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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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lichen Lebens sogleich das Ganze seiner Erscheinung von der Kunst darge-
stellt werde? Es mußte der Eintritt der Malerei noch abgehalten und
gezeigt werden, warum jener erste Schritt nothwendig noch auf architek-
turartige Isolirung einer Seite der Erscheinung des nun ergriffenen Stoffes
sich beschränken müsse. Es war eine freie Beschränkung; die Bildnerkunst
steht als reine, ganze, selbständige Kunst im vollsten Sinn auf eigenen
Füßen, und doch wies sie durchaus vorwärts nach ihrer farbenreichen
Schwester, der sie die Früchte einer erfüllten Vorbedingung entgegenträgt,
überall war ein Drang sichtbar, ihre Mängel zu überwinden: in ganz be-
rechtigter Weise trat er hervor in der bloßen Andeutung der Farbe, in
gewissen malerischen Hülfen der Licht- und Schattenwirkung (§. 608), im
richtig behandelten Relief; verfrüht und unberechtigt in der vollen Poly-
chromie, im malerisch gehaltenen Relief, in einem plastisch unzulässigen
Maaße des Naturalismus und Individualismus, in allzu affectvoller Be-
wegtheit. Ihre ursprüngliche Vorübung aber hat die Malerei wie alle
Kunst im Spiele, und zwar natürlich in demselben Gebiete verschönern-
den Schmucks wie die Sculptur, nur einem andern Zweige. Zwei For-
men sind es ohne Zweifel gewesen, worin diese Kunst im Keime auftrat:
die eine bestehend in einem Flechten, Abnähen, Weben, Wirken, das von
solchen unorganisch, geometrisch verfahrenden, arabeskenartigen Motiven,
wie sie dann als Ornament auch an die Baukunst übergiengen (vergl. zu §. 573
S. 247), allmählich zu schüchternen Versuchen der Nachbildung des Or-
ganischen fortschritt. Es ist dieß überhaupt eine der frühesten Aeußerun-
gen des menschlichen Kunsttriebs, die wir noch heute bei allen wilden Völ-
kern finden; die Muster sind bunt, vereinigen das Chromische und Gra-
phische. Dagegen begann nun das graphische Element für sich mit einer
andern Form: dem spielenden Einritzen von Zeichnungen auf weiche Stoffe
(Blätter, Wachs, Holz,) das sich nach gewonnener Uebung auch an harte
Flächen wagte, wie wir dieß in jenem Verfahren finden, das den eigent-
lichen Koilanaglyphen (reliefs en creux) in Aegypten vorausgieng (vergl.
§. 611 Anm.), eine Technik, die aber auch in Griechenland sicher ursprüng-
lich bestand und bekanntlich bis in die späteste Zeit als Skizzenzeichnung,
in Marmorplättchen eingegraben (Monogrammen), sich erhalten hat. Die
Farbe trat sodann wieder hinzu: man füllte die Umrisse zunächst mit ein-
fachen Farben aus und hatte so Monochrome auf Stein; in Aegypten
gieng man von da wieder zur Sculptur zurück, indem man die Formen
innerhalb der Umrisse plastisch heraushob. Von diesen Anfängen der
Malerei als selbständiger Kunst ist das Anmalen der gegebenen Architektur
und Sculptur zu unterscheiden, aber auch ausdrücklich noch einmal anzu-
führen als Vorübung in der Farbe, die mit der graphischen Vorübung erst
sich vereinigen sollte.


lichen Lebens ſogleich das Ganze ſeiner Erſcheinung von der Kunſt darge-
ſtellt werde? Es mußte der Eintritt der Malerei noch abgehalten und
gezeigt werden, warum jener erſte Schritt nothwendig noch auf architek-
turartige Iſolirung einer Seite der Erſcheinung des nun ergriffenen Stoffes
ſich beſchränken müſſe. Es war eine freie Beſchränkung; die Bildnerkunſt
ſteht als reine, ganze, ſelbſtändige Kunſt im vollſten Sinn auf eigenen
Füßen, und doch wies ſie durchaus vorwärts nach ihrer farbenreichen
Schweſter, der ſie die Früchte einer erfüllten Vorbedingung entgegenträgt,
überall war ein Drang ſichtbar, ihre Mängel zu überwinden: in ganz be-
rechtigter Weiſe trat er hervor in der bloßen Andeutung der Farbe, in
gewiſſen maleriſchen Hülfen der Licht- und Schattenwirkung (§. 608), im
richtig behandelten Relief; verfrüht und unberechtigt in der vollen Poly-
chromie, im maleriſch gehaltenen Relief, in einem plaſtiſch unzuläſſigen
Maaße des Naturaliſmus und Individualiſmus, in allzu affectvoller Be-
wegtheit. Ihre urſprüngliche Vorübung aber hat die Malerei wie alle
Kunſt im Spiele, und zwar natürlich in demſelben Gebiete verſchönern-
den Schmucks wie die Sculptur, nur einem andern Zweige. Zwei For-
men ſind es ohne Zweifel geweſen, worin dieſe Kunſt im Keime auftrat:
die eine beſtehend in einem Flechten, Abnähen, Weben, Wirken, das von
ſolchen unorganiſch, geometriſch verfahrenden, arabeskenartigen Motiven,
wie ſie dann als Ornament auch an die Baukunſt übergiengen (vergl. zu §. 573
S. 247), allmählich zu ſchüchternen Verſuchen der Nachbildung des Or-
ganiſchen fortſchritt. Es iſt dieß überhaupt eine der früheſten Aeußerun-
gen des menſchlichen Kunſttriebs, die wir noch heute bei allen wilden Völ-
kern finden; die Muſter ſind bunt, vereinigen das Chromiſche und Gra-
phiſche. Dagegen begann nun das graphiſche Element für ſich mit einer
andern Form: dem ſpielenden Einritzen von Zeichnungen auf weiche Stoffe
(Blätter, Wachs, Holz,) das ſich nach gewonnener Uebung auch an harte
Flächen wagte, wie wir dieß in jenem Verfahren finden, das den eigent-
lichen Koilanaglyphen (reliefs en creux) in Aegypten vorausgieng (vergl.
