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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Menschen mehr ein historischer Glaube daran zugemuthet wird und also
keiner mehr eine solche Zumuthung zu widerlegen hat. Die Gestalten
dieser Kreise haben daher die Bedeutung bekommen, als wären sie reine,
nur zu ästhetischem Zweck erfundene Dichtung. Von den dichterischen
Erzeugnissen, welche der Maler zum Stoffe wählt, haben wir in Anm. 1
verlangt, daß sie Solches enthalten, was wenigstens Object möglicher
Erfahrung ist. Jetzt aber müssen wir noch eine andere Form einführen:
es gibt ein Verhalten des Geistes, das halb ironisch, halb Täuschung,
eine Art freier, spielender Selbsttäuschung ist. So lassen sich die classischen
und romantischen Fabelgeburten auffassen; dann ist der richtige Standpunct
gefunden, um ohne Verwicklung mit dem, was uns Grundgesetz des
Bewußtseins geworden ist, den großen Vortheil eines geläufigen, keiner
Erklärung bedürftigen Typus zu benützen. Man meine nicht, wir treten
nun in Widerspruch gegen unsre eigene obige Behauptung, daß wahre
ästhetische Lebensfähigkeit einen Glauben, wenigstens eine Möglichkeit des
Glaubens nach den Gesetzen der Erfahrung voraussetze. Die Sache
wendet sich hier anders: das eigentliche Object der Darstellung ist ein
rein Menschliches, Lebensfähiges, das die Wärme der Wirklichkeit hat, dem
aber, um ihm eine gewisse Erhöhung zu geben, eine höhere Stylisirung zu
motiviren, ein mythischer Name geliehen wird, wie z. B. Titian die
höchste Schönheit weiblicher Gestalt in einer nackten Gestalt enthüllt, die
nun zu viel Realität hat, um ungetauft zu bleiben, und zu viel Allgemein-
heit im besten Sinne der Idealität, um einen historischen Namen zu
bekommen: so tauft er sie eben Venus. Es ist also der Inhalt ein ganz
Lebenswarmes, Menschenmögliches, Glaubwürdiges und ihn umspielt nur
erhöhend der mythische Begriff. Die freie Benützung des Mythischen
wird jedoch weiter gehen, sie wird Eigenschaften, Gestaltung, Handlung
ganz in der Region des Wunders, des aufgehobenen Naturgesetzes halten.
Das sind dann anmuthige Spiele der Kunst, die aber doch durch die
ganze Behandlung zeigen müssen, daß ihnen das Wunder nur ein Motiv
ist. um menschlich Wahres auszusprechen. Das Fabelhafte ist also dabei
humoristisch in einen bloßen Hebel des naturgemäß Schönen verwandelt.
Zu gegebenen Fabeln, die einst geglaubt waren, mag nun die Phantasie
des Künstlers in freiem Erguß neue ersinnen, wenn nur die Romantik
den Boden der innern Wahrheit nicht verläßt. -- Man sieht, daß durch
diese Unterscheidungen der Lehre von der Genre-Malerei vorgearbeitet ist,
denn ein höheres Genre werden solche Gemälde bilden, nicht aber eine
höhere Historie.


Menſchen mehr ein hiſtoriſcher Glaube daran zugemuthet wird und alſo
keiner mehr eine ſolche Zumuthung zu widerlegen hat. Die Geſtalten
dieſer Kreiſe haben daher die Bedeutung bekommen, als wären ſie reine,
nur zu äſthetiſchem Zweck erfundene Dichtung. Von den dichteriſchen
Erzeugniſſen, welche der Maler zum Stoffe wählt, haben wir in Anm. 1
verlangt, daß ſie Solches enthalten, was wenigſtens Object möglicher
Erfahrung iſt. Jetzt aber müſſen wir noch eine andere Form einführen:
es gibt ein Verhalten des Geiſtes, das halb ironiſch, halb Täuſchung,
eine Art freier, ſpielender Selbſttäuſchung iſt. So laſſen ſich die claſſiſchen
und romantiſchen Fabelgeburten auffaſſen; dann iſt der richtige Standpunct
gefunden, um ohne Verwicklung mit dem, was uns Grundgeſetz des
Bewußtſeins geworden iſt, den großen Vortheil eines geläufigen, keiner
Erklärung bedürftigen Typus zu benützen. Man meine nicht, wir treten
nun in Widerſpruch gegen unſre eigene obige Behauptung, daß wahre
äſthetiſche Lebensfähigkeit einen Glauben, wenigſtens eine Möglichkeit des
Glaubens nach den Geſetzen der Erfahrung vorausſetze. Die Sache
wendet ſich hier anders: das eigentliche Object der Darſtellung iſt ein
rein Menſchliches, Lebensfähiges, das die Wärme der Wirklichkeit hat, dem
aber, um ihm eine gewiſſe Erhöhung zu geben, eine höhere Styliſirung zu
motiviren, ein mythiſcher Name geliehen wird, wie z. B. Titian die
höchſte Schönheit weiblicher Geſtalt in einer nackten Geſtalt enthüllt, die
nun zu viel Realität hat, um ungetauft zu bleiben, und zu viel Allgemein-
heit im beſten Sinne der Idealität, um einen hiſtoriſchen Namen zu
bekommen: ſo tauft er ſie eben Venus. Es iſt alſo der Inhalt ein ganz
Lebenswarmes, Menſchenmögliches, Glaubwürdiges und ihn umſpielt nur
erhöhend der mythiſche Begriff. Die freie Benützung des Mythiſchen
wird jedoch weiter gehen, ſie wird Eigenſchaften, Geſtaltung, Handlung
ganz in der Region des Wunders, des aufgehobenen Naturgeſetzes halten.
