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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Frieden der Selbstbetrachtung, spannendes Grollen zu einem ahnungs-
vollen Bilde der zur Entladung gerüsteten Leidenschaft, Schlag und
Gegenschlag im ausgebrochenen Gewitter, See-Sturm gemahnt wie Zorn
und Aufruhr der Geister, wie tragische Katastrophen, Ruhe nach Sturm
wie das versöhnende Schlußgefühl des Tragischen. Zu den vorh. Ein-
theilungen verhält sich dieß so, daß das Stylbild im Allgemeinen mehr
die großartige Ruhe, das Stimmungsbild die gespannte Situation und
Handlung suchen wird, daß im Stoffgebiete die rauhere Natur mehr der
Belebung durch diese Bewegtheit bedarf, als die plastische, südliche, und
daß, wie schon oben berührt ist, Luft und Wasser, erstere vorzüglich an
den Pflanzen ihre Bewegung offenbarend, die Elemente sind, worin diese
Unterschiede ihren Ausdruck finden. -- Man sieht nun, wie hier aufs
Neue der Unterschied des Epischen, Lyrischen, Dramatischen zu Tage
tritt: das Erdleben mit seinem Charakter fester Nothwendigkeit erscheint
als der vorzüglich epische, Luft und Wasser als der lyrische und dramatische
Theil der Landschaft und es leuchtet ein, wie diese verschiedenen Formen
an die ruhigere, die gespannte Situation, den stürmischen Ausbruch sich
knüpfen. -- Es ist zunächst ein mehr andauernder Zustand, dem der
Landschaftmaler einen Moment ablauscht: es sind die Jahreszeiten, unter
denen namentlich der Herbst als stimmungsvoll erscheint, und die Tages-
zeiten, die Nacht. Begreiflicher Weise hat jedoch auch hier, da die
landschaftlichen Zustände so unendlich ineinander übergehen, bestimmte Be-
nennung mit dem Charakter des Stehenden sich nur an die Spezialitäten
des Winters und des Mondscheins geknüpft, die ein Studium so beson-
derer Art erfordern, daß Künstler-Individualitäten sich bisweilen vorzüglich
darauf concentriren. Ein van der Neer insbesondere ist mit dem feinsten
Gefühle den Dämmerungen der Nacht, dem ungewissen Lichte des Mondes
nachgegangen.

4. Das Komische fällt aus der Landschaft natürlich weg. Das Styl-
bild durchläuft die reichsten Modificationen des einfach Schönen und
Erhabenen innerhalb des Letzteren, das jedoch als maaßvolle, schön
begrenzte Kraft in seinem Gebiete herrscht, wogegen das Stimmungsbild
die wilde, abspringende, schroffer bewegte Form des Erhabenen und im
einfach Schönen die freieren Spiele der Anmuth entfaltet. Welche Stoffe
und Momente der übrigen Eintheilungen vorherrschend unter die eine
oder andere dieser Grundformen treten werden, mag sich der näheren
Betrachtung von selbst ergeben. Es handelt sich hier weniger darum,
dieses Eintheilungsprinzip zu entwickeln, als darum, es nicht fallen zu
lassen, sondern mit fortzuführen bis dahin, wo es die Kunstform findet, in
welcher es durchschlägt und eine Gattung begründet.


Frieden der Selbſtbetrachtung, ſpannendes Grollen zu einem ahnungs-
vollen Bilde der zur Entladung gerüſteten Leidenſchaft, Schlag und
Gegenſchlag im ausgebrochenen Gewitter, See-Sturm gemahnt wie Zorn
und Aufruhr der Geiſter, wie tragiſche Kataſtrophen, Ruhe nach Sturm
wie das verſöhnende Schlußgefühl des Tragiſchen. Zu den vorh. Ein-
theilungen verhält ſich dieß ſo, daß das Stylbild im Allgemeinen mehr
die großartige Ruhe, das Stimmungsbild die geſpannte Situation und
Handlung ſuchen wird, daß im Stoffgebiete die rauhere Natur mehr der
Belebung durch dieſe Bewegtheit bedarf, als die plaſtiſche, ſüdliche, und
daß, wie ſchon oben berührt iſt, Luft und Waſſer, erſtere vorzüglich an
den Pflanzen ihre Bewegung offenbarend, die Elemente ſind, worin dieſe
Unterſchiede ihren Ausdruck finden. — Man ſieht nun, wie hier aufs
Neue der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen zu Tage
tritt: das Erdleben mit ſeinem Charakter feſter Nothwendigkeit erſcheint
als der vorzüglich epiſche, Luft und Waſſer als der lyriſche und dramatiſche
Theil der Landſchaft und es leuchtet ein, wie dieſe verſchiedenen Formen
an die ruhigere, die geſpannte Situation, den ſtürmiſchen Ausbruch ſich
knüpfen. — Es iſt zunächſt ein mehr andauernder Zuſtand, dem der
Landſchaftmaler einen Moment ablauſcht: es ſind die Jahreszeiten, unter
denen namentlich der Herbſt als ſtimmungsvoll erſcheint, und die Tages-
zeiten, die Nacht. Begreiflicher Weiſe hat jedoch auch hier, da die
landſchaftlichen Zuſtände ſo unendlich ineinander übergehen, beſtimmte Be-
nennung mit dem Charakter des Stehenden ſich nur an die Spezialitäten
des Winters und des Mondſcheins geknüpft, die ein Studium ſo beſon-
derer Art erfordern, daß Künſtler-Individualitäten ſich bisweilen vorzüglich
darauf concentriren. Ein van der Neer insbeſondere iſt mit dem feinſten
Gefühle den Dämmerungen der Nacht, dem ungewiſſen Lichte des Mondes
nachgegangen.

