Beziehungen; der Burſche gehört aber zur Baſis der Pyramide und drückt ſo aus, wie auf thätige Jugendkraft das Fami- lienleben ſich ſtützt und baut. In der Madonna dell’ Arco iſt das ſchöne Mädchen mit dem Thyrſus-artigen, von Obſtpflanzen umwundenen Stab auf dem Karren als Hauptperſon zu bezeichnen, aber ein junger Burſche hebt ſich noch über ſie, wiewohl er entſchieden unbedeutender iſt. Dieß Beiſpiel beweist allerdings, daß, wie die höchſte Wichtigkeit nicht noth- wendig die höchſte Raumſtellung mit ſich bringt, ſo dieſe nicht nothwendig als Ausdruck für jene anzuſehen iſt. Oft iſt es einfach ein Bedürfniß des Auges, was den Maler beſtimmt, noch höher zu gehen, irgendwie durch weiteren Linien-Aufbau befriedigender abzuſchließen; ganz ohne Zu- ſammenhang mit innerer Bedeutung kann dieß zwar nicht ſein, aber die- ſelbe kann ſich mit ſo zarten Fäden in Anderes, Weiteres verlieren, daß wir dieſe Seite hier nicht weiter verfolgen, ſondern nur ſoviel ſagen können: umgeſtoßen wird die Wahrheit des innern Zuſammenhangs zwiſchen Dig- nität und Höhe dadurch nicht, daß ein ſolcher Bautrieb zugleich auch mehr nur formell wirkt, und wenn derſelbe ohne fühlbare Beziehung auf den Werth der Gegenſtände allzu ſichtbar auftritt, ſo geräth die Malerei in froſtigen, auf unerfreuliche Weiſe an plaſtiſche Herrſchaft des Conturs erinnernden Formaliſmus. Von geſuchter Pyramidal-Compoſition iſt z. B. Raphaels größeres Bild der heil. Familie in München nicht ganz frei- zuſprechen. — Wir haben bisher nur von der Hauptperſon oder Haupt- gruppe geſprochen; der pyramidale Bautrieb wird ſich aber bei mehreren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/137>, abgerufen am 20.04.2024.