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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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a. Die Landschaft.
§. 698.

1.

Die Landschaftmalerei idealisirt eine gegebene Einheit von Erscheinungen
der unorganischen und vegetabilischen Natur zum Ausdruck einer geahnten See-
lenstimmung. Ihr allgemeiner Charakter ist daher ein musikalischer oder lyri-
2.scher. Thierisches und menschliches Leben nebst Wohnungen des Menschen,
das diesem Ganzen als sog. Staffage beigegeben wird, darf für sich kein selb-
ständiges Interesse in Anspruch nehmen, wenn nicht eine unklare Vermischung
(vergl. §. 696) entstehen soll.

1. "Eine gegebene Einheit": dieß schließt eine künstlerische Umstellung
des vorgefundenen Naturschönen nicht aus, besagt aber allerdings, daß
das völlig freie Componiren, das nur einzelne Motive aus der Natur
entlehnt, nur einzelne Studien benützt, nicht eigentlich das Wahre sei.
Das rechte Verhältniß ist auch hier, wenn die künstlerische Schöpfung
damit beginnt, daß von einem mit oder ohne Suchen gefundenen Stand-
orte in der Weise der Zufälligkeit das Bild eines schönen Ganzen sich
der Anschauung darbietet. Das Kunstwerk des Landschaftmalers bleibt
darum noch immer schlechthin verschieden von der Natur-Copie des bloßen
Veduten-Malers, wiewohl es übrigens auch im letzteren Gebiete noch
einen tiefen Unterschied des Geistreicheren und des Sklavischen in der
Behandlung gibt. Was aber jenes unterscheidet, ist die Zusammenwirkung
des Ganzen zum Ausdruck einer Seelenstimmung; der §. sagt: einer ge-
ahnten und weist damit zunächst negativ jede Art falscher Deutlichkeit ab.
Die Empfindung, die wir in eine Landschaft legen, scheint wohl in den
entschiedensten Fällen eine ganz bestimmte und in Worte übersetzbare:
der reine Frühlingstag mit den klaren Lüften und der Frische aller Kräfte,
die so eben aus einem Verjüngungs-Bade gestiegen scheinen, lacht uns
entgegen wie ein heiteres jugendliches Antlitz, die Verwüstungen des
Sturms, des Regens gemahnen uns wie ein tiefes Weinen der Natur,
wie schmerzvolle, gramdurchfurchte Menschenzüge; der Morgen spannt an,
der Abend spannt erleichternd ab, die Mondscheinlandschaft löst in schwe-
bende, schmelzende Empfindungen auf. Allein nicht nur verliert sich auch
bei solcher Bestimmtheit doch der Hauptton in eine Vielheit von unterge-
ordneten Tönen, worin das Gefühl in Melodien verschwebt, von denen
sich keine bestimmte Rechenschaft mehr geben läßt, sondern unendliche land-
schaftliche Erscheinungen sind voll Stimmung und wir haben dafür doch

α. Die Landſchaft.
§. 698.

1.

Die Landſchaftmalerei idealiſirt eine gegebene Einheit von Erſcheinungen
der unorganiſchen und vegetabiliſchen Natur zum Ausdruck einer geahnten See-
lenſtimmung. Ihr allgemeiner Charakter iſt daher ein muſikaliſcher oder lyri-
2.ſcher. Thieriſches und menſchliches Leben nebſt Wohnungen des Menſchen,
das dieſem Ganzen als ſog. Staffage beigegeben wird, darf für ſich kein ſelb-
ſtändiges Intereſſe in Anſpruch nehmen, wenn nicht eine unklare Vermiſchung
(vergl. §. 696) entſtehen ſoll.

