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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Menschliche nicht nur in den der modernen Bildung nahen oder angehörigen,
sondern besonders auch in denjenigen Zuständen Interesse und Würdigung
findet, welche den Charakter vorgeschichtlicher Natur-Einfalt tragen oder
in Naturzustand zurückgetretene Reste alter Cultur darstellen. Dieß
Interesse ist dasselbe, wie das am Volksliede; die Cultur entwickelt, aber
sie bricht und theilt auch, wir suchen den Waldesduft, das reine Quell-
wasser im Ursprünglichen und Ungetheilten. Doch ist das Naturwüchsige
selbst schon eine Cultur, Cultur vor der Cultur, so tritt es in Eine Reihe
mit den Formen der Cultur im engern Sinn und diese Reihe ist es,
welche das erste Motiv für die nähere Eintheilung des Sittenbilds ab-
gibt. Die Cultur-Unterschiede fallen freilich auch mit denen der Na-
tionalität und umgebenden Natur zusammen, aber sie bestehen auch
in demselben Land und Volk, sind überall sich wiederholende, aus der
Urzeit in die Zeit der Bildung hereinragende oder in dieser selbst bleibend
begründete Formen, und so genommen bilden sie die Handhabe für die
Eintheilung. Schnaase hat das Verdienst, dieses Prinzip zuerst, und
zwar am Prototyp des ganzen Zweigs, der holländischen Sittenmalerei,
zur Anwendung gebracht zu haben: die derb komische Bauernwelt mit
den groben Ausbrüchen der sinnlichen Natur auf der einen, den Kreis
der mittleren, wohlhabendern Stände mit gebildeter Sitte, versteckten, no-
vellen-artigen Andeutungen auf der andern Seite (Niederl. Briefe S. 81.
82). Allerdings haben sich nun aber beide Seiten mit dem Fortschritt
unendlich erweitert: zur ersten Gruppe oder vor dieselbe tritt das so eben
besprochene Gebiet, es handelt sich nicht mehr blos von plumpen Holländern,
sondern von Zuständen überhaupt, wo der Mensch in freiem, unmittel-
barem Umgange mit der Natur, sei es in edel einfacher, sei es in rauherer,
wilderer Weise, sich selbst Naturton, Naturhauch bewahrt: die Sitte herrscht
im engern Sinne der Naturnothwendigkeit (§. 702); man könnte es in
weiterer Bedeutung des Worts das patriarchalische oder, sofern das
Glück der Beschränkung im Gegensatze gegen die Uebel eingedrungener
Ueberbildung betont wird, das idyllische Genre nennen. Die betreffen-
den Formen sind in §. 327--330 besprochen. Der standlose Stand, der
Mensch außer der Gesellschaft: Räuber, Zigeuner, Landstreicher reiht sich
natürlich an diese Gruppe. Die andere erweitert sich vom wohlhabenden
Bürgerthum nach den Kreisen des intellectuellen, geistlichen, adeligen,
fürstlichen Stands. Den gröberen Handwerker stellen wir zur ersteren
Gruppe, in die Mitte zwischen beide mag sich das feinere Handwerk,
die vermitteltere, reflectirtere, doch noch körperliche Arbeit stellen. Hiezu
vergl. §. 330.

2. Dieser Unterschied wird nun alsbald zu einem innern. Wie wir
im Gebiete der Landschaft die Betonung der verschiedenen Seiten, nament-

Menſchliche nicht nur in den der modernen Bildung nahen oder angehörigen,
ſondern beſonders auch in denjenigen Zuſtänden Intereſſe und Würdigung
findet, welche den Charakter vorgeſchichtlicher Natur-Einfalt tragen oder
in Naturzuſtand zurückgetretene Reſte alter Cultur darſtellen. Dieß
Intereſſe iſt daſſelbe, wie das am Volksliede; die Cultur entwickelt, aber
ſie bricht und theilt auch, wir ſuchen den Waldesduft, das reine Quell-
waſſer im Urſprünglichen und Ungetheilten. Doch iſt das Naturwüchſige
ſelbſt ſchon eine Cultur, Cultur vor der Cultur, ſo tritt es in Eine Reihe
mit den Formen der Cultur im engern Sinn und dieſe Reihe iſt es,
welche das erſte Motiv für die nähere Eintheilung des Sittenbilds ab-
gibt. Die Cultur-Unterſchiede fallen freilich auch mit denen der Na-
tionalität und umgebenden Natur zuſammen, aber ſie beſtehen auch
in demſelben Land und Volk, ſind überall ſich wiederholende, aus der
Urzeit in die Zeit der Bildung hereinragende oder in dieſer ſelbſt bleibend
begründete Formen, und ſo genommen bilden ſie die Handhabe für die
Eintheilung. Schnaaſe hat das Verdienſt, dieſes Prinzip zuerſt, und
zwar am Prototyp des ganzen Zweigs, der holländiſchen Sittenmalerei,
zur Anwendung gebracht zu haben: die derb komiſche Bauernwelt mit
den groben Ausbrüchen der ſinnlichen Natur auf der einen, den Kreis
der mittleren, wohlhabendern Stände mit gebildeter Sitte, verſteckten, no-
vellen-artigen Andeutungen auf der andern Seite (Niederl. Briefe S. 81.
82). Allerdings haben ſich nun aber beide Seiten mit dem Fortſchritt
unendlich erweitert: zur erſten Gruppe oder vor dieſelbe tritt das ſo eben
beſprochene Gebiet, es handelt ſich nicht mehr blos von plumpen Holländern,
ſondern von Zuſtänden überhaupt, wo der Menſch in freiem, unmittel-
barem Umgange mit der Natur, ſei es in edel einfacher, ſei es in rauherer,
wilderer Weiſe, ſich ſelbſt Naturton, Naturhauch bewahrt: die Sitte herrſcht
im engern Sinne der Naturnothwendigkeit (§. 702); man könnte es in
weiterer Bedeutung des Worts das patriarchaliſche oder, ſofern das
Glück der Beſchränkung im Gegenſatze gegen die Uebel eingedrungener
Ueberbildung betont wird, das idylliſche Genre nennen. Die betreffen-
den Formen ſind in §. 327—330 beſprochen. Der ſtandloſe Stand, der
Menſch außer der Geſellſchaft: Räuber, Zigeuner, Landſtreicher reiht ſich
natürlich an dieſe Gruppe. Die andere erweitert ſich vom wohlhabenden
Bürgerthum nach den Kreiſen des intellectuellen, geiſtlichen, adeligen,
fürſtlichen Stands. Den gröberen Handwerker ſtellen wir zur erſteren
Gruppe, in die Mitte zwiſchen beide mag ſich das feinere Handwerk,
die vermitteltere, reflectirtere, doch noch körperliche Arbeit ſtellen. Hiezu
vergl. §. 330.