§. 611 Anm.), eine Technik, die aber auch in Griechenland ſicher urſprüng-
lich beſtand und bekanntlich bis in die ſpäteſte Zeit als Skizzenzeichnung,
in Marmorplättchen eingegraben (Monogrammen), ſich erhalten hat. Die
Farbe trat ſodann wieder hinzu: man füllte die Umriſſe zunächſt mit ein-
fachen Farben aus und hatte ſo Monochrome auf Stein; in Aegypten
gieng man von da wieder zur Sculptur zurück, indem man die Formen
innerhalb der Umriſſe plaſtiſch heraushob. Von dieſen Anfängen der
Malerei als ſelbſtändiger Kunſt iſt das Anmalen der gegebenen Architektur
und Sculptur zu unterſcheiden, aber auch ausdrücklich noch einmal anzu-
führen als Vorübung in der Farbe, die mit der graphiſchen Vorübung erſt
ſich vereinigen ſollte.


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[506/0014] lichen Lebens ſogleich das Ganze ſeiner Erſcheinung von der Kunſt darge- ſtellt werde? Es mußte der Eintritt der Malerei noch abgehalten und gezeigt werden, warum jener erſte Schritt nothwendig noch auf architek- turartige Iſolirung einer Seite der Erſcheinung des nun ergriffenen Stoffes ſich beſchränken müſſe. Es war eine freie Beſchränkung; die Bildnerkunſt ſteht als reine, ganze, ſelbſtändige Kunſt im vollſten Sinn auf eigenen Füßen, und doch wies ſie durchaus vorwärts nach ihrer farbenreichen Schweſter, der ſie die Früchte einer erfüllten Vorbedingung entgegenträgt, überall war ein Drang ſichtbar, ihre Mängel zu überwinden: in ganz be- rechtigter Weiſe trat er hervor in der bloßen Andeutung der Farbe, in gewiſſen maleriſchen Hülfen der Licht- und Schattenwirkung (§. 608), im richtig behandelten Relief; verfrüht und unberechtigt in der vollen Poly- chromie, im maleriſch gehaltenen Relief, in einem plaſtiſch unzuläſſigen Maaße des Naturaliſmus und Individualiſmus, in allzu affectvoller Be- wegtheit. Ihre urſprüngliche Vorübung aber hat die Malerei wie alle Kunſt im Spiele, und zwar natürlich in demſelben Gebiete verſchönern- den Schmucks wie die Sculptur, nur einem andern Zweige. Zwei For- men ſind es ohne Zweifel geweſen, worin dieſe Kunſt im Keime auftrat: die eine beſtehend in einem Flechten, Abnähen, Weben, Wirken, das von ſolchen unorganiſch, geometriſch verfahrenden, arabeskenartigen Motiven, wie ſie dann als Ornament auch an die Baukunſt übergiengen (vergl. zu §. 573 S. 247), allmählich zu ſchüchternen Verſuchen der Nachbildung des Or- ganiſchen fortſchritt. Es iſt dieß überhaupt eine der früheſten Aeußerun- gen des menſchlichen Kunſttriebs, die wir noch heute bei allen wilden Völ- kern finden; die Muſter ſind bunt, vereinigen das Chromiſche und Gra- phiſche. Dagegen begann nun das graphiſche Element für ſich mit einer andern Form: dem ſpielenden Einritzen von Zeichnungen auf weiche Stoffe (Blätter, Wachs, Holz,) das ſich nach gewonnener Uebung auch an harte Flächen wagte, wie wir dieß in jenem Verfahren finden, das den eigent- lichen Koilanaglyphen (reliefs en creux) in Aegypten vorausgieng (vergl. §. 611 Anm.), eine Technik, die aber auch in Griechenland ſicher urſprüng- lich beſtand und bekanntlich bis in die ſpäteſte Zeit als Skizzenzeichnung, in Marmorplättchen eingegraben (Monogrammen), ſich erhalten hat. Die Farbe trat ſodann wieder hinzu: man füllte die Umriſſe zunächſt mit ein- fachen Farben aus und hatte ſo Monochrome auf Stein; in Aegypten gieng man von da wieder zur Sculptur zurück, indem man die Formen innerhalb der Umriſſe plaſtiſch heraushob. Von dieſen Anfängen der Malerei als ſelbſtändiger Kunſt iſt das Anmalen der gegebenen Architektur und Sculptur zu unterſcheiden, aber auch ausdrücklich noch einmal anzu- führen als Vorübung in der Farbe, die mit der graphiſchen Vorübung erſt ſich vereinigen ſollte.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/14>, abgerufen am 28.03.2024.