Das ſind dann anmuthige Spiele der Kunſt, die aber doch durch die
ganze Behandlung zeigen müſſen, daß ihnen das Wunder nur ein Motiv
iſt. um menſchlich Wahres auszuſprechen. Das Fabelhafte iſt alſo dabei
humoriſtiſch in einen bloßen Hebel des naturgemäß Schönen verwandelt.
Zu gegebenen Fabeln, die einſt geglaubt waren, mag nun die Phantaſie
des Künſtlers in freiem Erguß neue erſinnen, wenn nur die Romantik
den Boden der innern Wahrheit nicht verläßt. — Man ſieht, daß durch
dieſe Unterſcheidungen der Lehre von der Genre-Malerei vorgearbeitet iſt,
denn ein höheres Genre werden ſolche Gemälde bilden, nicht aber eine
höhere Hiſtorie.


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[644/0152] Menſchen mehr ein hiſtoriſcher Glaube daran zugemuthet wird und alſo keiner mehr eine ſolche Zumuthung zu widerlegen hat. Die Geſtalten dieſer Kreiſe haben daher die Bedeutung bekommen, als wären ſie reine, nur zu äſthetiſchem Zweck erfundene Dichtung. Von den dichteriſchen Erzeugniſſen, welche der Maler zum Stoffe wählt, haben wir in Anm. 1 verlangt, daß ſie Solches enthalten, was wenigſtens Object möglicher Erfahrung iſt. Jetzt aber müſſen wir noch eine andere Form einführen: es gibt ein Verhalten des Geiſtes, das halb ironiſch, halb Täuſchung, eine Art freier, ſpielender Selbſttäuſchung iſt. So laſſen ſich die claſſiſchen und romantiſchen Fabelgeburten auffaſſen; dann iſt der richtige Standpunct gefunden, um ohne Verwicklung mit dem, was uns Grundgeſetz des Bewußtſeins geworden iſt, den großen Vortheil eines geläufigen, keiner Erklärung bedürftigen Typus zu benützen. Man meine nicht, wir treten nun in Widerſpruch gegen unſre eigene obige Behauptung, daß wahre äſthetiſche Lebensfähigkeit einen Glauben, wenigſtens eine Möglichkeit des Glaubens nach den Geſetzen der Erfahrung vorausſetze. Die Sache wendet ſich hier anders: das eigentliche Object der Darſtellung iſt ein rein Menſchliches, Lebensfähiges, das die Wärme der Wirklichkeit hat, dem aber, um ihm eine gewiſſe Erhöhung zu geben, eine höhere Styliſirung zu motiviren, ein mythiſcher Name geliehen wird, wie z. B. Titian die höchſte Schönheit weiblicher Geſtalt in einer nackten Geſtalt enthüllt, die nun zu viel Realität hat, um ungetauft zu bleiben, und zu viel Allgemein- heit im beſten Sinne der Idealität, um einen hiſtoriſchen Namen zu bekommen: ſo tauft er ſie eben Venus. Es iſt alſo der Inhalt ein ganz Lebenswarmes, Menſchenmögliches, Glaubwürdiges und ihn umſpielt nur erhöhend der mythiſche Begriff. Die freie Benützung des Mythiſchen wird jedoch weiter gehen, ſie wird Eigenſchaften, Geſtaltung, Handlung ganz in der Region des Wunders, des aufgehobenen Naturgeſetzes halten. Das ſind dann anmuthige Spiele der Kunſt, die aber doch durch die ganze Behandlung zeigen müſſen, daß ihnen das Wunder nur ein Motiv iſt. um menſchlich Wahres auszuſprechen. Das Fabelhafte iſt alſo dabei humoriſtiſch in einen bloßen Hebel des naturgemäß Schönen verwandelt. Zu gegebenen Fabeln, die einſt geglaubt waren, mag nun die Phantaſie des Künſtlers in freiem Erguß neue erſinnen, wenn nur die Romantik den Boden der innern Wahrheit nicht verläßt. — Man ſieht, daß durch dieſe Unterſcheidungen der Lehre von der Genre-Malerei vorgearbeitet iſt, denn ein höheres Genre werden ſolche Gemälde bilden, nicht aber eine höhere Hiſtorie.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/152>, abgerufen am 20.04.2024.