2. Dieſer Unterſchied wird nun alsbald zu einem innern. Wie wir
im Gebiete der Landſchaft die Betonung der verſchiedenen Seiten, nament-

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[668/0176] Menſchliche nicht nur in den der modernen Bildung nahen oder angehörigen, ſondern beſonders auch in denjenigen Zuſtänden Intereſſe und Würdigung findet, welche den Charakter vorgeſchichtlicher Natur-Einfalt tragen oder in Naturzuſtand zurückgetretene Reſte alter Cultur darſtellen. Dieß Intereſſe iſt daſſelbe, wie das am Volksliede; die Cultur entwickelt, aber ſie bricht und theilt auch, wir ſuchen den Waldesduft, das reine Quell- waſſer im Urſprünglichen und Ungetheilten. Doch iſt das Naturwüchſige ſelbſt ſchon eine Cultur, Cultur vor der Cultur, ſo tritt es in Eine Reihe mit den Formen der Cultur im engern Sinn und dieſe Reihe iſt es, welche das erſte Motiv für die nähere Eintheilung des Sittenbilds ab- gibt. Die Cultur-Unterſchiede fallen freilich auch mit denen der Na- tionalität und umgebenden Natur zuſammen, aber ſie beſtehen auch in demſelben Land und Volk, ſind überall ſich wiederholende, aus der Urzeit in die Zeit der Bildung hereinragende oder in dieſer ſelbſt bleibend begründete Formen, und ſo genommen bilden ſie die Handhabe für die Eintheilung. Schnaaſe hat das Verdienſt, dieſes Prinzip zuerſt, und zwar am Prototyp des ganzen Zweigs, der holländiſchen Sittenmalerei, zur Anwendung gebracht zu haben: die derb komiſche Bauernwelt mit den groben Ausbrüchen der ſinnlichen Natur auf der einen, den Kreis der mittleren, wohlhabendern Stände mit gebildeter Sitte, verſteckten, no- vellen-artigen Andeutungen auf der andern Seite (Niederl. Briefe S. 81. 82). Allerdings haben ſich nun aber beide Seiten mit dem Fortſchritt unendlich erweitert: zur erſten Gruppe oder vor dieſelbe tritt das ſo eben beſprochene Gebiet, es handelt ſich nicht mehr blos von plumpen Holländern, ſondern von Zuſtänden überhaupt, wo der Menſch in freiem, unmittel- barem Umgange mit der Natur, ſei es in edel einfacher, ſei es in rauherer, wilderer Weiſe, ſich ſelbſt Naturton, Naturhauch bewahrt: die Sitte herrſcht im engern Sinne der Naturnothwendigkeit (§. 702); man könnte es in weiterer Bedeutung des Worts das patriarchaliſche oder, ſofern das Glück der Beſchränkung im Gegenſatze gegen die Uebel eingedrungener Ueberbildung betont wird, das idylliſche Genre nennen. Die betreffen- den Formen ſind in §. 327—330 beſprochen. Der ſtandloſe Stand, der Menſch außer der Geſellſchaft: Räuber, Zigeuner, Landſtreicher reiht ſich natürlich an dieſe Gruppe. Die andere erweitert ſich vom wohlhabenden Bürgerthum nach den Kreiſen des intellectuellen, geiſtlichen, adeligen, fürſtlichen Stands. Den gröberen Handwerker ſtellen wir zur erſteren Gruppe, in die Mitte zwiſchen beide mag ſich das feinere Handwerk, die vermitteltere, reflectirtere, doch noch körperliche Arbeit ſtellen. Hiezu vergl. §. 330. 2. Dieſer Unterſchied wird nun alsbald zu einem innern. Wie wir im Gebiete der Landſchaft die Betonung der verſchiedenen Seiten, nament-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/176>, abgerufen am 24.04.2024.