4. Das Komiſche fällt aus der Landſchaft natürlich weg. Das Styl-
bild durchläuft die reichſten Modificationen des einfach Schönen und
Erhabenen innerhalb des Letzteren, das jedoch als maaßvolle, ſchön
begrenzte Kraft in ſeinem Gebiete herrſcht, wogegen das Stimmungsbild
die wilde, abſpringende, ſchroffer bewegte Form des Erhabenen und im
einfach Schönen die freieren Spiele der Anmuth entfaltet. Welche Stoffe
und Momente der übrigen Eintheilungen vorherrſchend unter die eine
oder andere dieſer Grundformen treten werden, mag ſich der näheren
Betrachtung von ſelbſt ergeben. Es handelt ſich hier weniger darum,
dieſes Eintheilungsprinzip zu entwickeln, als darum, es nicht fallen zu
laſſen, ſondern mit fortzuführen bis dahin, wo es die Kunſtform findet, in
welcher es durchſchlägt und eine Gattung begründet.


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[656/0164] Frieden der Selbſtbetrachtung, ſpannendes Grollen zu einem ahnungs- vollen Bilde der zur Entladung gerüſteten Leidenſchaft, Schlag und Gegenſchlag im ausgebrochenen Gewitter, See-Sturm gemahnt wie Zorn und Aufruhr der Geiſter, wie tragiſche Kataſtrophen, Ruhe nach Sturm wie das verſöhnende Schlußgefühl des Tragiſchen. Zu den vorh. Ein- theilungen verhält ſich dieß ſo, daß das Stylbild im Allgemeinen mehr die großartige Ruhe, das Stimmungsbild die geſpannte Situation und Handlung ſuchen wird, daß im Stoffgebiete die rauhere Natur mehr der Belebung durch dieſe Bewegtheit bedarf, als die plaſtiſche, ſüdliche, und daß, wie ſchon oben berührt iſt, Luft und Waſſer, erſtere vorzüglich an den Pflanzen ihre Bewegung offenbarend, die Elemente ſind, worin dieſe Unterſchiede ihren Ausdruck finden. — Man ſieht nun, wie hier aufs Neue der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen zu Tage tritt: das Erdleben mit ſeinem Charakter feſter Nothwendigkeit erſcheint als der vorzüglich epiſche, Luft und Waſſer als der lyriſche und dramatiſche Theil der Landſchaft und es leuchtet ein, wie dieſe verſchiedenen Formen an die ruhigere, die geſpannte Situation, den ſtürmiſchen Ausbruch ſich knüpfen. — Es iſt zunächſt ein mehr andauernder Zuſtand, dem der Landſchaftmaler einen Moment ablauſcht: es ſind die Jahreszeiten, unter denen namentlich der Herbſt als ſtimmungsvoll erſcheint, und die Tages- zeiten, die Nacht. Begreiflicher Weiſe hat jedoch auch hier, da die landſchaftlichen Zuſtände ſo unendlich ineinander übergehen, beſtimmte Be- nennung mit dem Charakter des Stehenden ſich nur an die Spezialitäten des Winters und des Mondſcheins geknüpft, die ein Studium ſo beſon- derer Art erfordern, daß Künſtler-Individualitäten ſich bisweilen vorzüglich darauf concentriren. Ein van der Neer insbeſondere iſt mit dem feinſten Gefühle den Dämmerungen der Nacht, dem ungewiſſen Lichte des Mondes nachgegangen. 4. Das Komiſche fällt aus der Landſchaft natürlich weg. Das Styl- bild durchläuft die reichſten Modificationen des einfach Schönen und Erhabenen innerhalb des Letzteren, das jedoch als maaßvolle, ſchön begrenzte Kraft in ſeinem Gebiete herrſcht, wogegen das Stimmungsbild die wilde, abſpringende, ſchroffer bewegte Form des Erhabenen und im einfach Schönen die freieren Spiele der Anmuth entfaltet. Welche Stoffe und Momente der übrigen Eintheilungen vorherrſchend unter die eine oder andere dieſer Grundformen treten werden, mag ſich der näheren Betrachtung von ſelbſt ergeben. Es handelt ſich hier weniger darum, dieſes Eintheilungsprinzip zu entwickeln, als darum, es nicht fallen zu laſſen, ſondern mit fortzuführen bis dahin, wo es die Kunſtform findet, in welcher es durchſchlägt und eine Gattung begründet.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/164>, abgerufen am 25.04.2024.