1. „Eine gegebene Einheit“: dieß ſchließt eine künſtleriſche Umſtellung
des vorgefundenen Naturſchönen nicht aus, beſagt aber allerdings, daß
das völlig freie Componiren, das nur einzelne Motive aus der Natur
entlehnt, nur einzelne Studien benützt, nicht eigentlich das Wahre ſei.
Das rechte Verhältniß iſt auch hier, wenn die künſtleriſche Schöpfung
damit beginnt, daß von einem mit oder ohne Suchen gefundenen Stand-
orte in der Weiſe der Zufälligkeit das Bild eines ſchönen Ganzen ſich
der Anſchauung darbietet. Das Kunſtwerk des Landſchaftmalers bleibt
darum noch immer ſchlechthin verſchieden von der Natur-Copie des bloßen
Veduten-Malers, wiewohl es übrigens auch im letzteren Gebiete noch
einen tiefen Unterſchied des Geiſtreicheren und des Sklaviſchen in der
Behandlung gibt. Was aber jenes unterſcheidet, iſt die Zuſammenwirkung
des Ganzen zum Ausdruck einer Seelenſtimmung; der §. ſagt: einer ge-
ahnten und weist damit zunächſt negativ jede Art falſcher Deutlichkeit ab.
Die Empfindung, die wir in eine Landſchaft legen, ſcheint wohl in den
entſchiedenſten Fällen eine ganz beſtimmte und in Worte überſetzbare:
der reine Frühlingstag mit den klaren Lüften und der Friſche aller Kräfte,
die ſo eben aus einem Verjüngungs-Bade geſtiegen ſcheinen, lacht uns
entgegen wie ein heiteres jugendliches Antlitz, die Verwüſtungen des
Sturms, des Regens gemahnen uns wie ein tiefes Weinen der Natur,
wie ſchmerzvolle, gramdurchfurchte Menſchenzüge; der Morgen ſpannt an,
der Abend ſpannt erleichternd ab, die Mondſcheinlandſchaft löst in ſchwe-
bende, ſchmelzende Empfindungen auf. Allein nicht nur verliert ſich auch
bei ſolcher Beſtimmtheit doch der Hauptton in eine Vielheit von unterge-
ordneten Tönen, worin das Gefühl in Melodien verſchwebt, von denen
ſich keine beſtimmte Rechenſchaft mehr geben läßt, ſondern unendliche land-
ſchaftliche Erſcheinungen ſind voll Stimmung und wir haben dafür doch

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[648/0156] α. Die Landſchaft. §. 698. Die Landſchaftmalerei idealiſirt eine gegebene Einheit von Erſcheinungen der unorganiſchen und vegetabiliſchen Natur zum Ausdruck einer geahnten See- lenſtimmung. Ihr allgemeiner Charakter iſt daher ein muſikaliſcher oder lyri- ſcher. Thieriſches und menſchliches Leben nebſt Wohnungen des Menſchen, das dieſem Ganzen als ſog. Staffage beigegeben wird, darf für ſich kein ſelb- ſtändiges Intereſſe in Anſpruch nehmen, wenn nicht eine unklare Vermiſchung (vergl. §. 696) entſtehen ſoll. 1. „Eine gegebene Einheit“: dieß ſchließt eine künſtleriſche Umſtellung des vorgefundenen Naturſchönen nicht aus, beſagt aber allerdings, daß das völlig freie Componiren, das nur einzelne Motive aus der Natur entlehnt, nur einzelne Studien benützt, nicht eigentlich das Wahre ſei. Das rechte Verhältniß iſt auch hier, wenn die künſtleriſche Schöpfung damit beginnt, daß von einem mit oder ohne Suchen gefundenen Stand- orte in der Weiſe der Zufälligkeit das Bild eines ſchönen Ganzen ſich der Anſchauung darbietet. Das Kunſtwerk des Landſchaftmalers bleibt darum noch immer ſchlechthin verſchieden von der Natur-Copie des bloßen Veduten-Malers, wiewohl es übrigens auch im letzteren Gebiete noch einen tiefen Unterſchied des Geiſtreicheren und des Sklaviſchen in der Behandlung gibt. Was aber jenes unterſcheidet, iſt die Zuſammenwirkung des Ganzen zum Ausdruck einer Seelenſtimmung; der §. ſagt: einer ge- ahnten und weist damit zunächſt negativ jede Art falſcher Deutlichkeit ab. Die Empfindung, die wir in eine Landſchaft legen, ſcheint wohl in den entſchiedenſten Fällen eine ganz beſtimmte und in Worte überſetzbare: der reine Frühlingstag mit den klaren Lüften und der Friſche aller Kräfte, die ſo eben aus einem Verjüngungs-Bade geſtiegen ſcheinen, lacht uns entgegen wie ein heiteres jugendliches Antlitz, die Verwüſtungen des Sturms, des Regens gemahnen uns wie ein tiefes Weinen der Natur, wie ſchmerzvolle, gramdurchfurchte Menſchenzüge; der Morgen ſpannt an, der Abend ſpannt erleichternd ab, die Mondſcheinlandſchaft löst in ſchwe- bende, ſchmelzende Empfindungen auf. Allein nicht nur verliert ſich auch bei ſolcher Beſtimmtheit doch der Hauptton in eine Vielheit von unterge- ordneten Tönen, worin das Gefühl in Melodien verſchwebt, von denen ſich keine beſtimmte Rechenſchaft mehr geben läßt, ſondern unendliche land- ſchaftliche Erſcheinungen ſind voll Stimmung und wir haben dafür doch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 648. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/156>, abgerufen am 28.03.2024.